Move-ALARM: Mama geht weg

Eigentlich hatte ich gehofft, dass alles einfacher wird, wenn meine Mutter im Heim ist. Aber ich habe mich geirrt: Für mich sind Aufwand und Belastung größer geworden. Früher war ich etwa alle drei Monate für acht bis zehn Tage bei meiner Mutter. In dieser Zeit habe ich mich zwar um vieles gekümmert, aber es gab auch Freiräume. So habe ich an der Mosel meist „nebenbei“ gearbeitet, notgedrungen, weil ich mir so viele berufliche Auszeiten gar nicht leisten konnte.

Seit meine Mutter in einem Heim in meiner Nähe lebt, besuche ich sie drei-, manchmal, wenn es ihr nicht so gut geht, sogar viermal in der Woche. Als sie eine Woche mit Lungenentzündung im Krankenhaus lag, war ich an fünf Tagen mehrere Stunden bei ihr. Im Alltag dauern meine Besuche meist etwa zwei Stunden, hinzu kommen Fahrtzeiten außerdem diverse Besorgungen – von Shampoo oder Badelatschen bis zum DVBT-Receiver –, Anrufe bei meiner Mutter, bürokratische Dinge wie Einscannen von Unterlagen für meine Schwestern, endlose Mailwechsel mit ihnen, Gespräche mit den Pflegekräften oder Auswahl, Kauf und Installation des GPS-Trackers, mit dem ich meine Mutter „überwache“, seit sie ein paar Mal aus dem Heim weggelaufen ist.

GPS is watching you

Genau genommen geht meine Mutter ja nicht aus dem Heim weg,  sondern irgendwo hin. Denn im Prinzip fühlt sie sich im Heim ganz wohl: Sie findet ihr Zimmer schön, das Essen ist gut und bei den Angeboten im Heim macht sie nach Aussagen der Pflegerinnen gut und schön mit.

Wenn sie geht, hat sie immer einen Grund, den wir „normal Denkenden“ nur nicht richtig verstehen: Sie will Brot kaufen,  das Grab meines Vaters besuchen oder aus dem Büro, in dem sie zu sein glaubte, nach Hause gehen – und findet dann einfach nicht mehr den Weg zurück in ihr neues Zuhause. Dank moderner Technik kann ich sie nicht nur im Notfall orten, wenn sie wieder einmal verschwunden ist. Weil ich einen „elektronischen Zaun“ um das Heim gezogen habe, bekomme ich eine SMS, wenn sie den Bereich verlässt – und kann das Heim informieren, dass und wo sie suchen müssen.

Für mich bedeutet das ein bisschen Leben auf Stand-bye: Ich habe mein Smartphone jetzt (fast) immer bei mir, schaue (noch) häufiger drauf als vorher und achte darauf, dass es immer geladen ist. Dummerweise gibt es auch manchmal Fehlalarme. Der Tracker schlägt (Move-)Alarm, obwohl meine Mutter im Heim war. Natürlich immer im unpassendsten Moment – am letzten Sonntag beispielsweise während eines Konzerts. Das ist zwar nervig, aber eben Murphysches Gesetz. Zurzeit mache ich mir Sorgen, ob die Batterie hält, bis meine Tochter meine Mutter besucht, und den Akku aufladen kann. Und wie lange reicht das Guthaben auf der Prepaid-Karte noch?

Ein bisschen Freiheit – oder mehr Sicherheit

Nein, es ist nicht perfekt, aber meiner Mutter erspart die Technik hoffentlich den Umzug in ein anderes Heim und in eine geschlossene Abteilung. Und sie bietet ein Stück Sicherheit. Wenn auch keine absolute. „Was, wenn Mama nachts wegläuft, das Telefon (des Heims) ‚besetzt‘ ist oder niemand rangeht?“, wendet meine Schwester ein. „Ich möchte mir nicht unbedingt vorstellen, wie weit Mama weg ist, wenn am Wochenende eine Aushilfspflegerin am Patienten arbeitet und nicht sofort reagieren kann.“

Meist wären wir dann in ein paar Minuten vor Ort, denn wir wohnen nicht allzu weit entfernt – und oftt, wenn auch zugegebenerweise nicht immer, ist eineR von uns zu Hause. Ich könnte vorsorglich ein paar Bekannte und Freunde bitten, im Notfall loszufahren. Aber da es jetzt Sommer ist, glaube ich nicht, dass sie in Gefahr ist, wenn es einmal etwas länger dauert, bis sie wieder zurück ins Heim kommt. Und oft ist die die Hin- bzw. Weglauftendenz ja nur vorübergehend.

Ja, ich gebe zu, es bleibt ein Restrisiko: Meine Mutter kann von einem Auto überfahren, von bösen Menschen beklaut oder gar mitgenommen werden. Aber das nehme ich in Kauf. Ganz sicher wäre sie auch in einer geschlossenen Abteilung eines Altersheims sicher nicht. Denn dort nimmt – zumindest in und um Hannover – offenbar die Gewalt von Bewohnern gegen Bewohner massiv zu. Sicher nicht in allen Heimen, aber in einigen. In einem Pflegeheim in Pattensen hat ein Bewohner im vergangenen Jahr eine Mitbewohnerin sogar so schwer verletzt, dass sie starb. Nun ist Hannover und Umgebung nach meiner Erfahrung kein Sündenpfuhl. Dass es in Heimen in Hamburg, Berlin oder wo auch immer generell besser ist, wage ich zu bezweifeln: Vielleicht wird dort nur weniger gefragt oder besser vertuscht.

Außerdem bin (nicht nur) ich sicher, dass meine Mutter dieses Risiko in Kauf nehmen würde, wenn sie noch  selbst entscheiden könnte. Als ein Pfleger sie am Sonntagabend daran hinderte, einkaufen zu gehen, war sie sehr empört. Mein Argument, dass die Läden geschlossen sind, besänftigte sie nicht. Hätte sie totale Sicherheit gewollt, wäre sie schon vor Jahren in ein Heim gezogen. Aber sie wollte eigenständig leben. „Deine Mutter ist immer eine sehr mobile Frau gewesen. Sie ist in ihrem ‚alten‘ Leben auch immer irgendwohin gegangen“, schreibt eine Bekannte, die meine Mutter schon seit mehr als einem halben Jahrhundert kennt. Das soll sie, überwacht von der Technik tun, so lange es geht.