Garten im April

Endlich Frühling, überall im Garten grünt und blüht es. Die beiden Kirschbäume beispielsweise. Über die Früchte der Süßkirsche werden sich später vor allem die Vögel freuen, ebenso über die ebenfalls weiß blühenden Schlehen hinten am Teich. Bis der Flieder aufblüht, dauert es ebenfalls nicht mehr lange, und auch der Apfelbaum ist bald so weit. Mausohr heißt das Stadium kurz vor Beginn der Blüte im Blütenradar des Alten Lands.

Am Teich fühlen die Sumpfdotterblumen, gelbe Farbkleckse im weiß-lila Blütenmeer, und Beinwell wohl. Wie das Buschwindröschen in unseren Garten gekommen ist – oder ist es ein Studentenrösli? -, weiß ich nicht, und auch den hängenden Lauch habe ich sicher nicht gepflanzt. Aber ich freue mich, dass sie da sind.

Im Beet, über das bis zum vergangenen Jahr der mächtige Buchsbaumstier herrschte, wird zum Blumenbeet. Jetzt blühen hier Tulpen, Wildtulpen und ganz neu Rem‘s Favorite. Später kommt dann die Zeit der Anemonen und der Rosen, die ich hierhin (um)gepflanzt habe. Gleich daneben wächst das Blaukissen in diesem Jahr so hoch, dass der Lesezwerg fast zwischen den Blüten verschwindet.

Da wollen auch die Pflanzen im Haus nicht zurückstehen. Hinter dem schützenden Glas des Wintergartens zeigt die Strelitzie, dass sie zurecht Paradiesvogelblume genannt wird. Wie Vögelköpfe schauen die bunten Blüten aus dem dichten Grün hervor. Der Osterkaktus  ist in diesem Jahr etwas spät dran. Aber erstens war Ostern in diesem Jahr außergewöhnlich früh. Und zweitens ist er auch schon ein alter Herr. Wir haben ihn und seinen rosa blühenden Bruder von meiner Schwiegermutter geerbt, die schon seit über 30 Jahren tot ist.

Von meiner Mutter, die vor fast fünf Jahren gestorben ist, habe ich eine Orchidee übernommen. Ich hatte sie ihr kurz vor ihrem Tod geschenkt – jetzt steht sie in meinem Arbeitszimmer. Sie blüht meist lange, vielleicht bis zum 100. Geburtstag meiner Mutter im Mai.

Vom geheimen Leben der Orchidee

Heute vor genau drei Jahren habe ich zum ersten Mal über sie geschrieben – über die erste und einzige Orchidee, die ich besitze. Sie ist auch die einzige Pflanze, von der ich genau weiß, wann ich sie bekommen – oder soll ich besser sagen übernommen – habe.

Als ich mich am 1. August 2019, am Tag nach ihrem Tod, von meiner Mutter verabschiedete, mochte ich die Orchidee, die ich ihr ein halbes Jahr zuvor geschenkt hatte, nicht in Hamburg zurücklassen. Ich habe sie in die Seitentasche meines Rucksacks gepackt und mit nach Burgwedel genommen, wo ich sie gekauft hatte. Coming home.

Ich weiß nichts über das geheime Leben der Pflanzen. Vielleicht trauern sie ja auch wie Tiere, wenn ihre Besitzer:innen sterben. Die Orchidee sah jedenfalls so traurig aus, dass mich eine Frau im Zug fragte: „Ob die Blume die Fahrt wohl überlebt?“. Sie hat – und sie erholte sich schnell: Schon nach wenigen Stunden öffnete sich die erste Blüte –  für mich war es damals ein Zeichen, dass es meiner Mutter gut ging, wo immer sie auch sein mochte. https://timetoflyblog.com/neues-orchideenleben.

Seitdem steht die Orchidee auf der Fensterbank neben meinem Schreibtisch, neben dem kleinen Bärchen, das meine Tochter meinem Vater irgendwann geschenkt hat und das meine Mutter nach seinem Tod adoptierte. Viel Pflege braucht oder bekommt die Orchidee nicht: Ich gieße sie regelmäßig, aber das genügt oder gefällt ihr sogar. Denn sie blüht zweimal im Jahr, jedes Mal ein bisschen üppiger, wie mir scheint. Diesmal hatte sie 15 Blüten, mehr denn je, und sie breitet sich immer weiter aus. Vielleicht liegt es daran, dass ich sie wachsen lasse, wie sie will. Oder daran, dass ich ihr im Mai einen neuen Topf und frische Erde spendiert habe.

Weil ich keine Orchideenerde hatte, habe ich normale Blumenerde mit etwas Spezialerde für Zitruspflanzen vermischt. Diese Mischung ist der Orchidee scheinbar bekommen. Man sagt, dass Hunde ihren Besitzer:innen oft ähneln. Und irgendwie ist diese Orchidee wie meine Mutter: zäh und anspruchslos

Sie ist wieder da

Die Orchidee auf meiner Fensterbank blüht wieder. Es ist meine erste Orchidee – und sie bleibt auch wohl die einzige. Denn eigentlich mag ich ja keine Orchideen. Aber diese ist eine besondere. Denn ich habe sie vor etwa einem Jahr meiner Mutter geschenkt. Als sie im Sommer gestorben ist, habe ich die Pflanze mit zu mir nach Hause genommen und ihr auf der Fensterbank in meinem Arbeitszimmer einen neuen Platz gegeben. https://timetoflyblog.com/?s=orchidee

Dort hat sich die Orchidee von dem doppelten Umzugsstress schnell erholt und ist wider Erwarten aufgeblüht, um dann irgendwann im November alle Blüten zu verlieren. Ich habe mich nicht weiter um sie gekümmert, weil Pflanzen es ja angeblich mögen, wenn man sie in Ruhe lässt. Ich habe sie nur gelegentlich gegossen und das überschüssige Wasser etwas später abgegossen. Das hat meine Mutter auch so gemacht und als sie es nicht mehr konnte, hat sie mich gebeten, es zu tun. Zumindest solange sie in dem Heim in Bissendorf lebte. Daran, dass Orchideen keine nassen Füße mögen, hat sie sich bis fast zum Schluss erinnert. Und auch ich werde es sicher nicht vergessen.

Irgendwann Anfang des Jahres habe ich die ersten Knospen bemerkt, inzwischen blüht die Orchidee wieder. Etwas heller als im vergangenen Jahr, wie mir scheint. Blasser, so wie die Erinnerung verblasst. Aber sie bleibt.

Neues Orchideenleben

Nein, ich mag keine Orchideen, zumindest keine auf Fensterbänken ihr kümmerliches Dasein fristen (https://chaosgaertnerinnen.de/nicht-nur-tropisch). Und trotzdem steht jetzt eine auf der Fensterbank in meinem Arbeitszimmer. Ich habe sie quasi von meiner Mutter geerbt. Ich hatte sie ihr vor einem halben Jahr geschenkt, weil sie Orchideen immer gemocht hat. Warum, weiß ich nicht, vielleicht weil sie einen Hauch von Luxus und große weite Welt in ihr Leben gebracht haben.

Meine Mutter selbst hat nicht viel von der Welt gesehen, und ich glaube, sie hatte auch nie den Wunsch. Zuerst, als sie jung und die Kinder klein waren, konnten meine Eltern es sich nicht leisten, zu verreisen. Ihre erste Urlaubsreise haben wir, ihre Töchter, ihnen zur Silbernen Hochzeit geschenkt. Danach sind sie regelmäßig in Urlaub gefahren, einmal im Jahr, meist für zwei Wochen, oft mit dem älteren Bruder meiner Mutter und seiner Frau. Meist ging es irgendwo nach Deutschland: in den Harz, in den Bayerischen Wald, an den Bodensee und auch mal an die Nordsee. Ein oder zweimal waren meine Eltern in Österreich. Geflogen ist meine Mutter nie, die CO2-Bilanz ihres Lebens ist sicher vorbildlich.

Als ich mich am Donnerstag endgültig von meiner Mutter verabschiedete, mochte ich die Orchidee nicht zurücklassen. Was mit den anderen Orchideen passiert ist, die meine Mutter von der Mosel mit in das Heim nach Bissendorf genommen hat, weiß ich nicht. Vielleicht stehen sie jetzt auf den Fensterbänken meiner Schwestern. Wahrscheinlicher ist, dass meine Schwestern sie dem Entrümpler überlassen haben, als sie vor neun Wochen meine Mutter in das Heim nach Norderstedt gebracht haben. Genau wie alle Möbel meiner Mutter, mit Ausnahme des Fernsehers.

In Bissendorf hat die Orchidee eifrig geblüht, aber der Umzug ist ihr nicht bekommen. Vielleicht war ihr der neue Platz zu dunkel, vielleicht lag es an der Pflege. Wer auch immer sich um sie gekümmert hat: Er oder sie hatte wenig Ahnung. Immer, wenn ich meine Mutter besucht habe, habe ich die Pflanze trockengelegt: Ich habe das Wasser ausgeleert, das halbhoch im Übertopf stand. Denn Orchideen mögen ja bekanntlich keine nassen Füße. Vielleicht hat sich die Blume auch ihrer Besitzerin angepasst, die sich immer mehr aus dem Leben zurückgezogen hat. Denn Pflanzen fühlen weit mehr, als man bislang gedacht hat. Sie kommunizieren miteinander, führen ein geheimes, uns Menschen unbekanntes Leben. Und vielleicht fühlen sie ja auch mit uns.

Als ich die Orchidee in der Seitentasche meines Rucksacks mit nach Hause genommen habe, sah sie so trostlos aus, dass mich eine Frau im Zug angesprochen hat. „Ob die Blume die Fahrt wohl überlebt?“, fragte sie. Ich erzählte ihr, dass ich sie von meiner Mutter geerbt hätte, die in der Nacht gestorben sei. Sie wünschte mir herzliches Beileid und viel Glück.

Auf meiner Fensterbank gefällt es der Orchidee offenbar. Schon nach wenigen Stunden hat sich die erste Blüte geöffnet, weitere werden wohl folgen. Und während ich das schreibe, denke ich, dass es  vielleicht ein Zeichen ist – ein Zeichen, dass es meiner Mutter jetzt besser geht, wo immer sie auch ist.

Blög Orchidee P1030018