Wandern für Anfänger

Ich bin in den vergangenen zwölf Monaten zum Couchpotatoe mutiert. Zu meiner Ehrenrettung muss ich sagen: Wider Willen, denn eigentlich bewege ich  mich sehr gerne. Bis zu meiner Knieverletzung  war ich eine ganz passable und begeisterte Läuferin. Ich bin schon gejoggt, als joggen noch langstreckenlaufen hieß.

Doch seit einem Jahr läuft’s leider nicht mehr.  Auch eine Meniskus-OP im vergangenen Dezember hat daran bislang nichts geändert, im Gegenteil. Das Training auf dem Crossstepper ist für mich nur eine Notlösung und auch gehen ist nicht wirklich mein Ding. Es geht mir nicht schnell genug. Dabei täte es mir wahrscheinlich gut, es einmal ruhiger angehen zu lassen –nicht nur sportlich. „Wandern ist die vollkommenste Art der Fortbewegung, wenn man das wahre Leben entdecken will. Es ist der Weg in die Freiheit“, behauptet Elizabeth von Arnim. Grund genug, es auch einmal gehend zu versuchen.

Als ich letztens  eine Woche an der Mosel war, habe  ich es immerhin geschafft,  fast jeden Tag spazieren zu gehen oder zu wandern. Mal mit Freunden, mal allein, meist mit Blick auf den Fluss. Denn das Wasser vermisse ich im Norden  immer mehr,  je älter ich werde. Einer meiner Lieblingswege in der alten heimat: der erste Teil des Römersteigs von Trittenheim  bis zur Konstantinhöhe hoch auf dem Berg. Auf der steilen Treppe am Anfang des Wegs merke ich, dass mein Knie noch lange nicht in Ordnung ist – und dass meine Kondition nach einem Jahr fast ohne Sport sehr zu wünschen übrig lässt. Nach der Treppenetappe geht’s auf einem Weinbergsweg nach oben: durch die noch kahlen Weinberge, die an der Mosel Wingerte heißen, auf einem Pfad ganz nach meinem Geschmack: schmal, naturbelassen, mit schönem Blick auf die Mosel.

Auf dem Weg zum Fährfels-Plateau DSCN0228
Auf dem Weg zum Fährfelsplateau.

Kurze Pause auf dem kleinen Fährfelsplateau – in der Sonne sitzen, lesen und schreiben mitten in den Weinbergen. Wer allerdings auf der Bank sitzend den Tisch erreichen will, braucht längere Arme als meine.

Leider endet der schmale Pfad schon bald, weiter geht‘ s auf einem breiten Wirtschaftsweg – allerdings entschädigt der Ausblick auf die Mosel für die „Wanderautobahn“. Bei der Abzweigung Schieferhöhlen/Konstantinhöhe wird’s wieder besser. Den anspruchsvolleren Klettersteig, der auf der linken Seite auf die Höhe führt,  schafft mein lädiertes rechtes Knie noch nicht, also nehme ich den schmalen Waldweg zur Linken, der etwas weniger steil  zur Konstantinhöhe führt. Die verdankt ihren Namen dem römischen Kaiser Konstantin. Ihm soll hier – oder vielleicht auch an einer anderen Stelle auf dem Neumagener Berg – im Traum ein leuchtendes Kreuz Himmel erschienen sein und Christus soll ihm geraten haben, es gegen seine Feinde einzusetzen: in hoc signo vinces – in diesem Zeichen wirst du siegen. Konstantin befahl  daraufhin das Kreuz als Feldzeichen zu verwenden, berichtet Eusebius von Caesarea in seiner Biographie Kaiser Konstantins – und besiegte seinen Gegner Maxentiuns 312 an der Milvischen Brücke.  Der Schrift­stel­ler Lak­tanz schreibt, Konstantin habe den Traum in der Nacht vor der Schlacht gehabt.  Wie er es dann rechtzeitig vom Neumagener Berg bis nach Italien geschafft hat, wissen die Götter. Ich habe jedenfalls keine Vision, dafür genieße ich den Ausblick, auch wenn sich die Sonne ein bisschen verzogen hat. Dann geht’s zurück, statt über den Berg nach Neumagen wieder nach Trittenheim.

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Konstantinhöhe über Trittenheim

Zwei Tage später wandere ich einen weiterer Teil des Römersteigs: Von Piesport gehe ich an der Mosel entlang zurück Richtung Neumagen. Kurz hinter Ferres, einem Mini-Dorf mit gut einem Dutzend Häusern, geht’s wieder über eine steile Wingertstreppe den Berg hoch. Wieder macht sich das fehlende Training bemerkbar und ich bewundere die Männer, die im Herbst den ganzen Tag über diese Treppe die Trauben mit in einer zentnerschweren Hotte hoch- oder runtertragen. Auch das Traubenlesen hat im Steilhang seine Tücken, das weiß ich aus Erfahrung: Wenn der Eimer mal losrollt, gibt es kein Halten mehr.

Den DIN-Normen entspricht diese Treppe gewiss nicht: keine der steinernen Stufen gleicht der anderen. Mir ist’s recht, mir gefällt sie wesentlich besser als die 0815-Betonversion in Trittenheim.

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Nix mit DIN – Moselsteig Teil 2

Doch leider ist der zweite Teil der Treppe gesperrt, die zum verbotenen Heck führt. Der „Wanderpfad mit alpinem Charakter“ soll an der Schutzhütte Weislei enden. Weil ich den Weg nicht kenne, nur wenig Zeit habe und sich dunkle Wolken am Himmel zusammenballen, folge ich den Römersteig-Schildern. Die Umleitung entpuppt sich bis auf eine kurze Zwischenetappe wieder als breiter Wirtschaftsweg; auch hier entschädigt wieder der Blick auf die Mosel. Doch ein richtiger Wanderweg ist der Römersteig leider nicht. Zu viel gut ausgebaute Rad und Wirtschaftswege, zu wenig schmale, naturbelassene Wanderwege. Schade.

Doch ich gebe dem Wandern eine Chance: Beim nächsten Moselbesuch werde ich auf der verbotenen Treppe zum verbotenen Heck wandern. Und demnächst geht’s im Harz auf dem Hexenstieg – 97 Kilometer von Osterode nach Thale. Schluss mit Couchpotatoe.

Ärger mit Untermietern

Wir haben die Wohnung unserer Untermieter geräumt. Sie sind schon vor einigen Monaten ausgezogen, ohne sich zu verabschieden und ohne ihre Einrichtung mitzunehmen. Wirklich traurig waren wir über den Auszug nicht. Wir hatten heimlich darauf gehofft, dass sie uns nach einigen Monaten wieder verlassen würden. Denn gut war unser Verhältnis nie, genau gesagt: Ich habe sie nie besonders gemocht. Obwohl es – ich muss es zugeben – eigentlich keine Konflikte gab. Sie waren ruhig, meist haben wir ihre Anwesenheit gar nicht bemerkt. Nur wenn sie sich gestört fühlten, reagierten sie ungehalten. Doch Störungen ließen sich leider nicht immer vermeiden. Die Kommunikation zwischen uns funktionierte einfach nicht. Wir fanden nie die gleiche Wellenlänge. Sie suchten keinen Kontakt – und wir auch nicht. Jeder ging seiner Wege. Unsere Lebensgewohnheiten waren einfach zu unterschiedlich – und manche Missstimmung zwischen uns beruhte  wahrscheinlich auf Missverständnissen.

Als ich beispielsweise einmal bei starkem Regen die Rollläden in meinem Zimmer herunterlassen musste, waren sie sehr aufgebracht. Wütend versuchten sie, in mein Zimmer einzudringen und es ist mir gerade noch gelungen, das Fenster rechtzeitig zu schließen. Ich hatte bis dahin gar nicht bemerkt, dass sie eingezogen waren und fühlte mich ehrlich gesagt sogar ein bisschen bedroht.

Seither traute ich ihnen nicht mehr wirklich– auch wenn ich nicht alle Horrorgeschichten glaubte, die über sie erzählt werden. Dass sie zu siebt ein Pferd getötet haben beispielsweise und dass sie das immer wieder tun würden. Und dass auch Menschen nicht vor ihnen sicher sind, wenn man sie reizt. Trotzdem bin ich ihnen nach unserem ersten Zusammentreffen aus dem Weg gegangen und habe den Raum neben ihrem einfach möglichst wenig benutzt. Das war zwar nicht schlimm, weil ich im Sommer ohnehin lieber im Wintergarten arbeite – dennoch fühlte ich mich ein wenig eingeschränkt. Schließlich ist es unser Haus, nicht ihrs.

Vielleicht haben sie gespürt, dass sie nicht wirklich willkommen waren. Sie haben zwar nie etwas gesagt, aber im Herbst waren sie dann so plötzlich verschwunden, wie sie gekommen waren. Dass sie ihre Einrichtung und ihre Abfälle nicht mitgenommen haben, hat vor allem meinen Mann geärgert, weil er ihre Wohnung ausräumen musste. Ich fand es interessant zu sehen, wie sie sich eingerichtet hatten: Sie hatten den ohnehin kleinen Raum in mehrere Bereiche unterteilt. Besonders stabil war die Einrichtung nicht und wir konnten sie ohne große Kosten entsorgen.  Jetzt landet alles auf dem Müll – wir wollen keine Nachmieter mehr.  Unsere alten Mieter hatten ohnehin nie Miete bezahlt.

Warum wir sie überhaupt so lange geduldet haben, wollt ihr wissen. Nun ja: Wir haben ein Herz für Tiere, sind gesetzestreue Bürger – und Hornissen stehen bekanntlich unter Artenschutz.

 

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Vor der Räumung: Verlassenenes Hornissennest. Foto: Utz Schmidtko

 

 

Anne Frank

Das Tagebuch der Anne Frank.  Großes Kino, wenig Publikum. Wieder ein typischer Frauenfilm: 16 Frauen, die meisten fast oder über 60 und ein Mann. Für mich ein Muss. Anne Frank führte das Tagebuch von seit ihrem 13. Geburtstag – von Juni 1942 bis zum 1. August 1944, drei Tage bevor sie verhaftet und deportiert wurde – zunächst ins niederländische Lager Westerbork, dann nach Auschwitz und schließlich nach Bergen-Belsen. Dort starben sie und ihre Schwester Margot Frühjahr 1945, kurz vor dem Kriegsende in Bergen-Belsen. Ihre Eltern hatten sich für das falsche Land entschieden, als sie 1934 mit den Kindern vor den Nazis aus Deutschland flüchteten. Als die Deutschen das Nachbarland besetzten, waren die Niederlande kein sicherer Ort mehr.

Von den acht Menschen, die im Hinterhaus untergetaucht waren, überlebte nur Annes Vater Otto Frank. Er veröffentlichte 1947 die Tagebücher seiner Tochter. Die erste Auflage, vom  Juni 1947 mit 3.000 Exemplaren  war schnell vergriffen,  schon im Dezember erschien die zweite, im Februar 1948 dann die dritte Auflage – inzwischen mit 10.000 Exemplaren. In Deutschland erschien Anne Franks Tagebuch erstmals 1950. Inzwischen wurde das Buch in  fast alle Sprachen übersetzt – es wurde mehrmals verfilmt und 2009 von der UNESCO in das Weltdokumentenerbe aufgenommen. Der Erfolg ihrer Tagebücher hätte Anne selbst sicher sehr überrascht.

„Ich nehme an, dass später weder ich noch jemand anders Interesse haben wird an den Herzensergüssen eines dreizehnjährigen Schulmädels“, schrieb sie am 20. Juni 1942, kurz nach ihrem Geburtstag. Wie sehr hat sie sich sehr geirrt.

Ich habe das Tagebuch 1973 gekauft und gelesen – damals war ich fast 17, und schon älter, als Anne geworden ist. Inzwischen habe ich drei  verschiedene Ausgaben, aber die älteste, aus dem Jahr 1972, ist mir die liebste, obwohl es inzwischen sicher bessere, textkritischere Ausgaben gibt.

Die Blätter sind vergilbt, einige schon brüchig und einige Seiten lösen sich. Ich habe es mehrmals gelesene – und immer wieder wundere ich mich, wie erwachsen Anne war, mit gerade einmal 13, 14 oder 15. Aber wahrscheinlich musste sie sehr schnell erwachsen werden. Ständig in Lebensgefahr, eingesperrt mit Erwachsenen, die versuchten, sie zu erziehen, wie sie beklagte.

Schon bevor sie im Hinterhaus untertauchen musste, hatte Anne kein normales Leben. Vieles war verboten, weil sie Jüdin war –  Schwimmen, Rad fahren, ins Kino gehen, leben. Sie hatte große Pläne für die Zeit danach:

Reisen wollte sie und studieren, Kunstgeschichte in Paris und London. Sie träumte davon, Journalistin und später eine berühmte Schriftstellerin zu werden. „Nach dem Krieg will ich auf jeden Fall ein Buch mit dem  Titel ‚Das Hinterhaus‘ veröffentlichen, ob das gelingt, bleibt noch die Frage, aber mein Tagebuch wird dafür dienen können“, schrieb sie am 11. Mai 1944 in ihr Tagebuch. Sie überarbeite im Hinterhaus ihr Tagebuch, schrieb kurze Geschichten, die jetzt in von Reclam veröffentlicht wurden (Anne Frank: Denn schreiben will ich. Aus den Tagebüchern und anderen Werken. Reclam 2016)

Eins wollte Anne nicht: Sie wollte nicht leben wie ihre Mutter und viele andere Frauen, die „ihre Arbeit machen und später vergessen sind“. Anne Frank durfte gar nicht leben. Zumindest ein Wunsch hat sich erfüllt. „O ja, ich will nicht umsonst gelebt haben wie die meisten Menschen.“