Nicht meine Insel?!

Keine Frage: Sylt ist schön: die Dünen – angeblich soll es fünf verschiedene geben -, die feinsandigen Strände, malerische Orte und natürlich das Meer. Das ist, zumindest auf der Westseite der Insel, anders als am Wattenmeer, immer da. Außerdem gibt es auf Sylt fast immer Wellen … ich liebe es, in der Brandung zu schwimmen. Trotzdem ist Sylt nicht „meine“ Insel. Warum, kann ich nicht sagen. Vielleicht weil der erste Eindruck oft der entscheidende ist – und manchmal lange nachwirkt.

Meine erste Reise nach Sylt liegt schon fast ein halbes Jahrhundert zurück. Damals habe ich mit einer Gruppe geistig und körperlich beeinträchtiger Menschen bei Schleswig Urlaub gemacht und wir haben einen Tagesausflug auf die Insel unternommen. Die war schon damals die Insel der Reichen und Schönen – oder auf dem besten Weg, es zu werden. Aus unserer Gruppe war definitiv niemand reich und schön genug, weder wir BetreuerInnen noch die Betreuten – und das zeigte man uns deutlich. Ich erinnere mich an indignierte bis abwertende Blicke, die sagten: „Was wollen die denn hier?“ „Müssen sie uns unsere Urlaubsstimmung verderben?“

Auch beim zweiten Besuch vor dreieinhalb Jahrzehnten hat man uns, diesmal meinen Mann und mich, spüren lassen, dass wir nicht die Wunsch-Sylt-Urlauber sind. Wir hatten unser Auto in Niebüll abgestellt und waren mit unseren Rädern weitergefahren. Fahrradtourismus war damals noch nicht so in wie heute.

Im Tourismusbüro erhielten wir eine Liste mit freien Zimmern; in der Nachsaison seien, so versicherte uns die freundliche Mitarbeiterin, längst nicht alle Unterkünfte belegt. Mit unseren Rucksäcken bepackt, machten wir uns also ganz optimistisch auf, um eine Bleibe für drei oder vier Nächte zu suchen.

Die Suche ähnelte dann ein wenig der in der Bibel beschriebenen Herbergssuche: Mehrere Vermieter öffneten die Tür, musterten uns, und sagten dann, dass das Zimmer leider nicht mehr frei sei. In Hörnum fanden wir schließlich ein Zimmerchen unterm Dach – mit Möbeln aus den Sechzigern, Dusche und Klo auf dem Flur. Aber das störte mich nicht – damals ebenso wenig wie bei der Schreibwoche im vergangenen Jahr in der Akademie am Meer in Klappholtal.

Ich brauche keinen Luxus. Mein Zimmer war in Ordnung, aber Räume, um gemeinsam mit den anderen Teilnehmerinnen zu schreiben, habe ich schon vermisst. Dass ich mich auf dem Gelände nur an ganz wenigen Stellen ins Internet einloggen und nirgendwo mit dem Smartphone telefonieren konnte, hat die Freude am Aufenthalt ebenfalls getrübt. Richtig stressig war das digitale Abseits, weil ich nebenbei noch einen Auftrag zu Ende bringen musste und deshalb auf eine stabile Internetverbindung angewiesen war.

Aber die Lage der Akademie ist wirklich traumhaft. Die Häuser und Hütten liegen in den Dünen, nur durch ein paar Stufen vom Meer getrennt. Der breite Sandstrand war im November fast menschenleer: Ich bin jeden Tag am Meer entlangspaziert, habe die Ruhe und den Blick aufs Wasser genossen. Und ich bin sogar noch im Meer geschwommen.

Das habe ich in diesem Jahr bei meinem vierten Syltbesuch nicht gewagt. Denn so ganz traue ich meinem Fuß noch nicht: Obwohl mein Sprunggelenk gut verheilt ist, hatte ich Angst, von den Wellen umgeworfen zu werden und mich dabei erneut zu verletzen.

Auch der Ausstieg aus unserem Wohnmobil gestaltete sich etwas schwierig. Beim Runterfahren von der Fähre, die uns von Romö nach Sylt brachte, war nämlich unsere Trittstufe beschädigt worden und ließ sich nicht mehr ausfahren. Doch mit Hilfe eines kleinen Hockers, den wir eigentlich benutzen, um in unser Bett zu steigen, haben wir das Problem gelöst.  

Der Campingplatz Westerland liegt direkt hinter den Dünen – ideal für lange oder kurze Spaziergänge am Strand. Bis nach Westerland ist es nicht so weit – zu Fuß direkt am Strand entlang oder mit dem Bus. Der hält vor dem Campingplatz und fährt mehrmals in der Stunde – in Richtung Westerland und nach Hörnum am Südende der Insel. Und das Deutschlandticket gilt zum Glück auch auf der Insel.

Apropos Westerland: Besonders hübsch sind die meisten Häuser dort zwar nicht, aber der Ort hat eigentlich alles, was ich mir wünsche: Er ist nicht allzu groß, hat viele kleine Läden und Galerien, in denen man stöbern kann. Besonders gut gefallen hat mir, dass es mehrere Buchhandlungen gibt.

Auch an Lokalen und Cafés, in denen man draußen sitzen kann, mangelt es nicht. Überall saßen die Menschen dicht an dicht – aber ich hatte keine Lust, mich dazuzusetzen. Es waren zu viele – und ich fühlte mich nicht am richtigen Platz. Irgendwie ist Sylt eben nicht meine Insel.

Trotzdem werde ich wiederkommen, denn ich möchte den Besuch in der Strandsauna nachholen, den ich dieses Mal aufgeschoben habe. Abkühlen im Meer war wegen der hohen Wellen nämlich nicht möglich. Und darauf mochte ich nach dem Schwitzen mit Blick aufs Wasser nicht verzichten.

To want statt to do

Eigentlich wollte ich bei Judith Peters Blogtoberfest mitmachen. Die Aussicht mehr Bewegung in mein Leben zu bringen und „das 4. Quartal zu deinem besten in 2025 zu machen“ und mehr LeserInnen zu gewinnen, klang einfach zu verlockend. Aber dann hatte ich keine Lust, in einer weiteren To-do-Liste all meine Ziele bis zum 31. Dezember aufzulisten. Denn mit meinen Plänen ist es ja so eine Sache .

Doch als ich über einen Blogbeitrag von Astrid Engel auf einen älteren Blogbeitrag von Judith gestoßen bin, habe ich es mir nochmal anders überlegt. In ihrem Blogbeitrag beschreibt Judith Peters, wie sie mit regelmäßigen Quartals-Listen Berge versetzt .

Nun, Berge versetzen will ich nicht. Ich finde, wir Menschen pfuschen der Natur oft genug ins Handwerk und meist kommt nix Gutes dabei raus. 12-Wochen-Listen kenne ich und schreibe sie auch gelegentlich. Denn es stimmt, dass ich kurzfristige Ziele nicht so schnell aus den Augen verliere wie solche, die in ferner Zukunft liegen. Dann wird aus aufgeschoben doch allzu oft aufgehoben. Aber Judiths Abwandlung des Konzepts „12-Wochen-Jahr“ hat mir gefallen: Sie notiert nicht Dinge, die sie tun muss, sondern Projekte und Ereignisse, auf die sie sich freut, die sie sie erledigen möchte. Schreibt eben keine To-do-, sondern eine To-want-Liste.

Der langen Rede kurzer Sinn. Ich habe mich also noch in der Nacht hingesetzt und habe angefangen, Pläne und Vorhaben zu notieren, die ich nicht umsetzen muss, sondern möchte:

Schreiben

  1. Jeden Tag schreiben. Dank der August-Challenge von Astrid Engel klappt das seit Anfang August ganz gut klappt https://timetoflyblog.com/schreib-challenge-im-august-ich-bin-dabei.
  2. Dabei helfen mir vor allem die Online-Schreibtreffen, die die Textmanufaktur und Denise Fritsch anbieten . An ihnen möchte ich auch bis zum Ende des Jahres regelmäßig teilnehmen.
  3. Aber ich möchte endlich auch eine Schreibroutine etablieren, die mir hilft, mich an den Schreibtisch oder an den Computer zu setzen, wenn ich keine Schreibverabredung habe und nicht sehr motiviert bin.
  4. Den Nanowrimo gibt es nicht mehr – 50.000 Worte in 30 Tagen zu schreiben ist für mich ohnehin illusorisch. Aber ich möchte im November intensiver an der Geschichte arbeiten, die ich vor Jahren begonnen habe: Sie soll nicht unvollendet bleiben.
  5. Außerdem möchte ich bis zum Jahresende mehr bloggen: Ich habe ich in diesem Jahr bislang 40 Blogbeiträge geschrieben und veröffentlicht. Bis zum Jahresende sollen es 60 sein. Ich möchte also in den nächsten Wochen 20 Blogbeiträge schreiben, das sind fast zwei also wöchentlich. Dies ist Blogbeitrag Nr. 41.
  6. Auch Nature Writing möchte ich ausprobieren. Dabei können mir Wanderungen, Spaziergänge und Künstlertreffs in der Natur helfen.
  7. Und dann ist ja auch noch das Projekt 27. September, das Maxim Gorki ins Leben gerufen und Christa Wolf fortgeführt hat. Ich habe Ende Septermber einen Blogbeitrag darüber geschrieben und einige Schreibfreundinnen motiviert aufzuschreiben, was sie an diesem Tag erlebt, getan und gedacht haben. Irgendwann wollen wir uns treffen, uns unsere Texte vorlesen und uns austauschen.
  8. Ich notiere vieles ganz klassisch per Hand – in verschiedenen Büchern. Das hat den Nachteil, dass ich oft mehrere Bücher – Tagebuch, Notizbuch, Bulletjournal, Arbeitstagebuch – mit mir rumschleppe. Außerdem geht mancher gute Gedanke verloren, weil ich deine Notiz oder einen Text nicht wiederfinde. Ich möchte daher ein Notizsystem finden, das mir hilft, den Überblick zu bekommen oder zu bewahren (über Hinweise und Tipps freue ich mich sehr).

Reisen

  1. Früher bin ich oft zur Buchmesse gefahren: zuerst zur Frankfurter, dann auch zur Leipziger. Doch seit Corona hat es nicht mehr geklappt: In diesem Jahr habe ich mir wieder ein Ticket besorgt. Inzwischen bin ich schon wieder zurück und kann diesen Punkt auf meiner To-want-Liste schon abhaken. 
  2. Im November fahre ich zu meiner Freundin in die Pfalz, um mit ihr Geburtstag zu feiern und bei der Gelegenheit auch den Museums-Pass Musées einweihen, den sie mir geschenkt hat. Mit ihm kann ich ein Jahr lang mehr als 350 (!) Museen, Schlösser und Gärten in Deutschland, Frankreich und der Schweiz besuchen. Weitere Besuche sind also vorprogrammiert.
  3. Ich plane Städtetrips in zwei Städte, die ich noch nicht kenne: nach Jena zum Beispiel, das gar nicht so weit entfernt liegt.
  4. Vielleicht kann ich die eine oder andere Städtereise mit einem Abstecher auf einen Weihnachtsmarkt verbinden. Ich bin ein Weihnachtsmarktfan und möchte in diesem Advent zwei neue kennenlernen
  5. Die meisten meiner Freundinnen wohnen leider nicht in Burgwedel – und ich sehe sie auch deshalb viel zu selten. Bis Jahresende möchte ich drei von ihnen treffen. Zwei habe ich schon wiedergesehen: eine befreundete Verlegerin auf der Buchmesse und auf dem Rückweg die Freundin in der Pfalz.

Kulturelle und andere Aktivitäten

  1. Ich lese recht viel, aber nur selten Gedichte. Bis zum Jahresende möchte ich jeden Tag eines lesen. Das Buch „Mit Gedichten durchs Jahr. Ein lyrischer Kalender mit 365 Gedichten“ liegt jetzt neben meinem Bett. Heute Morgen habe ich nach dem Aufstehen Muriel Sparks „Eingetrübt“ gelesen (eine Brille brauche ich dazu zum Glück nicht).
  2. Zwei Konzerte stehen bis Jahresende auf meiner Wunschliste. Für eines – Filmmusiken von Hans Zimmer – haben wir schon Karten, das zweite soll ein Weihnachtskonzert sein, zum Beispiel ein Konzert des Mädchenchors Hannover.
  3. Die Idee ist von Julia Cameron*: Einmal in der Woche soll frau einen „Künstlertreff“ einplanen, also allein etwas unternehmen, was sie interessiert oder fasziniert. Eine gute Idee, die einen Platz auf meiner To-want-Liste verdient.
  4. Die hannoverschen Museen und die Herrenhäuser Gärten besuche ich dank Museums- bzw. Jahreskarte regelmäßig. Im Sealife war ich dagegen noch nie. Das möchte ich ändern.

Sport und Gesundheit

  1. Eigentlich bewege ich mich gerne und viel. Bis zum 13. Mai bin  ich täglich durchschnittlich mehr als 10.000 Schritte gegangen. Aber nach meinem Unfall durfte ich ein paar Wochen das gebrochene Sprunggelenk gar nicht belasten, danach musste ich erst wieder gehen lernen (ein Ziel für das dritte Quartal, das ich erreicht habe). Jetzt setze ich mir ein neues Ziel: 8.000 Schritte am Tag.
  2. Drei Spaziergänge in der Woche – auch das ist eine Anregung von Julia Cameron. Allein und ohne Smartphone, nur mit meinem Notizbuch möchte ich spazieren gehen. Nicht nur der Gesundheit wegen, sondern um Klarheit zu finden und meine Beobachtung zu schulen.
  3. Längere Strecken zu gehen, muss ich erst wieder üben. Eine erste (kurze) Wanderung habe ich Anfang des Monats schon geschafft https://timetoflyblog.com/update-es-geht-weiter, (mindestens) zwei weitere sollen folgen.
  4. Yoga hatte bis zu meinem Unfall einen festen Platz im Tagesablauf, nämlich früh morgens, während ich – noch vor den Morgenseiten – die erste Tasse aufbrühte. Weil ich morgens direkt keinen Kaffee mehr trinke, muss ich einen neuen Platz für meine Übungen finden.
  5. Ich bin ein Saunafan, aber mein letzter Saunabesuch liegt schon Monate zurück. Bis zum Jahresende möchte ich mir zwei Thermenbesuche gönnen.

Last, but not Least

 „Was kann ich der Welt zurückgeben?“ lautete eine der Fragen, die Judith Peters in der Vorlage für den Blogtober stellte. Das klingt mir zugegebenerweise zu pathetisch. Ob ich der Welt etwas zurückgeben kann, weiß ich nicht. Ich möchte mich auf jeden Fall mehr im AutorInnenzentrum Hannover engagieren. Katia, die für den Vorstand des Vereins kandidiert, hat eine Liste mit Aufgaben herumgeschickt, die erledigt werden müssen. Ich werde anbieten, die eine oder andere zu übernehmen.

*Julia Cameron, Emma Lively: Es ist nie zu spät, neu anzufangen. DEr Weg des Künstlers ab 60. Droemer Knauer München 2016

Zu Gast im Sprengel Museum: Niki. Kusama. Murakami.

Niki de Saint Phalle kennt in Hannover fast jedeR. Als die Nanas 1974 am Leineufer aufgestellt wurden, hagelte es laut Wikipedia Proteste. „In Leserbriefen an die Hannoversche Allgemeine Zeitung wurden die Nanas unter anderem als ‚Ekelhafte Scheußlichkeiten‘, ‚Kulturschande‘ und ‚Umweltverschmutzung‘ bezeichnet“. Der damalige Stadtimagepfleger Mike Gehrke musste sogar unter Polizeischutz gestellt werden.

Geschadet hat der Aufruhr um die Kunst im öffentlichen Raum weder der Karriere der Künstlerin noch dem Ansehen der Landeshauptstadt – im Gegenteil. Die HannoverannerInnen haben die drei bunten Damen – Caroline, Sophie und Charlotte – längst liebgewonnen. Niki de Saint Phalle wurde erste Ehrenbürgerin der Stadt und schenkte dem Sprengel Museum vor 25 Jahren mehr als 400 ihrer Arbeiten – viele sind zurzeit gemeinsam mit Werken von Yayoi Kusama und Takashi Murakami in der Ausstellung „Niki. Kusama. Murakami. Love You for Infinity“ zu sehen. Insgesamt werden auf rund 2.000 Quadratmetern  etwa 120 Bilder, Skulpturen, Installationen, Grafiken und Filme präsentiert.

In der Eingangshalle: Werke von Yayoi KusamaNiki de Saint Phalle und Takashi Murakami

Von Yayoi Kusama und Takashi Murakami hatte ich – bekennende Kunstbanausin – zugegebenerweise noch nie etwas gehört. Ich habe mir die Ausstellung vor allem wegen Niki de Saint Phalle angesehen.

Niki de Saint Phalle French-American sculptor, painter, and filmmaker Niki de Saint Phalle with one of her pieces, 1983; Photographer: Norman Parkinson / Iconic Images/ Sprengel Museum Hannover

Manche ihrer Arbeiten, zum Beispiel die von ihr gestaltete Grotte in den Herrenhäuser Gärten und viele ihrer Zeichnungen gefallen mir sehr gut, andere, unter anderem auch die legendären Nanas oder auch den verliebten Vogel (L´ouiseau Amoureux Fontaine), den ich im Mai im Ekebergparken entdeckt habe, finde ich eher solala.  Auf jeden Fall imponiert mir, wie sie als Außenseiterin ihren Weg in der Kunstwelt gemacht hat – mit ganz ungewöhnlichen Werken und in einer Zeit, als Kunst noch viel mehr als heute eine Männerdomäne war.

Yayoi Kusama gilt als eine der bedeutendsten japanischen Künstlerinnen der Nachkriegszeit und ist bekannt für ihre Polka-Dots und immersive Installationen.

Ihr Landsmann Takashi Murakami verbindet traditionelle japanische Kunst mit zeitgenössischen Themen aus Popkultur und Konsumwelt. Die Arbeiten der beiden JapanerInnen passen sehr gut zu Niki de Saint Phalles farbenfrohen Werken. Oder, wie der Direktor des Sprengel Museums, Reinhard Spieler, es fachmännisch formulierte: „Diese Ausstellung bringt drei Ikonen der Kunstgeschichte zusammen, die auf ganz unterschiedliche Weise universelle Themen berühren und dabei Brücken schlagen – zwischen Kunst, Popkultur und gesellschaftlicher Reflexion.“ Mich hat die Ausstellung wirklich begeistert, auch wenn ich – siehe oben – nicht mit allen Werken etwas anfangen kann. Und weil Bilder mehr sagen als Worte, lasse ich hier einfach Fotos sprechen.

Highlight war für mich der letzte der insgesamt zwölf Ausstellungsräume: In der großen Ausstellungshalle verdoppelt ein verspiegelter Boden die gezeigten Werke und eröffnet ungewöhnliche Perspektiven. Niki de Saint Phalles „Skull Meditation Room“ in Form eines glitzernden Schädels können die BesucherInnen ebenso betreten wie das „Nana Maison“ und den „Infinity Mirrored Room“ von Yayoi Kusama. In ihm wäre ich gerne länger geblieben, aber die Verweildauer ist hier leider begrenzt. Aber ich komme sicher wieder.

Beeindruckt haben mich auch sechs Taststationen neben einigen Werken von Niki Saint Phalle. Sie ermöglichen nicht nur blinden und sehbehinderten Menschen barrierefreie Zugänge, sondern auch „sehende“ wie ich können die Kunstwerke dadurch auf eine neue Art „begreifen“. Eine wirklich gute Idee.

Das habe ich von Mama gelernt

Vor ein paar Tagen habe ich einen Blogbeitrag von Christiane gelesen, der mich an meine eigene Mutter erinnert hat. Sie schildert  „eine völlig beliebige Diskussion zwischen Mutter und Kind.
Mutter: ‚Dann geh auf dein Zimmer!‘
Kind (aufsässig): ‚Dann geh du doch auf dein Zimmer!‘
Mutter: ‚Was ist denn mein Zimmer?‘
Kind (überlegt lange): ‚Die Küche!‘“

Das Kind war Christiane, und der Dialog tut ihr, wie sie schreibt „heute noch leid.“ Ihre Mutter war wie viele Frauen in den 50er- und 60er-Jahren Hausfrau, aber sie hätte gerne weiter gearbeitet. Am liebsten als Gutsrendantin, also in der Verwaltung/Buchhaltung eines landwirtschaftlichen Betriebs. Denn sie konnte gut mit Zahlen umgehen. Genau wie meine Mutter, die als Buchhalterin in einem Weinbaubetrieb gearbeitet hat – und sie hat es sehr gerne getan. Sie arbeitete nur vormittags, aber oft brachte sie Arbeit mit nach Hause und erledigte nebenbei noch den „Bürokram“ für einen kleinen Betrieb im Ort.

Arbeiten verboten

Dass mein Vater nicht genug verdient hat, um die Familie zu ernähren und den Traum vom eigenen Haus zu verwirklichen, war ihr Glück. Denn sonst hätte sie vielleicht, wie Christianes Mutter und viele Frauen nach dem Krieg, ihren Beruf aufgeben müssen. Erwerbstätige Mütter waren damals die Ausnahme, erst recht wenn sie wie meine Mutter drei Kinder hatten. Sie galten schnell als „Rabenmütter“.

Spätestens nach der Geburt des ersten Kindes hörten Frauen in der Regel auf zu arbeiten – wenn nicht freiwillig, dann oft gezwungenermaßen. Denn obwohl Frauen und Männer nach dem Grundgesetz seit 1949 gleichberechtigt waren, durften die Männer bis in die 50er-Jahre hinein die Arbeitsverträge ihrer Frauen auch gegen deren Willen kündigen. Zur (unentgeltlichen) Mitarbeit im Betrieb ihres Mannes waren Ehefrauen indes verpflichtet, auch wenn sie lieber in ihrem Beruf weitergearbeitet hätten – wenn sie denn einen hatten. Dass Frauen einen Beruf erlernten, Abitur machten oder gar studierten, war damals nämlich nicht selbstverständlich. Warum auch Geld in die Ausbildung der Töchter investieren, wenn sie ja doch heirateten und ihren Beruf aufgaben. Hier beginnt und schließt sich der Teufelskreis.

Erst als 1958 das erste Gleichberechtigungsgesetz in Kraft trat, durften verheiratete Frauen ohne Zustimmung ihres Mannes erwerbstätig sein – allerdings nur, „soweit dies mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar“ war, wie es im neu formulierten § 1356 BGB hieß. Bis das „Erste Gesetz zur Reform des Ehe- und Familienrechts“ 1975 beide Ehegatten berechtigte, erwerbstätig zu sein und sie die „Haushaltsführung im gegenseitigen Einvernehmen regeln“ mussten, sollten noch fast 20 Jahre vergehen.

Zurück in die 50er?

Heute ziehen sich Tradwives wieder freiwillig ins Haus und an den Herd zurück und verherrlichen die Rollenbilder der 50er-Jahre. Immer mehr Mom-Influencerinnen erwecken mit schönen – oder geschönten – Bildern den Eindruck, dass ein Leben als nicht erwerbstätige Hausfrau und Mutter stressfrei und erfüllend ist. Ob sie sich bewusst machen, welchen Geist sie aus der Flasche lassen? Was sie ihren Kindern, vor allem ihren Töchtern antun. Was sie aufs Spiel setzen, wenn sie helfen, das Rad zurückzudrehen und freiwillig auf das verzichten, wofür die Frauen mehr als 100 Jahre lang gekämpft haben? Ich glaube nicht.   

Zum Glück ist die Bewegung (noch) klein – und viele Familien können es sich, wie meine Eltern damals, nicht leisten, auf ein Einkommen zu verzichten. Zum einen sind die Lebenshaltungskosten gestiegen, zum anderen aber auch die Ansprüche. Die durchschnittliche Wohnfläche pro Kopf betrug laut Umweltbundesamt 2023 47,5 Quadratmeter, in den 50e-Jahren des vergangenen Jahrhunderts waren es nur 15 . Und während vierköpfige Familie damals durchschnittlich auf 50 Quadratmetern lebten – das waren gerade mal 12,5 Quadratmeter pro Person –, lag  die Pro-Kopf-Wohnfläche in Haushalten mit mindestens vier Personen Anfang der 20er-Jahre dieses Jahrhunderts nach Angaben des Statistischen Bundesamtes bei 29,9 Quadratmetern.

Ein eigenes Kinderzimmer war in meiner Kindheit und Jugendzeit nicht die Regel: Meine ältere Schwester war die einzige in der Familie, die ein Zimmer für sich allein hatte, und ich habe sie glühend darum beneidet. Denn ich musste mein Zimmer bis ich in die 11. Klasse kam mit meiner jüngeren Schwester teilen. Als ich mit fast 16 dann in einen ehemaligen Abstellraum – zunächst ohne Ofen – umziehen durfte, war ich überglücklich.

Kein eigenes Zimmer

Mein Vater hatte sich einen kleinen Raum im Keller als Werkstatt eingerichtet. Für meine Mutter war, das glaube ich heute, lange Zeit ihr Büro ihr Zufluchtsort. Ein eigenes Zimmer in unserem Haus hatte sie nie – und sie hat auch nie eins beansprucht. Auch nicht, als alle Kinder aus dem Haus waren und viele Räume leer standen. Aber sie besetzte das „Esszimmer“, das ohnehin nur benutzt wurde, wenn Besuch kam.

Im Alltag diente der große Esstisch als Schreibtisch. Dort stand ihre elektrische Schreibmaschine, dort lagen auch die Aktenordner und Kassenbücher, die sie gerade bearbeitete. Und auf dem alten Schreibtisch meiner Schwester in der Ecke des Zimmers fand der Computer Platz, den sie sich wünschte, als sie schon über 80 war. Ich bin sicher, dass auch ihre Arbeit sie so fit und rege gehalten hat.

Denn auch als sie Rentnerin wurde, arbeitete sie weiter in ihrem Betrieb – nicht primär des Geldes wegen, sondern weil ihre Arbeit ihr Spaß machte. Sie ging zunächst an zwei Vormittagen in der Woche ins Büro, später nur noch an einem. Erst kurz vor ihrem 90. Geburtstag teilte sie ihrem Chef mit, dass sie nicht mehr für ihn arbeiten würde.

So lange werde ich nicht arbeiten. Aber meine Mutter hat gewiss meine Einstellung geprägt. Daran, meinen Beruf aufzugeben, habe ich nie gedacht. Ich habe schon kurz nach der Geburt meiner Tochter wieder gearbeitet. Das war auch in den 80er- und 90er-Jahren noch nicht selbstverständlich – in meinem Bekanntenkreis gab es nur wenige erwerbstätige Mütter. Die meisten kehrten erst wieder in ihren Beruf zurück, als ihre Kinder in der weiterführenden Schule waren. Und so manches Mal wurde ich von anderen Müttern gefragt, wie ich es denn übers Herz brächte, mein Kind „fremden Leuten“ anzuvertrauen, während ich außer Haus arbeitete. Die fremden Leute waren – weil es keine Kinderbetreuungsmöglichkeiten für Kinder unter drei gab – in der Regel mein Mann oder meine Eltern.

Als Rabenmutter habe ich mich trotzdem nicht gefühlt, weil ich erwerbstätig war. Auch das habe ich von Mama gelernt. Danke dafür. Danke auch an Christiane, die mich mit ihrem Blogbeitrag zu meinem inspiriert hat.

Zu Gast bei Emil Nolde

Auf der Fahrt zur Insel Romö hatte ich ein Hinweisschild auf das Museum Emil Nolde entdeckt, auf der Rückfahrt sind wir dann nach Seebüll gefahren. Denn Noldes Bilder – vor allem seine Mohnblumen – fand ich schon als Jugendliche toll. Und natürlich hat mir auch sein Image als von den Nazis verfolgter Künstler gefallen. Ich habe, und da bin ich sicher nicht die einzige, die (fiktive) Geschichte Malers Max Ludwig Nansen, die Siegfried Lenz in seinem Roman Deutschstunde erzählt, für eine Art Nolde-Biografie gehalten.

Selbstbildnis Malermensch Nolde

Dass Nolde kein Opfer der Nazis war, wusste ich inzwischen. Dass er ein glühender Anhänger der Nationalsozialisten, Rassist und Antisemit war, wurde mir allerdings erst bewusst, als ich den Besuch des Nolde Museums plante. Und ich habe mir wirklich überlegt, ob ich mir die Bilder eines Menschen ansehen soll, der sich bei Hitler und Co. anbiederte, bis zum Schluss auf den Endsieg hoffte und sich als Vorkämpfer gegen das Judentum sah. Ich bin dann doch hingefahren. Zum Glück, denn das Museum ist wirklich sehenswert. Außerdem habe ich mich dadurch mehr mit Noldes Vergangenheit beschäftigt.

So ist auf der Website der Nolde Stiftung zu lesen, dass Nolde 1933 nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten „einen nicht im Detail überlieferten Plan (erarbeitete), der eine territoriale Lösung der sogenannten ‚Judenfrage‘ – eine Aussiedlung der Juden“ vorsah. Diese falsche Behauptung hat er nie zurückgenommen – und er hat sich auch nach Ende des Krieges nie von seinen faschistischen Äußerungen und Einstellungen distanziert. Im Gegenteil: Nolde hat sich nach dem Krieg als Opfer der Nationalsozialisten dargestellt.*

Das gelang ihm wohl auch deshalb problemlos, weil er der berühmteste als „entartet“ verfemte Künstler war. Mehr als 1.000 seiner Arbeiten wurden während der Zeit des Nationalsozialismus beschlagnahmt – so viele wie von keinem anderen Maler. 1941 wurde er aus der Reichskammer der bildenden Künste ausgeschlossen und mit einem Ausstellungs-, Verkaufs- und Publikationsverbot belegt. Ein Malverbot gab es indes wohl nie: Nolde durfte weiter malen, seine Bilder aber nicht verkaufen.

Am Hungertuch nagten er und seine Frau Ada trotzdem nicht. Laut Bernhard Fulda gehörte er „zwischen 1933 und 1941 eindeutig zu den Spitzenverdienern unter den Künstlern im ‚Dritten Reich‘“. Zwischen 1937 und 1941 verdiente Nolde mehr als je zuvor: allein im Jahr 1940 nach seiner  Umsatzsteuererklärung fast 80.000 Reichsmark. „Zum Vergleich: Das jährliche Durchschnittseinkommen im Deutschen Reich lag 1940 bei 2156 Reichsmark. Und bildende Künstler verdienten in der Regel deutlich weniger als der durchschnittliche Arbeiter.“

Und so konnten Nolde und seine Frau 1927 nicht nur die Warft kaufen, sondern dort bis 1937 auch nach ihren Entwürfen das Wohn- und Atelierhaus im Bauhausstil errichten, das heute als Museum dient. Alljährlich werden dort in den Sommermonaten Bilder in einer Jahresausstellung gezeigt – die diesjährige steht unter dem Motto „MALERMENSCH“ IN BERLIN.

Mehr als 110 Werke sind noch bis Ende Oktober in Seebüll zu sehen, neben Blumen-, Meer- und Landschaftsbildern auch viele Bilder aus Noldes Berliner Leben. Denn während sie im Sommer abgeschieden in Nordfriesland lebten, verbrachten die Noldes die Winter meist in ihrer Atelierwohnung in der Hauptstadt, besuchten Theater, Museen und Bälle, pflegten Kontakte zu anderen Künstlern, aber auch zu Sammlern und Galeristen.

Von den ausgestellten Bildern haben mir nur wenige wirklich gefallen. Sehr beeindruckt haben mich dagegen die Farben der Räume – und ich habe mich gefragt, wie ein Mensch mit einem so exzellenten Farbgefühl so braun sein konnte. Aber Begabung und politische Blindheit schließen sich leider nicht aus – ein großer Künstler muss eben kein großer Mensch und erst recht kein guter Mensch sein.

Mein Lieblingsraum war die schmale Galerie im Obergeschoss. Dort hätte ich stundenlang sitzen und auf den Garten schauen können, den Emil und Ada Nolde selbst entworfen haben.

Der Garten ist wirklich ein Traum – ein Kunstwerk für sich. Umgeben und geschützt von heimischen Bäumen und Sträuchern wachsen dort rund 500 teilweise sehr alte Stauden, unter anderem Türkischer Mohn, Rittersporn, Pfingstrosen und jetzt im September Dahlien und Astern. Dazwischen blühen verschiedene ein- und zweijährige Sommerblumen und verwandeln den Garten in ein Farbenmeer. Und unter den zahlreichen Obstbäumen sind auch seltene Apfelsorten wie „Agathe von Klanxbüll“ und „Renette von Seebüll“.

Allzu gerne hätte ich einen der verlockend aussehenden Äpfel gepflückt, doch das habe ich nicht gewagt. Denn das Pflücken eines Apfels hatte ja bekanntlich schon einmal die Vertreibung aus dem (Garten)Paradies zur Folge.

* „MALER UND MYTHOS“ ist Titel und Thema eines sehenswerten Films, der im Obergeschoss des FORUMS im Eingangsbereich des Museums gezeigt wird.

Der 27. September oder „Jedertag“

Jedes Jahr Ende September kommt mir ein Schreibprojekt in den Sinn, das Maxim Gorki vor 90 Jahren initiiert hat. Er rief im Jahr 1935 seine SchriftstellerkollegInnen in aller Welt auf, einen ganz gewöhnlichen Tag in ihrem Leben möglichst genau zu beschreiben und auf diese Weise einen „Jedertag“ zu porträtieren.

Remember: 27. September

Das Leben der meisten Menschen besteht aus eher banalen „Alltagen“, in der Literatur kommen ereignislose Tage dagegen kaum vor. „Die Literatur liebt es, das Leben zu dramatisieren. Sie strafft und konzentriert die Ereignisse, sie inszeniert sie, sie spitzt sie zu, sie verdichtet sie im doppelten Sinne des Wortes. In der Literatur ist das Leben überlebensgroß. Noch aus der Ereignislosigkeit möchte sie ein Ereignis machen – doch zum Wesen des Jedertags gehört, kein Ereignis zu sein“, schrieb der Autor und Literaturkritiker Uwe Wittstock am 27. September 2009 in einem Artikel in der Welt.

Den 27. September wählte Gorki wohl eher zufällig aus. Das Projekt „Ein Tag der Welt“ soll zwar auf positive Resonanz gestoßen sein, es wurde aber nach Gorkis Tod im Jahr 1936 nicht weitergeführt. Erst 25 Jahre später wiederholte die Zeitschrift Istwestja den Aufruf, von dem ich sicher nie etwas erfahren hätte, wenn, ja wenn Christa Wolf, damals noch eine junge, unbekannte Autorin, nicht von der Idee begeistert gewesen wäre: Sie beschrieb den 27. September 1960 – und alle folgenden 27. September bis zum Jahr 2011. Die letzten Aufzeichnungen brach sie ab, weil sie keine Kraft mehr hatte.

Die gesammelten Texte sind im Suhrkamp Verlag erschienen, der erste Band im Jahr 2003 unter dem Titel „Ein Tag im Jahr, 1960–2000“. Die Tagesberichte der Jahre 2001 bis 2011 – „Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert“ – veröffentlichte Gerhard Wolf nach dem Tod seiner Frau. Christa Wolf beschreibt darin ihren Alltag als berufstätige Mutter und zeitgeschichtliche Ereignisse. Sie gibt Einblicke in ihr Leben als Schriftstellerin – und in die Gesellschaft.

Mich fasziniert das Projekt, seit ich die beiden Bücher gelesen habe, und ich überlege immer wieder, wie diese Tradition fortgeführt werden kann. Die Altusrieder Autorin Angelika Jesse von Borstel tut dies seit 2012. Sie ruft schreibende Frauen ihrer Region dazu auf, ihren 27. September zu protokollieren. Anfang Dezember – um den Todestag Christa Wolfs – treffen sich die Schreiberinnen dann im Frauenzentrum in Kempten zu einer Literarischen Gesprächsrunde, lesen ihre Tages-Notizen vor und tauschen ihre Gedanken aus.

Vielleicht motiviert ja auch dieser Blogbeitrag Schreibende in anderen Regionen diesem Beispiel zu folgen.

PS:

Natürlich darf in meinem Blogbeitrag über den 27. September das Gedicht von Thomas Brasch nicht unerwähnt bleiben. Das Gedicht, das Braschs bekanntesten Gedichtband „Der schöne 27. September“ den Namen gab, ist vermutlich eine Antwort auf ein Tagesprotokoll von Christa Wolf. Die schrieb wiederum das Nachwort zu dem 2004 im Suhrkamp Verlag veröffentlichten Gedichtband.

Laut Uwe Wittstock kannten und respektierten sich beide, obwohl es zwischen ihnen nicht viele (literarische) Gemeinsamkeiten gab. „Der eine war ein Rebell, die andere eine Zweifelnde“, schrieb Wittstock in der Welt. Und: „Als Christa Wolf 1987 gebeten wurde, als alleinige Jurorin den Kleistpreis an einen Schriftsteller ihrer Wahl zu vergeben, sprach sie ihn Thomas Brasch zu“, der damals schon die DDR verlassen hatte und in der Bundesrepublik lebte.

Nachzulesen ist Thomas Braschs  Gedicht unter https://marionbrasch.de/2018/09/27/der-schoene-27-september/

Ruth Maier: Das Leben könnte gut sein

Der 12. Juni ist der Tag des Tagebuchs. Denn am 12. Juni 1942, an ihrem 13. Geburtstag, schrieb Anne Frank zum ersten Mal in das Tagebuch, das sie weltberühmt machen sollte. Anne Franks Tagebuch begleitet mich seit mehr als 50 Jahren. Von den Tagebüchern Ruth Maiers habe ich im Mai bei meinem Besuch im Holocaust Zentrum in Oslo zum ersten Mal gehört – und sie jetzt gelesen.

Ruth Maier, im November 1920 in Wien geboren, begann bereits mit zwölf Jahren, im Mai 1933, Tagebuch zu schreiben.  Die letzten Einträge – mehrere literarische Versuche – verfasste sie am 12. November 1942, zwei Tage nach ihrem 22. Geburtstag. Ob sie danach ein neues Tagebuch begonnen hat, ist unbekannt. Denn Ruth Maier wurde bei einer Razzia am Morgen des 26. November in ihrem Wohnheim in Oslo verhaftet und anschließend mit 531 jüdischen Frauen, Männern und Kindern nach Auschwitz deportiert. Die meisten wurden als „nicht arbeitsfähig“ eingestuft und direkt nach ihrer Ankunft ermordet. Von den 186 arbeitsfähigen Männern überlebten nur neun das Vernichtungslager.

Fast zehn Jahre führte Ruth Maier Tagebuch. Acht Hefte aus den Jahren 1933 bis 1942 sind überliefert, andere sind verloren gegangen. Die norwegischen Tagebücher wurden – ebenso wie Briefe und Zeichnungen – von Ruths Freundin Gunvor Hofmo aufbewahrt. Deren Versuch, in den 50er-Jahren einen Verlag zu finden, der die Tagebücher veröffentlichte, scheiterte.

Die Originale der Tagebücher befinden sich im Holocaus-Zentrum in Oslo

Erst nach Gunvor Hofmos Tod entdeckte der norwegische Schriftsteller Jan Erik Vold die Aufzeichnungen im Nachlass seiner Kollegin. Er setzte sich mit Ruth Maiers in England lebender Schwester in Verbindung und veröffentlichte Tagebücher und Briefe im Jahr 2007. Die deutsche Ausgabe erschien 2008 unter dem Titel „Das Leben könnte gut sein. Tagebücher 1933 bis 1942“ in der Deutschen Verlagsanstalt*. Zurzeit ist das Buch jedoch leider vergriffen.

Die deutsche Ausgabe der Tagebücher ist leider zurzeit nur antiquarisch erhältlich.

Wirklich gut war Ruth Maiers Leben eigentlich nur bis zur Annexion Österreichs durch Nazi-Deutschland: Sie ging zur Schule und verreiste in den Ferien häufig.  Sie interessierte sich für Politik, las schon als Teenager, der damals noch Backfisch hieß, viel, ging gerne ins Theater und träumte davon, Schauspielerin oder Schriftstellerin zu werden. Einige ihrer frühen literarischen Versuche sind in den Tagebüchern überliefert.

Ab Frühjahr 1938 änderte sich das Leben der Jüdinnen und Juden in Österreich radikal: Ruth und ihre jüngere Schwester Judith mussten die Schule wechseln und ein jüdisches Gymnasium besuchen. Weil sie nicht arisch war, wurde  der Familie die Wohnung gekündigt. „Die Juden wurden von ihrer bis dahin wenn auch nicht gleichberechtigten, so doch menschenmöglichen Stellung zu Unmenschen, Schweinen etc. degradiert“ schrieb Ruth am 27. September (S.130). Und am 10. Oktober heißt es: „Sie prügeln die Juden und wollen sie an Laternen aufhängen. … Weil ich Jüdin bin, wollen sie mich morden.“ (139f) Ihr 18. Geburtstag am 10. November 1938 „war der schrecklichste Tag, den ich je erlebt habe. Jetzt weiß ich, was Progrome sind, weiß, was Menschen tun können. Menschen, die Ebenbilder Gottes.“ (147)

Im Dezember floh Ruths Schwester Judith mit einem der ersten Kindertransporte nach England; ihrer Mutter und Großmutter gelang 1939 die Flucht auf die Insel. Ruth entschied sich gegen England für Norwegen – auch weil sie dort das Abitur machen wollte. Ein Bekannter ihres verstorbenen Vaters nahm sie auf und bürgte für sie. In seiner Familie lebte Ruth bis kurz vor ihrer Deportation.

Leicht war das Leben der jungen Emigrantin in Norwegen nicht: Auf sich allein gestellt, fühlte sie sich oft einsam und sehnte sich nach ihrer Familie in England. Mit ihrer norwegischen Gastfamilie gab es im Laufe der Zeit immer größere Spannungen. Und auch „die Atmosphäre in der Schule ist … milde ausgedrückt … scheußlich“ (259). So schrieb ein Mitschüler auf seinen Tisch, an dem Ruth im Lateinunterricht saß: „Juden hier unerwünscht.“ (276). Doch insgesamt begegnete ihr Judenhass in Norwegen „bis jetzt in minimalem Maßstab“ (248).

Auch nach dem bestandenen Abitur blieb Ruths Zukunft ungewiss. Sie durfte offiziell nicht arbeiten und hatte Geldsorgen. Und nachdem die deutsche Wehrmacht Norwegen besetzt hatte, war eine Ausreise nach England nicht mehr möglich. Auch der zuvor sehr intensive Briefwechsel mit ihrer Schwester brach ab.

Ein Lichtblick war die Freundschaft mit der späteren Lyrikerin Gunvor Hofmo, die sie 1940 Freiwiligen Arbeitsdienst kennenlernte. Die beiden jungen Frauen fühlten sich seelenverwandt, auch wenn ihre Beziehung nicht immer einfach war. „Ohne Gunvor würde ich das Leben gar nicht aushalten. Mir ist so, als binde sie mich ans Dasein. Wenn ich sie mir fortdenke, ist alles grau, und ich bekomme Angst“, so der Tagbebucheintrag vom 9. März 1941.

Gemeinsam mussten Ruth und Gunvor im Juni 1941 das Lager des Freiwilligen Arbeitsdienstes verlassen: „Es wurde uns vorgehalten, dass wir aufrührerisch seien, ja, auf meine ‚Rassenangehörigkeit‘ wurde angespielt, auf Gunvors politische Anschauung, auf unsere Diskussionen etc.“ 439. 

Zurück in Oslo, verdiente Ruth ihr Geld auch als Aktmodell – unter anderem für den berühmten Bildhauer Gustav Vigeland. „Daneben nähre ich einen kleinen unschuldigen Traum: Malerin werden“, schrieb sie am 14. März 1942. Obwohl sie Zeichenunterricht an der Kunst- und Handwerksschule nahm, sollte ihr Traum sollte nicht in Erfüllung gehen.

Denn am 26. November Ruth in ihrem Wohnheim verhaftet. Als eine ihrer Mitbewohnerinnen versprach, die goldene Armbanduhr für sie aufzubewahren, antwortete sie nach Auskunft einer Augenzeugin: „Ich werde nie zurückkommen.“ (525)

Seit 2010 erinnert laut Wikipedia ein Stolperstein vor der ehemaligen Pension für junge Frauen und Mädchen an  Ruth Maier, auch ein Platz in Oslo wurde nach ihr benannt. Ihre Tagebücher dienten als Vorlagen für ein Theaterstück, eine Oper und ein Musical. Und das Ruth Maier Archiv mit den Tagebüchern, Briefen, Aquarellen, Zeichnungen und anderen Dokumenten ist seit 2014 Weltdokumentenerbes der UNESCO. Wenn ich das nächste mal in Oslo bin, werde ich mir die Originale im Zentrum für Holocaust- und Minderheitenstudien (HL-senteret) ansehen. Außerdem werde ich noch einmal in den Vigelandpark gehen und doch nach der Plastik „überrascht Ausschau halten, für die Ruth Maier Modell gestanden hat

*Dieser Beitrag enthält unbezahlte Weerbung. Die Seitenzahlen beziehen sich auf die von Jan Erik Vold herausgegebene 1. Ausgabe der Tagebücher, Deutsche Verlags-Anstalt, München 2008


Warum blogge ich eigentlich (immer noch)?!

Zugegeben, es ist ziemlich spät, um in die #BlogWochen2025 einzusteigen. Warum wir eigentlich (immer noch) bloggen und was uns antreibt hatten Robert , Dirk und Benedikt schon Anfang Mai gefragt. Weil ich mir diese Fragen selbst immer wieder stelle und in der letzten Zeit häufiger überlege, ob ich weiterbloggen oder meinen Blog einstampfen soll, hatte ich mir fest vorgenommen, mitzumachen.

Aber der Mai ist irgendwie ganz anders verlaufen, als ich es mir vorgestellt habe (https://timetoflyblog.com/manchmal-kommt-es-anders). Aber vielleicht sind Urlaub, ein komplizierte Fraktur des Sprunggelenks, eine Operation und ein Krankenhausaufenthalt in Norwegen ja gute Entschuldigungen für die Verspätung.

Tagebuch schreibe ich schon seit fast einem halben Jahrhundert. Da ein Blog oder Weblog laut Wikipedia eine „Wortkreuzung aus englisch Web und Log für „Logbuch“ oder „Tagebuch“ ist, lag es nahe, dass ich irgendwann mit dem Bloggen anfangen würde. Time to fly gibt es seit März 2014. Zeitweise hatte ich sogar einen zweiten Blog, nämlich den Gartenblog Chaosgärtnerinnen.

Seit Mai 2015 blogge ich mehr oder weniger regelmäßig. Damals habe ich noch als Journalistin gearbeitet und gehofft, mir mit dem Blog ein zweites berufliches Standbein aufbauen oder durch die Beiträge neue Kunden gewinnen zu können. Ich habe damit geliebäugelt auch für Reise- oder Gartenzeitschriften zu arbeiten und wollte so Hobby und Beruf teilweise miteinander verbinden. Das hat leider nicht funktioniert: Meine Blogbeiträge haben mir keinen einzigen Auftrag eingebracht und auch durch Anzeigen oder Kooperationen habe ich keinen Cent verdient. Im Gegenteil: Der Blog kostet nicht nur Zeit, sondern auch Geld, weil ich manches, zum Beispiel das Zusammenführen beider Blogs oder auch den Umzug zu einem anderen Hoster, einer Webmasterin überlasse. Blogtechnik gehört – ebenso wie Akquise von Kunden – leider nicht zu meinen Stärken.

Inzwischen bin ich Rentnerin und veröffentliche meine Texte nur noch auf dem Blog: Denn auch nach vierzig Jahren Lohnschreiberei macht mir das Schreiben immer noch viel Spaß. Ich schreibe täglich, meist für mich selbst. Aber vielleicht brauche ich das Veröffentlichen auch für mein Ego.

Als Journalistin konnte ich immer wieder über Themen schreiben, die mir wichtig waren: Über Gleichberechtigung und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf beispielsweise oder über Projekte gegen Antisemitismus und Rassismus. . Jetzt tue ich das gelegentlich in meinen Blog-Beiträgen.

Denn in Zeiten wie diesen genügt es nicht, gegen neue Nazis, gegen Antisemitismus und gegen Rassismus zu sein. Man muss es auch laut sagen oder schreiben – und zeigen, beispielsweise bei Demos und Aktionen der Omas gegen rechts.

Es gibt noch einen Grund, warum ich immer noch blogge. Ich lebe seit fast vierzig Jahren in Norddeutschland, aber viele Freundinnen und gute Bekannte wohnen nicht in der Nähe. Wir sehen uns nur selten, aber sie erfahren auch durch meinen Blog regelmäßig, was ich tue, was ich erlebe und was mich bewegt. Nach meinem Ausrutscher in Norwegen haben sich einige, die ich nicht persönlich informiert hatte, gemeldet. Sie haben sich erkundigt, wie es mir geht und mir gute Besserung gewünscht (herzlichen Dank dafür :-)). Mein Blog hilft mir also auch, alte Kontakte nicht abreißen zu lassen. Und vielleicht knüpfe ich dadurch sogar auch neue.

Blogparade „Wohin mich mein Schreiben schon geführt hat“

Kerstin Salvadors Aufruf zur Blogparade hat mich sofort angesprochen. Denn Schreiben begleitet mich eigentlich mein ganzes Erwachsenenleben lang. Angefangen habe ich mit dem Schreiben – genauer gesagt mit dem Tagebuchschreiben – während der Schulzeit, nachdem ich Anne Franks Tagebuch gelesen hatte. Und obwohl ich Germanistik und Geschichte mit Ziel Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien studierte, wollte ich auf keinen Fall Lehrerin werden, sondern beruflich irgendwas mit Schreiben, Büchern oder wie man heute sagenwürde mit Medien machen.

Wenn man mir während oder auch direkt nach dem Studium gesagt hätte, dass ich mein Leben lang mit Schreiben Geld verdienen würde, wäre ich wahrscheinlich überglücklich gewesen. Denn die Aussichten, einen Job bei einer Zeitung oder einem Verlag zu finden, waren damals nicht allzu gut. Vielleicht hatte ich auch einfach nicht genug Selbstvertrauen und Mut – und zu wenig praktische Erfahrung.

Mosel und andere Weinbaugebiete

Zunächst führte mich das Schreiben eher zufällig zurück an die Mosel, in den Ort, in dem ich geboren und aufgewachsen war. Ein Leichtathletikfreund arbeitete dort für einen kleinen Verlag – er vermittelte mir ein dreimonatiges Praktikum, an das sich ein Volontariat anschloss. „Learning bei doing“ war angesagt. Ich war, vielleicht auch, weil ich studiert hatte und gerne schrieb, von Anfang an verantwortlich für das Gesamtwerk Deutscher Wein, eine Bildband-Reihe, die im Verlag herausgegeben wurde. Ich korrigierte und lektorierte nicht nur die Beiträge der anderen Autoren, sondern schrieb viele Texte selbst. Wir recherchierten vor Ort – so führte mich mein Schreiben zunächst in mehrere deutsche Weinbaugebiete – an die Nahe, nach Franken und nach Württemberg.

Nicht des Schreibens, sondern der Liebe wegen, zog ich drei Jahre später nach Norddeutschland. Erfahrung im Verlagswesen hatte ich zwar inzwischen; ich war Mitautorin von vier Büchern und hatte in diesen Büchern auch viele Fotos veröffentlicht. Aber mit kleinem Kind und ohne ausreichende Kinderbetreuung wollte mich niemand fest einstellen. Dass ich als freie Journalistin für Zeitungen, Zeitschriften, Verlage, Verbände und Behörden arbeitete, war zunächst also eher eine Notlösung – doch irgendwann merkte ich, dass diese Art zu arbeiten gut zu mir passte. Ich habe vierzig Jahre lang unzählige Artikel geschrieben, mich dabei mit ganz verschiedenen Themen beschäftigt und mir ein gesundes Halbwissen in vielen Bereichen angeeignet.

Als Autorin im Fernsehen

Für zwei Sachbücher, die im Rowohlt Taschenbuch Verlag veröffentlicht wurden, habe ich Frauen bzw. Paare in ganz Deutschland – von Hamburg bis München – besucht und interviewt. Daran, dass mein Schreiben mich zweimal ins Fernsehen gebracht hat, habe ich mich erst beim Schreiben dieses Blogbeitrags wieder erinnert. Einmal fuhr ich für einen Auftritt in Jürgen Flieges Talkshow nach München; für den zweiten Beitrag kam ein Fernsehteam aus NRW zu uns nach Burgwedel. Doch das Fernsehen ist nicht meine Welt. Ich stehe nicht gerne vor der Kamera.

Die Interviews für die Zeitschriftenartikel führte ich meist telefonisch; Recherchereisen waren, weil sie von meinen Auftraggebern leider nicht bezahlt wurden, eher selten. Manches Projekt, über das ich geschrieben habe, habe ich live nicht gesehen. So war ich immer noch nicht im Anne Frank Haus in Amsterdam. Aber es steht weit oben auf meiner To-visit-Liste.

Schreiben und reisen im Wohnmobil

Weil ich für mehrere Campingzeitschriften arbeitete, haben wir uns irgendwann ein Wohnmobil angeschafft: So konnte ich schreiben und reisen, Beruf und Freizeit miteinander verbinden. Ich habe zum Beispiel Artikel über Inselhopping an der Ostsee geschrieben, über Camping zwischen Weinbergen an der Mosel, an oberitalienischen Seen oder an der Costa Brava.

Weil uns diese Art des Reisens gefallen hat, haben wir uns wieder ein Wohnmobil gekauft, als ich Rentnerin geworden bin. Obwohl ich mein Geld nicht mehr mit Schreiben verdiene, schreibe ich immer noch täglich. Zum Tagebuch sind längst die Morgenseiten gekommen, die mir helfen, gut in den Tag zu starten. Und natürlich gibt es diverse Notiz- und Projektbücher, in die ich Dinge aufschreibe, die mir wichtig sind oder scheinen (und die ich dann leider nicht immer wiederfinde).

Seit zehn Jahren blogge ich regelmäßig: Ich versuche, einen Blogbeitrag pro Woche zu veröffentlichen, was mir leider nicht immer gelingt. Ich schreibe über alles, was mich bewegt, auch übers Schreiben und über meine Reisen, zum Beispiel nach England, Schweden, Italien oder durch Deutschland. Der zweite Blogbeitrag vom Mai 2015 erzählt von einer Wanderung mit meiner Tochter in den Cinque Terre in Italien. Während ich diesen Beitrag schreibe, bin ich wieder mit meiner Tochter unterwegs, diesmal im Norden Europas, in Norwegen. Warum wir diesmal viel weniger gewandert sind als geplant, können alle, die es interessiert, in meinem vorigen Blogbeitrag nachlesen .

Genau genommen hat mein Schreiben mich natürlich nicht an diese Orte geführt, aber es hat mich auch dort begleitet, wie es mich eben immer begleitet. Und manchmal wähle ich Orte aus, weil sie mit Schreiben zu tun haben. So bin ich nicht nur, aber auch, wegen Judith Wolfsbergers Buch „Schafft euch Schreibräume“ nach Cornwall gefahren. Auf unserer Reise in die Toskana wollte ich unbedingt Pieve Santo Stefano, die Stadt der Tagebücher, besuchen. Und im vergangenen Herbst bin ich in Schweden zuerst in Ystad Kurt Wallander und auf dem Marktplatz in Vimmerby dann Astrid Lindgren begegnet.

Schreibauszeiten und …

Seit einigen Jahren gönne ich mir gelegentlich mehrtägige Schreibauszeiten. Denn es inspiriert mich, gemeinsam mit anderen (Frauen) zu schreiben; meist komme ich während der Schreibtage mit meinen Schreibvorhaben gut voran und bin motoviert, auch zu Hause weiter zu schreiben. Dass es mir dann im Alltag oft nicht gelingt, die guten Vorsätze umzusetzen, ist eine andere Sache.

Zu meinem ersten Schreibworkshop bin ich 2010 nach Amrum gefahren. Wir haben damals angeblich in dem Haus gewohnt und geschrieben, in dem Else Urys Nesthäkchen die Genesungskur verbracht hat. Weitere Workshops folgten im Nordkolleg in Rendsburg, in Wien, in Hamburg und im vergangenen Jahr auf Sylt.

Besonders nachhaltig war die Fahrt nach Wien. Im Writers’s studio habe ich den Schreibtreff kennengelernt, die Idee nach Hannover exportiert – und mithilfe von Annette Hagemann umgesetzt. Seit 2020 treffen sich einige interessierte Frauen am ersten Sonntagmittag im Monat, um gemeinsam zu schreiben. Parallel zum Frauenschreibtreff ist das AutorInnenzentrum Hannover entstanden. Seit es in der Deisterstraße feste Räume hat, bin ich dort regelmäßig zum (gemeinsamen) Schreiben, aber auch um an Workshops, AGs oder Textwerkstätten teilzunehmen.

… Schreibfreundinnen

Last but not least habe ich durch das (gemeinsame) Schreiben viele interessante Frauen kennengelernt. Danke an Annette, Brigitte, Cali, Elisabeth, Florence, Lore, Marlene, Sonja und all die anderen, die ich hier jetzt namentlich nicht nenne.

Ein langer Weg, wie’s weitergeht? Wer weiß?!

Wir sind bunt, wir sind viele

Als Friedrich Merz vor gut einem Jahr, am 22. Januar 2024, in Caren Miosgas Talksendung zu Gast war, begrüßte er laut Tagesschau.de ausdrücklich, dass „in ganz Deutschland … in den vergangenen Tagen Hunderttausende Menschen auf die Straße gegangen (waren), um gegen die AfD zu demonstrieren. Anlass waren die Enthüllungen über konspirative Treffen von AfD-Mitgliedern, bei denen Pläne besprochen wurden, Menschen mit Migrationshintergrund aus Deutschland auszuweisen.“

„Ich halte das für ein sehr, sehr ermutigendes Zeichen unserer lebendigen Demokratie‘“, wird Merz auf der Tagesschau-Website zitiert und weiter:  „Er sei kein ängstlicher Mensch, teile aber die Sorgen der Demonstranten“ – auch wenn er selbst nicht an den Demos teilnehmen konnte. Markus Söder habe in München mitdemonstriert.

13 Monate später beschimpfte Friedrich Merz bei einer Veranstaltung die Menschen, die „da draußen“ gegen rechts demonstrieren, als „grüne und linke Spinner“, die „nicht mehr alle Tassen im Schrank haben“, die „nicht klar denken können“ (#omasgegenrechts_hannover). Für sie – und also auch für mich – will er als Kanzler keine Politik machen. Denn auch ich gehöre zu den linken und grünen Spinnern.

Wirklich überrascht hat mich Friedrich Merz Sinneswandel nicht. Schließlich ist ja bekannt, wie schnell er das, was er einmal gesagt hat, vergisst. So schlug der CDU-Kanzlerkandidat laut Spiegel.de Grünen und SPD im November 2024 nach dem Bruch der Ampelkoalition vor: „‚Wir sollten vereinbaren, dass wir nur die Entscheidungen auf die Tagesordnung des Plenums setzen, über die wir uns zuvor mit Ihnen von der SPD und den Grünen in der Sache geeinigt haben.‘ So könne man ‚eine zufällige oder tatsächlich herbeigeführte Mehrheit‘ mit der AfD vermeiden. ‚Denn das hätten diese Damen und Herren von Rechtsaußen doch gern, dass sie plötzlich die Mehrheiten besorgen.‘“ Und noch am 11. Januar sagte Merz zur Zusammenarbeit mit der AfD: „‚Ich wiederhole es hier zum Mitschreiben. Eine Zusammenarbeit unter meiner Führung wird es mit der CDU in Deutschland nicht geben.‘“ und weiter: „‚Wir arbeiten nicht mit einer Partei zusammen, die ausländerfeindlich ist, die antisemitisch ist, die Rechtsradikale in ihren Reihen, die Kriminelle in ihren Reihen hält, eine Partei, die mit Russland liebäugelt und aus der Nato und der Europäischen Union austreten will.‘“  Doch schon 18 Tage nachdem er „das Aufrechterhalten der Brandmauer (…) zur Chefsache“ machte und sein „Schicksal als Parteivorsitzender der CDU an diese Antwort“ knüpfte, ließ er über seinen „5-Punkte-Plan“ zur Verschärfung der Migration abstimmen – und erreichte nur mit Stimmen der AfD eine knappe Mehrheit. Seine Aussage „Eine richtige Entscheidung wird nicht dadurch falsch, dass die Falschen zustimmen. Sie bleibt richtig“, lässt ahnen, wo er in Zukunft seine Mehrheiten suchen wird: nicht bei grünen und linken Spinnern, die es wagen, von ihrem Recht Gebrauch zu machen und friedlich zu demonstrieren  

An der Demonstration gegen den Rechtsruck beteiligten sich gestern in Hannover nach Polizeiangaben immerhin etwa 2.000 Menschen, die VeranstalterInnen, unter andererm Studis gegen rechts und Students for Future, zählten sogar 6.000 TeilnehmerInnen. Die Wahrheit liegt wahrscheinlich wie bei den meisten Demonstrationen irgendwo dazwischen. Auch wenn die Beteiligung diemal geringer war als noch vor zwei Wochen, sind wir keine kleine Minderheit. Ich weiß, dass viele meiner Bekannten meine politischen Ansichten und Ängste teilen, aber nur wenige gehen für ihre Überzeugung auf die Straße.

Für andere ist das Maß jetzt voll. Zum Beispiel für den Mann, der bei der Demo gestern zufällig eine Zeit lang neben mir ging. Als wir ein paar Minuten in der Nähe des AfD-Stands stoppen mussten, kamen wir, beide wohl über 60, ins Gespräch. Er sei lange CDU-Mitglied gewesen und dies sei seine erste Demo, erzählte er. Auf dem Weg zur Demo hatte uns ein junges Paar angesprochen, weil wir unsere Omas- und Opas-gegen-rechts-Westen trugen. Auch sie outeten sich als CDU-Mitglieder, fanden es aber gut, dass die Omas und Opas auf die Straße gehen.

Oma und Opa gegen rechts

Ihre beiden Kinder waren etwa so alt wie unsere Enkelkinder – und wenn ich gegen rechts demonstriere, tue ich es auch ihretwegen und für sie. Denn was soll ich ihnen sagen, wenn sie mich irgendwann fragen, wo ich war, was ich getan habe, als es angefangen hat. Als die Brandmauer gefallen ist, als CDU und FDP im Bundestag mit Hilfe der AfD die Migrationspolitik verschärfen wollten. Ich habe mich immer dafür geschämt, dass meine Onkel mitgemacht haben, als in der Pogromnacht 1938 Jüdinnen und Juden in ihrem/meinem Heimatort angegriffen, ihre Häuser zerstört wurden. Ich möchte nicht, dass meine Enkelkinder sich irgendwann für mich schämen müssen.

Ja, ich gebe zu, das Video, das ich gestern Abend auf dem Instagram-Kanal der #Omasgegenrechts gesehen habe, macht mir Angst. Angst vor dem, was auf uns zu kommt, wenn dieser Mann Bundeskanzler wird. Und ich fürchte, dass die Demonstration gestern nicht die letzte sein wird. Auch nach der Wahl werden wir „linken und grünen Spinner“ wohl wieder auf die Straße gehen und demonstrieren: gegen die sich ausbreitende Geschichtsdemenz in unserem Land, gegen rechtsextreme und gegen die, die mit ihnen gemeinsame Sache machen.

All die, die immer noch schweigen, möchte ich an Martin Niemöllers Aussage erinnern, die „viel zitiert, oft abgewandelt, manchmal missbraucht, immer noch aktuell“ ist:

Als die Nazis die Kommunisten holten,
habe ich geschwiegen,
ich war ja kein Kommunist.

Als sie die Sozialdemokraten einsperrten,
habe ich geschwiegen,
ich war ja kein Sozialdemokrat.

Als sie die Gewerkschafter holten,
habe ich geschwiegen,
ich war ja kein Gewerkschafter.

Als sie mich holten,
gab es keinen mehr,
der protestieren konnte.

Nachzulesen unter https://martin-niemoeller-stiftung.de/martin-niemoeller/als-die-nazis-die-kommunisten-holten