Top Ten aus zehn Jahren

Nach unseren liebsten Blogartikeln fragte Birgit Lorz in ihrer Blogparade – und nach den Gründen, warum du/oder Sie sie lesen sollten. Eigentlich wollte ich nur fünf Beiträge auswählen – doch beim Lesen haben sich dann noch ein paar andere aufgedrängt. Am Ende waren es dann zehn. Aber ich denke, das ist in Ordnungfür einen Blog, in dem ich seit zehn Jahren mehr oder weniger regelmäßig über das schreibe, was mich bewegt: über Bücher, Reisen, übers Schreiben und natürlich auch über mein Leben und über (gesellschafts)politische Ereignisse.  

Tag des Tagebuchs – in Memoriam Anne Frank

Ich liebe Bücher und ich lese viel. Aber kaum ein Buch hat mein Lesen, mein Schreiben und damit auch mein Leben so beeinflusst wie das Tagebuch der Anne Frank. Kurz nachdem ich es vor mehr als einem halben Jahrhundert zum ersten Mal gelesen hatte, fing ich an, selbst (Tagebuch) zu schreiben – und habe nie wieder damit aufgehört. Die Ausgabe, die ich mir Anfang der 70er-Jahre gekauft habe, steht noch heute in meinem Bücherregal – neben mehreren neueren Ausgaben und einem Graphic Diary. Und sie ist mir noch die liebste, auch wenn die Blätter inzwischen vergilbt und teilweise brüchig sind. Den Blogbeitrag habe ich am 12. Juni 2021 am Tag des Tagebuchs veröffentlicht, an Annes 92. Geburtstag.

Die Stadt der Tagebücher

Ich bin nicht nur eine notorische Tagebuchschreiberin, sondern ich lese auch gerne Tagebücher, die andere geschrieben haben. Seit ich Barbara Bronnens Buch „Die Stadt der Tagebücher. Vom Festhalten des Lebens durch das Schreiben“ gelesen habe, stand Pieve Santo Stefano auf meiner To-visit-Liste. Dort hat der italienische Journalist Saverio Tutino Anfang der 80er-Jahre das nationale Tagebucharchiv (Archivio Diaristico Nazionale) initiiert, in dem inzwischen mehrere tausend Tagebücher und andere zeitgeschichtliche Dokumente aufbewahrt werden. Im Frühjahr 2023 war ich endlich in der kleinen Stadt am Rande der Toskana, die im Zweiten Weltkrieg von deutschen Soldaten fast völlig zerstört wurde.

In Memoriam: Orlando Orlandi Posti

Bei meinem Besuch im Tagebuchmuseum, dem piccolo museo del diario, in Pieve Santo Stefano habe ich von Orlando Orlandi Postis Schicksal erfahren.  Der 17-Jährige wurde Anfang Februar 1944 von der SS verhaftet, als er seine Freunde vor einer geplanten Razzia der deutschen Besatzer warnen wollte. Während seiner fast zwei monatigen Gefangenschaft gelang es ihm, Briefe an seine Mutter zu schreiben und aus dem Gefängnis zu schmuggeln. Am 24. März 1944 wurden er und 334 andere Menschen in den Fosse Ardeatine von deutschen Soldaten ermordet. Das Buch mit Orlando Orlandi Postis Briefen und Tagebuchnotizen aus dem Gefängnis gibt es nur auf Italienisch – und meine Italienischkenntnisse reichen leider nicht aus, es zu lesen. Aber in meinem Blogbeitrag wollte ich an ihn und an das Massaker in den Ardeatinischen Höhlen erinnern, von dem die meisten Menschen in Deutschland wenig oder gar nichts wissen.

Ruth Maier: Das Leben könnte gut sein

Ruth Maier wurde nur 22 Jahre alt. Mit 18 floh sie vor den Nazis aus Wien ins scheinbar sichere Norwegen. Dort wurde sie am Morgen des 26. November 1942 bei einer Razzia in ihrem Wohnheim verhaftet, mit 531 jüdischen Frauen, Männern und Kindern nach Auschwitz deportiert und ermordet. Zehn Jahre lang schrieb Ruth Maier Tagebuch ­– über die Judenverfolgung und die Reichspogromnacht in ihrer Heimat Österreich ebenso wie über ihr Leben als Emigrantin in Norwegen. Ihre Tagebücher erinnern daran, wie wichtig es ist, Menschen, die vor Krieg und Verfolgung fliehen, Schutz zu gewähren.

Nie wieder ist jetzt

Am 9. November 2023, am 85. Jahrestag der Pogromnacht von 1938, stand ich mit knapp drei Dutzend meist älteren Frauen und Männern vor dem Holocaust Mahnmal auf dem Opernplatz in Hannover. Wir wollten ein Zeichen setzen – gegen den wachsenden Antisemitismus im Land und an die Opfer von Rassenhass und Antisemitismus erinnern – nicht nur in Nazi-Deutschland.

Auch in meinem Heimatort wurden in der Pogromnacht die Synagoge und die Wohnungen von Jüdinnen und Juden verwüstet. Auch meine drei Onkel, damals 19, 17 und 13 Jahre alt, machten mit. Zumindest der jüngste hatte eigentlich keine Chance, kein Nazi zu werden. Er war erst sieben, als Hitler an die Macht kam und die Indoktrination in der Schule, in Hitlerjugend und sicher auch in der Familie begann. Mit 18 starb er in der Normandie, kurz nach der Landung der Alliierten.

Heute sind in Deutschland Judenwitze, abfällige Bemerkungen, körperliche Angriffe oder Attentate auf jüdische Menschen und Einrichtungen leider wieder Alltag – und die Mehrheit schweigt, wie damals. Doch es ist Zeit, aufzustehen. Nie wieder ist jetzt.  

Kleiner Satz mit großen Folgen

An Elisabeth Selbert habe ich mit dem Blogbeitrag vom 23. Mai 2024, am 75- Jubiläum des Grundgesetzes, erinnert. Die Sozialdemokratin war eine von nur vier Müttern des Grundgesetzes. Vor allem ihr ist es zu verdanken, dass der Satz „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ ins Grundgesetz aufgenommen wurde – und das Leben nicht nur der Frauen veränderte.

Mit der Gleichberechtigung der Frauen hatten die meisten (männlichen) Mitglieder des Parlamentarischen Rats, der als verfassungsgebende Versammlung seit Herbst 1948 das Grundgesetz erarbeitete, wenig im Sinn. Elisabeth Selbert kämpfte dafür, dass Frauen nicht in staatsbürgerlichen Dingen, sondern auf allen Rechtsgebieten den Männern gleichgestellt wurden. Weil auf ihre Initiative eine Übergangsregelung im Grundgesetz festgeschrieben worden war, setzte das Bundesverfassungsgericht Ende 1953 die Gesetze außer Kraft, die dem Gleichberechtigungsgrundsatz nicht entsprachen. Erst am 1. Juli 1958 beendete das „Gesetz über die Gleichberechtigung von Mann und Frau auf dem Gebiet des bürgerlichen Rechts“ viele rechtliche Benachteiligungen von Frauen. Danke Elisabeth Selbert.

Wahl- und andere Frauenrechte

Im Februar 2016 habe ich über den Film „Suffragette – Taten statt Worte“ geschrieben und darüber, wie es auch in Deutschland noch in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhundert um die Rechte der Frauen bestellt war.  Bis 1958 durften Frauen nämlich ohne Zustimmung ihres Mannes nicht erwerbstätig sein. Der Mann entschied in allen Eheangelegenheiten; er bestimmte über die Kinder, das Geld und sogar über das Vermögen, das die Frau mit in die Ehe gebracht hatte. In einer Zeit, in der Tradewives Trend sind und junge Frauen wieder von der traditionellen Rollenverteilung träumen, ist es höchste Zeit, daran zu erinnern, wie rechtlos Frauen in den 50er Jahren waren.

Wenn Männer Frauen die Welt erklären

(Fast) alle Frauen haben es schon erlebt. Sie tun etwas – und werden ungefragt von einem Mann belehrt, wie es anders und natürlich besser geht. „Mansplaining“ heißt das Phänomen,  das sich aus den Worten Man (Mann) und explaining (erklären) zusammensetzt. Die amerikanische Schriftstellerin Rebecca Solnit hat das Wort zwar nicht erfunden, aber das Phänomen in ihrem Essay „Men Explain Things to Me“ – „Wenn Männer mir die Welt erklären“ eindrucksvoll beschrieben. Der Essay verbreitete sich rasant – und wurde erstmals 2014 auf Deutsch im gleichnamigen Buch veröffentlicht, das sechs weitere Essays von Rebecca Solnit enhält.

Aus Wien nach Hannover

Virginia Woolfs Aussage, dass Frauen ein eigenes Zimmer und ein eigenes Einkommen brauchen, um erfolgreich schreiben zu können, kennt wahrscheinlich jede schreibende Frau. Und auch ich möchte mein eigenes Zimmer natürlich nicht missen. Aber Alleinsein beim Schreiben tut vor allem Frauen offenbar nicht immer gut – ein Zimmer allein ist nicht genug. Wie inspirierend und motivierend es ist, gemeinsam mit anderen (Frauen) zu schreiben und sich auszutauschen, habe ich zum ersten Mal bei zwei Schreibtagen in Wien erlebt – und die Schreibtreff-Idee nach Hannover exportiert.

Seit 2020 schreiben interessierte Frauen einmal im Monat gemeinsam – jede an ihren eigenen Texten, ohne vorgegebenes Thema, ohne Anleitung. Anders als zu Hause lassen wir uns in dieser Schreibzeit nicht von Alltagsdingen ablenken, wir nehmen uns Zeit – für uns und unsere Schreiben. Und das ist für unsere Texte erfahrungsgemäß sehr ergiebig.

Neues Orchideenleben

Dieser Beitrag passt nicht so recht zu den anderen, die ich ausgewählt habe. Aber ich mag ihn,  so, wie ich die Orchidee mag, die vor fast sechs Jahren auf meiner Fensterbank ein neues Zuhause gefunden hat. Wie es dazu kam, verrate ich in diesem ziemlich privaten Blogpost, den einige LeserInnen berührend fanden, andere kitschig und sentimental. Aber manchmal darf es eben auch sentimental sein.

Ruth Maier: Das Leben könnte gut sein

Der 12. Juni ist der Tag des Tagebuchs. Denn am 12. Juni 1942, an ihrem 13. Geburtstag, schrieb Anne Frank zum ersten Mal in das Tagebuch, das sie weltberühmt machen sollte. Anne Franks Tagebuch begleitet mich seit mehr als 50 Jahren. Von den Tagebüchern Ruth Maiers habe ich im Mai bei meinem Besuch im Holocaust Zentrum in Oslo zum ersten Mal gehört – und sie jetzt gelesen.

Ruth Maier, im November 1920 in Wien geboren, begann bereits mit zwölf Jahren, im Mai 1933, Tagebuch zu schreiben.  Die letzten Einträge – mehrere literarische Versuche – verfasste sie am 12. November 1942, zwei Tage nach ihrem 22. Geburtstag. Ob sie danach ein neues Tagebuch begonnen hat, ist unbekannt. Denn Ruth Maier wurde bei einer Razzia am Morgen des 26. November in ihrem Wohnheim in Oslo verhaftet und anschließend mit 531 jüdischen Frauen, Männern und Kindern nach Auschwitz deportiert. Die meisten wurden als „nicht arbeitsfähig“ eingestuft und direkt nach ihrer Ankunft ermordet. Von den 186 arbeitsfähigen Männern überlebten nur neun das Vernichtungslager.

Fast zehn Jahre führte Ruth Maier Tagebuch. Acht Hefte aus den Jahren 1933 bis 1942 sind überliefert, andere sind verloren gegangen. Die norwegischen Tagebücher wurden – ebenso wie Briefe und Zeichnungen – von Ruths Freundin Gunvor Hofmo aufbewahrt. Deren Versuch, in den 50er-Jahren einen Verlag zu finden, der die Tagebücher veröffentlichte, scheiterte.

Die Originale der Tagebücher befinden sich im Holocaus-Zentrum in Oslo

Erst nach Gunvor Hofmos Tod entdeckte der norwegische Schriftsteller Jan Erik Vold die Aufzeichnungen im Nachlass seiner Kollegin. Er setzte sich mit Ruth Maiers in England lebender Schwester in Verbindung und veröffentlichte Tagebücher und Briefe im Jahr 2007. Die deutsche Ausgabe erschien 2008 unter dem Titel „Das Leben könnte gut sein. Tagebücher 1933 bis 1942“ in der Deutschen Verlagsanstalt*. Zurzeit ist das Buch jedoch leider vergriffen.

Die deutsche Ausgabe der Tagebücher ist leider zurzeit nur antiquarisch erhältlich.

Wirklich gut war Ruth Maiers Leben eigentlich nur bis zur Annexion Österreichs durch Nazi-Deutschland: Sie ging zur Schule und verreiste in den Ferien häufig.  Sie interessierte sich für Politik, las schon als Teenager, der damals noch Backfisch hieß, viel, ging gerne ins Theater und träumte davon, Schauspielerin oder Schriftstellerin zu werden. Einige ihrer frühen literarischen Versuche sind in den Tagebüchern überliefert.

Ab Frühjahr 1938 änderte sich das Leben der Jüdinnen und Juden in Österreich radikal: Ruth und ihre jüngere Schwester Judith mussten die Schule wechseln und ein jüdisches Gymnasium besuchen. Weil sie nicht arisch war, wurde  der Familie die Wohnung gekündigt. „Die Juden wurden von ihrer bis dahin wenn auch nicht gleichberechtigten, so doch menschenmöglichen Stellung zu Unmenschen, Schweinen etc. degradiert“ schrieb Ruth am 27. September (S.130). Und am 10. Oktober heißt es: „Sie prügeln die Juden und wollen sie an Laternen aufhängen. … Weil ich Jüdin bin, wollen sie mich morden.“ (139f) Ihr 18. Geburtstag am 10. November 1938 „war der schrecklichste Tag, den ich je erlebt habe. Jetzt weiß ich, was Progrome sind, weiß, was Menschen tun können. Menschen, die Ebenbilder Gottes.“ (147)

Im Dezember floh Ruths Schwester Judith mit einem der ersten Kindertransporte nach England; ihrer Mutter und Großmutter gelang 1939 die Flucht auf die Insel. Ruth entschied sich gegen England für Norwegen – auch weil sie dort das Abitur machen wollte. Ein Bekannter ihres verstorbenen Vaters nahm sie auf und bürgte für sie. In seiner Familie lebte Ruth bis kurz vor ihrer Deportation.

Leicht war das Leben der jungen Emigrantin in Norwegen nicht: Auf sich allein gestellt, fühlte sie sich oft einsam und sehnte sich nach ihrer Familie in England. Mit ihrer norwegischen Gastfamilie gab es im Laufe der Zeit immer größere Spannungen. Und auch „die Atmosphäre in der Schule ist … milde ausgedrückt … scheußlich“ (259). So schrieb ein Mitschüler auf seinen Tisch, an dem Ruth im Lateinunterricht saß: „Juden hier unerwünscht.“ (276). Doch insgesamt begegnete ihr Judenhass in Norwegen „bis jetzt in minimalem Maßstab“ (248).

Auch nach dem bestandenen Abitur blieb Ruths Zukunft ungewiss. Sie durfte offiziell nicht arbeiten und hatte Geldsorgen. Und nachdem die deutsche Wehrmacht Norwegen besetzt hatte, war eine Ausreise nach England nicht mehr möglich. Auch der zuvor sehr intensive Briefwechsel mit ihrer Schwester brach ab.

Ein Lichtblick war die Freundschaft mit der späteren Lyrikerin Gunvor Hofmo, die sie 1940 Freiwiligen Arbeitsdienst kennenlernte. Die beiden jungen Frauen fühlten sich seelenverwandt, auch wenn ihre Beziehung nicht immer einfach war. „Ohne Gunvor würde ich das Leben gar nicht aushalten. Mir ist so, als binde sie mich ans Dasein. Wenn ich sie mir fortdenke, ist alles grau, und ich bekomme Angst“, so der Tagbebucheintrag vom 9. März 1941.

Gemeinsam mussten Ruth und Gunvor im Juni 1941 das Lager des Freiwilligen Arbeitsdienstes verlassen: „Es wurde uns vorgehalten, dass wir aufrührerisch seien, ja, auf meine ‚Rassenangehörigkeit‘ wurde angespielt, auf Gunvors politische Anschauung, auf unsere Diskussionen etc.“ 439. 

Zurück in Oslo, verdiente Ruth ihr Geld auch als Aktmodell – unter anderem für den berühmten Bildhauer Gustav Vigeland. „Daneben nähre ich einen kleinen unschuldigen Traum: Malerin werden“, schrieb sie am 14. März 1942. Obwohl sie Zeichenunterricht an der Kunst- und Handwerksschule nahm, sollte ihr Traum sollte nicht in Erfüllung gehen.

Denn am 26. November Ruth in ihrem Wohnheim verhaftet. Als eine ihrer Mitbewohnerinnen versprach, die goldene Armbanduhr für sie aufzubewahren, antwortete sie nach Auskunft einer Augenzeugin: „Ich werde nie zurückkommen.“ (525)

Seit 2010 erinnert laut Wikipedia ein Stolperstein vor der ehemaligen Pension für junge Frauen und Mädchen an  Ruth Maier, auch ein Platz in Oslo wurde nach ihr benannt. Ihre Tagebücher dienten als Vorlagen für ein Theaterstück, eine Oper und ein Musical. Und das Ruth Maier Archiv mit den Tagebüchern, Briefen, Aquarellen, Zeichnungen und anderen Dokumenten ist seit 2014 Weltdokumentenerbes der UNESCO. Wenn ich das nächste mal in Oslo bin, werde ich mir die Originale im Zentrum für Holocaust- und Minderheitenstudien (HL-senteret) ansehen. Außerdem werde ich noch einmal in den Vigelandpark gehen und doch nach der Plastik „überrascht Ausschau halten, für die Ruth Maier Modell gestanden hat

*Dieser Beitrag enthält unbezahlte Weerbung. Die Seitenzahlen beziehen sich auf die von Jan Erik Vold herausgegebene 1. Ausgabe der Tagebücher, Deutsche Verlags-Anstalt, München 2008


Wir sind bunt, wir sind viele

Als Friedrich Merz vor gut einem Jahr, am 22. Januar 2024, in Caren Miosgas Talksendung zu Gast war, begrüßte er laut Tagesschau.de ausdrücklich, dass „in ganz Deutschland … in den vergangenen Tagen Hunderttausende Menschen auf die Straße gegangen (waren), um gegen die AfD zu demonstrieren. Anlass waren die Enthüllungen über konspirative Treffen von AfD-Mitgliedern, bei denen Pläne besprochen wurden, Menschen mit Migrationshintergrund aus Deutschland auszuweisen.“

„Ich halte das für ein sehr, sehr ermutigendes Zeichen unserer lebendigen Demokratie‘“, wird Merz auf der Tagesschau-Website zitiert und weiter:  „Er sei kein ängstlicher Mensch, teile aber die Sorgen der Demonstranten“ – auch wenn er selbst nicht an den Demos teilnehmen konnte. Markus Söder habe in München mitdemonstriert.

13 Monate später beschimpfte Friedrich Merz bei einer Veranstaltung die Menschen, die „da draußen“ gegen rechts demonstrieren, als „grüne und linke Spinner“, die „nicht mehr alle Tassen im Schrank haben“, die „nicht klar denken können“ (#omasgegenrechts_hannover). Für sie – und also auch für mich – will er als Kanzler keine Politik machen. Denn auch ich gehöre zu den linken und grünen Spinnern.

Wirklich überrascht hat mich Friedrich Merz Sinneswandel nicht. Schließlich ist ja bekannt, wie schnell er das, was er einmal gesagt hat, vergisst. So schlug der CDU-Kanzlerkandidat laut Spiegel.de Grünen und SPD im November 2024 nach dem Bruch der Ampelkoalition vor: „‚Wir sollten vereinbaren, dass wir nur die Entscheidungen auf die Tagesordnung des Plenums setzen, über die wir uns zuvor mit Ihnen von der SPD und den Grünen in der Sache geeinigt haben.‘ So könne man ‚eine zufällige oder tatsächlich herbeigeführte Mehrheit‘ mit der AfD vermeiden. ‚Denn das hätten diese Damen und Herren von Rechtsaußen doch gern, dass sie plötzlich die Mehrheiten besorgen.‘“ Und noch am 11. Januar sagte Merz zur Zusammenarbeit mit der AfD: „‚Ich wiederhole es hier zum Mitschreiben. Eine Zusammenarbeit unter meiner Führung wird es mit der CDU in Deutschland nicht geben.‘“ und weiter: „‚Wir arbeiten nicht mit einer Partei zusammen, die ausländerfeindlich ist, die antisemitisch ist, die Rechtsradikale in ihren Reihen, die Kriminelle in ihren Reihen hält, eine Partei, die mit Russland liebäugelt und aus der Nato und der Europäischen Union austreten will.‘“  Doch schon 18 Tage nachdem er „das Aufrechterhalten der Brandmauer (…) zur Chefsache“ machte und sein „Schicksal als Parteivorsitzender der CDU an diese Antwort“ knüpfte, ließ er über seinen „5-Punkte-Plan“ zur Verschärfung der Migration abstimmen – und erreichte nur mit Stimmen der AfD eine knappe Mehrheit. Seine Aussage „Eine richtige Entscheidung wird nicht dadurch falsch, dass die Falschen zustimmen. Sie bleibt richtig“, lässt ahnen, wo er in Zukunft seine Mehrheiten suchen wird: nicht bei grünen und linken Spinnern, die es wagen, von ihrem Recht Gebrauch zu machen und friedlich zu demonstrieren  

An der Demonstration gegen den Rechtsruck beteiligten sich gestern in Hannover nach Polizeiangaben immerhin etwa 2.000 Menschen, die VeranstalterInnen, unter andererm Studis gegen rechts und Students for Future, zählten sogar 6.000 TeilnehmerInnen. Die Wahrheit liegt wahrscheinlich wie bei den meisten Demonstrationen irgendwo dazwischen. Auch wenn die Beteiligung diemal geringer war als noch vor zwei Wochen, sind wir keine kleine Minderheit. Ich weiß, dass viele meiner Bekannten meine politischen Ansichten und Ängste teilen, aber nur wenige gehen für ihre Überzeugung auf die Straße.

Für andere ist das Maß jetzt voll. Zum Beispiel für den Mann, der bei der Demo gestern zufällig eine Zeit lang neben mir ging. Als wir ein paar Minuten in der Nähe des AfD-Stands stoppen mussten, kamen wir, beide wohl über 60, ins Gespräch. Er sei lange CDU-Mitglied gewesen und dies sei seine erste Demo, erzählte er. Auf dem Weg zur Demo hatte uns ein junges Paar angesprochen, weil wir unsere Omas- und Opas-gegen-rechts-Westen trugen. Auch sie outeten sich als CDU-Mitglieder, fanden es aber gut, dass die Omas und Opas auf die Straße gehen.

Oma und Opa gegen rechts

Ihre beiden Kinder waren etwa so alt wie unsere Enkelkinder – und wenn ich gegen rechts demonstriere, tue ich es auch ihretwegen und für sie. Denn was soll ich ihnen sagen, wenn sie mich irgendwann fragen, wo ich war, was ich getan habe, als es angefangen hat. Als die Brandmauer gefallen ist, als CDU und FDP im Bundestag mit Hilfe der AfD die Migrationspolitik verschärfen wollten. Ich habe mich immer dafür geschämt, dass meine Onkel mitgemacht haben, als in der Pogromnacht 1938 Jüdinnen und Juden in ihrem/meinem Heimatort angegriffen, ihre Häuser zerstört wurden. Ich möchte nicht, dass meine Enkelkinder sich irgendwann für mich schämen müssen.

Ja, ich gebe zu, das Video, das ich gestern Abend auf dem Instagram-Kanal der #Omasgegenrechts gesehen habe, macht mir Angst. Angst vor dem, was auf uns zu kommt, wenn dieser Mann Bundeskanzler wird. Und ich fürchte, dass die Demonstration gestern nicht die letzte sein wird. Auch nach der Wahl werden wir „linken und grünen Spinner“ wohl wieder auf die Straße gehen und demonstrieren: gegen die sich ausbreitende Geschichtsdemenz in unserem Land, gegen rechtsextreme und gegen die, die mit ihnen gemeinsame Sache machen.

All die, die immer noch schweigen, möchte ich an Martin Niemöllers Aussage erinnern, die „viel zitiert, oft abgewandelt, manchmal missbraucht, immer noch aktuell“ ist:

Als die Nazis die Kommunisten holten,
habe ich geschwiegen,
ich war ja kein Kommunist.

Als sie die Sozialdemokraten einsperrten,
habe ich geschwiegen,
ich war ja kein Sozialdemokrat.

Als sie die Gewerkschafter holten,
habe ich geschwiegen,
ich war ja kein Gewerkschafter.

Als sie mich holten,
gab es keinen mehr,
der protestieren konnte.

Nachzulesen unter https://martin-niemoeller-stiftung.de/martin-niemoeller/als-die-nazis-die-kommunisten-holten

Beeindruckende Ausstellung

Nein, selbst hätte ich mir die Museumscard Hannover diesmal nicht gekauft, oder zumindest nicht zu diesem Zeitpunkt. Denn erstens stimmt meiner Meinung nach das Preis-Leistungsverhältnis nicht, wenn man sie zum Beispiel mit dem Museums-PASS-Musées vergleicht . Mit dem Museums-PASS-Musées kann ich in diesem Jahr mehr als 360 Museen, Schlösser und Gärten sowie über tausend Wechselausstellungen besuchen (https://www.museumspass.com/de) , mit der hannoverschen Museumscard gerade mal 10 (in Worten zehn) (https://www.hannover.de/Kultur-Freizeit/Museen-Ausstellungen/Museumsführer/MuseumsCard). Und wenn ich „bis zu drei Kindern bis zum vollendeten 17. Lebensjahr mit in die Museen“ nehmen möchte, muss ich für acht Euro die „Zusatzoption Familie“ für acht Euro buchen. Im Museums-PASS-Musées ist für 123 Euro der Eintritt zusätzlich für fünf Kinder unter 18 Jahren frei. So geht familienfreundlich und so begeistert man Kinder für Kunst und Geschichte.

Mehr noch als das Preis-Leistungsverhältnis stört mich (zweitens) der Provinzialismus der niedersächsischen Karte: Seit vergangenem Jahr ist auch ein Museum außerhalb Hannovers dabei: das Roemer- und Pelizaeus-Museum in der Nachbarstadt Hildesheim. Museen in Braunschweig, Celle oder anderen niedersächsischen Städten: Fehlanzeige. Beim Museums-PASS-Musées kooperieren Museen aus drei Ländern – aus Deutschland, der Schweiz und Frankreich, in Deutschland machen Museen aus zwei Bundesländern, aus Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz, mit. Und während der Museums-PASS-Musées automatisch beim ersten Besuch aktiviert wird und dann ein Jahr lang gilt, muss der Beginn bei der Museumscard Hannover exakt festgelegt werden. Immerhin darf das Ausstellungsdatum „bis zu drei Monaten nach dem Datum des Kaufs liegen“. Bravo. Da haben die Verantwortlichen wohl noch nicht gemerkt, dass das digitale Zeitalter schon begonnen hat.

Dass eines der zehn Museen, das Historische Museum Hannover, wegen Umbaus noch das ganze Jahr geschlossen ist und im Hannover Kiosk nur eine Art Notprogramm bietet, stört mich weniger. Denn die Prunkkutschen der hannoverschen Herrscher, die dort unter anderem gezeigt wurden, sind ohnehin nicht mein Ding. Ärgerlicher finde ich, dass auch das Museum August Kestner und das Museum Schloss Herrenhausen erst wieder im Frühjahr öffnen. Allein aus diesem Grund hätte ich mir die Museumscard jetzt noch nicht gekauft. Aber darüber, dass mein Mann sie mir geschenkt hat und ich jetzt die Museen ein ganzes Jahr lang besuchen kann, habe ich mich sehr gefreut (Danke nochmal). Und auch den Starttermin hat er perfekt gewählt.

Kz überlebt

Zum Glück bin ich gleich am ersten Gültigkeitstag ins Landesmuseum. Denn sonst hätte ich die Sonderausstellung „KZ überleb“t verpasst, die am nächsten Tag zu Ende ging. Seit 2013 wurde die Wanderausstellung laut Pressemitteilung des Museums an über 20 Stationen in Deutschland, Österreich, Polen und Tschechien gezeigt und von rund 130.000 Menschen besucht (https://www.landesmuseum-hannover.de/wp-content/uploads/pressemitteilung-kz-uberlebt-portrats-von-stefan-hanke.pdf). Ich bin auf jeden Fall froh, dass ich sie noch gesehen habe.

Never forget: Orte des Grauens. Nie wieder ist jetzt!

Von 2004 bis 2014 hat der Regensburger Fotograf Stefan Hanke in sieben europäischen Ländern 121 Überlebende nationalsozialistischer Konzentrations- und Vernichtungslager besucht und in ihrem Lebensumfeld oder an Orten ihres Leidens fotografiert. 72 der eindrucksvollen Schwarz-Weiß Porträts waren in der gemeinsamen Ausstellung des Landesmuseums und der Villa Seligmann zu sehen. Kurze Texte und Zitate informierten über das unermessliche Leid, das ihnen angetan wurde, und über ihre persönlichen Lebenswege. Die Bilder geben den Opfern ein Gesicht und „ermöglichen einen besonderen Zugang in die Geschichte(n) rund um eine der größten Katastrophen der Menschheit“.

Beeindruckend war auch die virtuelle Begegnung mit NS-ZeitzeugInnen im Rahmen des Projekts „in Echt“, das von der Brandenburgischen Gesellschaft für Kultur und Geschichte gGmbH (BKG) konzipiert und in Kooperation mit der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf realisiert wurde.

In einem Raum der Ausstellung konnte ich, ausgestattet mit VR Brille und Kopfhörern, fünf Menschen zuhören und zuschauen, die die NS-Konzentrationslager als Kinder und Jugendliche überlebt haben. Charlotte Knobloch, Inge Auerbach, Ruth Winkelmann, Leon Weintraub und Kurt Hillmann erzählen seit Jahren zum Beispiel in Schulen, was sie erlebt haben und engagieren sich so gegen das Vergessen. Doch die jüngsten ZeitzeugInnen sind inzwischen über 80 Jahre alt, manche, wie Margot Friedländer, sogar älter 100. Wie lange sie noch ihre Erfahrungen an die jungen Menschen weitergeben können, ist ungewiss. Die interaktive Ausstellung „zeigt einen möglichen Weg, wie virtuelle Zeitzeug*innengespräche die Erzählungen der Überlebenden bewahren und die Lücke füllen können, wenn es keine Zeitzeug*innen mehr gibt“. (https://www.landesmuseum-hannover.de/presse/). Dies ist in einer Zeit, in der die „in Teilen gesichert rechtsextremistische“ AfD bei der Wahl zum Bundestag die zweitstärkste Partei zu werden droht, wichtiger denn je.

Die Porträts von Stefan Hanke sind auch im Ausstellungskatalog* abgedruckt, der für 39,80 Euro im Shop des Landesmuseums und in der Villa Seligmanngekauft werden kann.

*Dieser Beitrag enthält unbezahlte Werbung

Monatsrückblick Januar 2025

Jetzt ist der Januar zu Ende und wirklich traurig bin ich darüber nicht. Denn der erste Monat des Jahres ist nicht mein Lieblingsmonat. Die Weihnachtszeit ist vorbei, die dunkle Jahreszeit leider noch lange nicht. Erst Ende Januar werden die Tage wieder länger.

Dunkle Zeiten

Politisch stehen uns noch länger dunkle Zeiten bevor. Am 20. Januar mittags um 12 Uhr hat Donald Trumps zweite Amtszeit als amerikanischer Präsident begonnen. Und Trump hat direkt zu Beginn einige seiner Drohungen wahrgemacht: So hat er die Straftäter begnadigt, die vor vier Jahren das Kapitol erstürmten; die USA sind aus dem  Pariser Klimaabkommen und aus der WHO ausgestiegen. Und weil Trump im wahrsten Sinne des Wortes  Amerika größer machen will, erhebt er Ansprüche auf Grönland, Panama und auf Teile Kanadas. Wenn das auch hoffentlich (Alp)Träume bleiben, ermutigt er durch sein Verhalten doch all die Autokraten, die begehrliche Blicke auf ihre kleinen Nachbarn werfen. Wild West statt Völkerrecht.

Inzwischen ist die Liste der unsäglichen Trump-Entscheidungen noch länger geworden, und ich fürchte mich vor dem, was in den nächsten 1.441 Tagen noch auf uns zukommt. Denn Trumps Amtszeit endet erst in drei Jahren, elf Monaten und elf Tagen. Erst am 20. Januar 2029 wird laut US-Verfassung der neue amerikanische Präsident vereidigt. Wenn Trump sie und demokratische Wahlen bis dahin nicht abgeschafft hat. God bless nicht nur America.

Nie wieder ist jetzt

Leider müssen wir nicht in die Ferne schweifen, das Schlechte liegt manchmal so nah. Im deutschen Bundestag haben CDU und FDP ein Tabu gebrochen und sich erstmals mithilfe der AFD eine Mehrheit verschafft. Dabei haben sie die Unterstützung der „in Teilen gesichert rechtsextremistischen“ Partei nicht nur in Kauf genommen, sondern gesucht. Zwar ist zumindest der Versuch, ein Gesetz mithilfe der AfD auf den Weg zu bringen, gescheitert. Doch das Vorgehen von Merz und Co zeigt, wie brüchig die viel beschworene „Brandmauer“ ist, wie wenig man dem Versprechen vertrauen kann, dass die CDU nach der Wahl nicht mit der AfD zusammenarbeiten wird. Dass eine richtige Entscheidung nicht dadurch falsch wird, dass die Falschen zustimmen, hat der CDU-Kanzlerkandidat mehrmals betont. Das bedeutet doch im Prinzip: Wenn Merz nur mit AfD-Unterstützung Kanzler werden kann, ist das für ihn in Ordnung, weil seine Wahl ja seiner Meinung nach die richtige Entscheidung ist. Hauptsache an die Macht, koste es, was es wolle.

Ich gebe zu: Ich habe Angst, Angst um unsere Demokratie und vor der Gesellschaft, die uns droht, wenn die AfD an die Macht kommt. In Zeiten wie diesen, genügt es nicht mehr, gegen rechts zu sein, frau muss es auch zeigen. Das habe ich – zum Glück mit vielen anderen – im Januar immer wieder getan: bei Demonstrationen in Eschede und in Hannover, bei Mahnwachen vor der Synagoge oder am Stand der Omas gegen rechts in Burgwedel.

Jahresmotto

Viele der BloggerInnen, deren Blogbeiträge ich regelmäßig lese, habe für sich ein Jahresmotto gesucht und gefunden. Ein Jahresmotto ist, so sagen ExpertInnen, sinnvoller und intensiver als gute Vorsätze, die im Alltag oft schnell in Vergessenheit geraten. Zumindest Letzteres kann ich leider bestätigen. Einige meiner guten Vorsätze haben den Januar nicht überlebt.

Kurz soll ein Jahresmotto sein, prägnant, es soll Emotionen wecken und mich an das erinnern, was mir wichtig ist. Weil ich mich ein bisschen schwer damit tue, mich auf ein Motto für das ganze Jahr festzulegen, versuche ich es zuerst einmal mit einem Drei-Monats-Motto. Denn was für Ziele gilt, gilt vielleicht auf für Mottos. Wer für kürzere Zeiträume plant, verliert das Ziel nicht so schnell aus den Augen – und man verschiebt Dinge im besten Fall nicht auf den nächsten oder übernächsten Monat oder auf den Sankt Nimmerleinstag   (https://timetoflyblog.com/monatsrueckblick-oktober-2023). „Just do it“ stand ebenso auf meiner Liste wie Hannah Arendts Wahlspruch „Ich will verstehen“ oder „Mein Leben soll bunter werden“. Letztlich habe ich mich dann für „Mehr Leichtigkeit durch Ordnung und Struktur“ entschieden, ein Motto, zu dem mich auch Wolfgang Herrndorfs Buch Arbeit und Struktur animiert hat (https://timetoflyblog.com/gelesene-buecher-2024). Im Januar ist es mir nicht sonderlich gut gelungen, mein Motto umzusetzen, aber was im ersten Monat nicht war, kann ja im zweiten werden . Vielleicht hilft es ja, dem Rat von Judith Peters zu folgen und „jeden Tag zumindest eine Minute etwas (zu tun), was auf Dein Jahres-Motto ‚einzahlt‘“ (https://judithpeters.de/mein-motto-fur-2025-radikal-ich/).

Viel unterwegs

Dass mancher gute Vorsatz auf der Strecke geblieben ist, lag vielleicht auch daran, dass ich im Januar viel unterwegs war: Zweimal zum Wandern im Harz, dreimal in Hamburg (zu den Enkelkindern und zu einem Essayworkshop), in Eschede, um nach den Rechten zu sehen, die dort auf einem ehemaligen Bauernhof ihr Unwesen treiben – und mindestens ein halbes Dutzend mal in Hannover. Keine Frage: Das Deutschlandticket rechnet sich für mich trotz der Preiserhöhung. Denn ohne das Ticket würde ich sicher nicht so viel reisen – es verschafft mir ein Stück (Reise-)Freiheit. Und die werde ich mir auch im Februar nehmen.


Auf nach Thüringen

Ich gebe zu: Die gar nicht mehr so neuen Bundesländer sind für mich immer noch weitgehend Terra incognita. Natürlich war ich in den vergangenen 35 Jahren schon an manchen Orten, am häufigsten an der Ostsee, auf dem Darß und auf Usedom. Ich bin im Elbsandsteingebirge und vor allem im Harz gewandert. Ich war in Dresden, Leipzig und in Potsdam. Mein Besuch in Weimar war bislang der einzige im „Freistaat Thüringen“, obwohl geschichtsträchtige Städte wie Gotha, Mühlhausen, Erfurt oder Eisenach quasi direkt vor der Haustür liegen und mit dem Nahverkehrszug und mit dem 49-Euro-Ticket recht gut zu erreichen sind. Also auf nach Thüringen, solange es noch geht. Solange es das Deutschlandticket noch gibt und die AfD in Thüringen noch nicht an der Macht ist.

Noch ist Thüringen nicht verloren. Statement am Rathaus in Mühlhausen

Ob Gotha oder Erfurt hatte ich noch nicht entschieden, als ich morgens in den Zug stieg. Beide sollen zu den schönsten Städten Thüringens zählen. Doch weil mir der Sinn eher nach beschaulicher Residenz- als nach lebhafter Landeshauptstadt stand, bin ich in Gotha ausgestiegen. Auch dass dort in der Gaststätte Tivoli im Jahr 1875 die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (SAP), die heutige SPD, gegründet wurde, sprach für die Stadt.

Hoch über der Altstadt thront Schloss Friedenstein, laut Wikipedia der größte frühbarocke Feudalbau in Deutschland. Herzog Ernst I. von Sachsen-Gotha, genannt „Ernst der Fromme“ ließ das Schloss ab 1643 bauen, weil „sich in der Stadt keine geeignete Residenz befand“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Schloss_Friedenstein). Und weil der Herzog offenbar ein früher Fan des Homeoffice war, entstanden im Schloss nicht nur Wohn- und Repräsentationsräume, sondern auch Verwaltungs- und Wirtschaftsräume, Zeughaus, Kirche und Münzstätte. Sein Nachfolger Herzog Friedrich I. von Sachsen-Gotha-Altenburg funktionierte den Ballsaal des Schlosses dann zu einem Theater um (https://de.wikipedia.org/wiki/Ekhof-Theater).

Die Herzöge waren offenbar sehr an Kunst und (Natur)Wissenschaften interessiert. Herzog. Ernst II. Ludwig von Sachsen-Gotha-Altenburg zahlte Ende des 18. Jahrhunderts den Schauspielern seines Theaters nicht nur ein festes Gehalt, sondern richtete sogar eine Pensionskasse für sie ein. Weitere hundert Jahre später waren dann die diversen herzoglichen Sammlungen so groß, dass ein anderer Ernst, nämlich Herzog Ernst II. von Sachsen-Coburg und Gotha, ein Museum bauen ließ, das am Wochenende alle besuchen konnten, ohne Eintritt bezahlen zu müssen (https://de.wikipedia.org/wiki/Herzogliches_Museum_Gotha).

Ich habe zugegebenerweise weder Museum noch Theater  noch Schloss besichtigt, sondern bin direkt in Richtung Altstadt gegangen und habe die Wasserkunst bewundert. Die 1895 eingeweihte Wasserspiel- und Brunnenanlage verbindet Schloss und Marktplatz und ist nicht nur eine der Haupt-Sehenswürdigkeiten Gothas, sondern Teil eines ausgeklügelten Wasserversorgungssystems.

Weil es in Gotha keinen Fluss gibt und Brunnen schon im Mittelalter nicht mehr ausreichten, um den Wasserbedarf zu decken, ließ Landgraf Balthasar in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts den Leinakanal bauen. Durch ihn wurde das Wasser aus dem Thüringer Wald in die Stadt geleitet und mit einem hölzernen Pumpwerk bis aufs Schloss gepumpt.

Von der Wasserkunst hat man einen schönen Blick auf den Marktplatz und das Alte Rathaus, noch besser ist der Ausblick vom Rathausturm über die Stadt und die Umgebung.

Wieder zurück auf dem Boden, bin ich durch die Altstadt mit vielen hübsch restaurierten Häusern spaziert – und natürlich durch den Schlosspark und die Orangerie. Die spätbarocke Orangerie, die größte Thüringens, wurde im 18. Jahrhundert angelegt, um exotische Pflanzen zu sammeln, zu züchten und zu zeigen. Über 600 Orangen-, 300 Lorbeer- und fast ebenso viele Zitronenbäume standen damals dort (https://de.wikipedia.org/wiki/Orangerie_Gotha). Anfang des 20. Jahrhunderts wurde die Orangerie aufgegeben, jetzt wird der Bestand an Kübelpflanzen schrittweise wieder aufgebaut. Ich bin gespannt.

Auf der Rückfahrt habe ich dann in Mühlhausen Station gemacht. Irgendwie war der Stopp in der Stadt, die bis 1991 auch Thomas-Müntzer-Stadt hieß, auch ein Abstecher in die Vergangenheit. Denn im Studium habe ich mich intensiv mit dem Reformator Thomas Müntzer beschäftigt, der sich, anders als Martin Luther, nicht auf die Seite der Obrigkeit stellte, sondern den Kampf der Bauern um Freiheit und soziale Gerechtigkeit unterstützte. Als Prediger in der Marienkirche machten er und sein Mitstreiter Heinrich Pfeiffer Mühlhausen zum Zentrum der radikalreformatorischen Bewegung. Für sein Engagement zahlt Müntzer einen hohen Preis: Er wurde bei der Schlacht von Frankenhausen gefangen, gefoltert und in Mühlhausen hingerichtet.

Natürlich habe ich die Thomas-Müntzer-Gedenkstätte in der Marienkirche besucht und das Bauernkriegsmuseum in der Kornmarktkirche. St. Crucis ist übrigens nur eine von insgesamt zwölf mittelalterlichen Kirchbauten in Mühlhausen. Mit dem Bau der Kornmarktkirche wurde 13. Jahrhundert begonnen. Fast ebenso alt ist die dritte Kirche, die ich in Mühlhausen besucht habe: In der Divi-Blasii-Kirche arbeitete Johann Sebastian Bach, einer meiner Lieblingskomponisten, von Juli 1707 bis Juli 1708 als Organist.  Bis zum 20. September ist dort übrigens eine Ausstellung über die Synagogen in Thüringen zu sehen, die am 9. November 1938 von den Nazis zerstört wurden. Bilder des Fotografen Jan Kobel zeigen, wo die 32 Synagogen standen und wie die Grundstücke heute genutzt werden. Texte von Judith Rüber informieren über die Bedeutung jüdischen Lebens in Thüringen. Auch – aber nicht nur deshalb – hat sich der Besuch der Thomas-Müntzer-Stadt gelohnt.


Kleiner Satz mit großen Folgen

Happy Birthday Grundgesetz. Heute vor 75 Jahren, am 23. Mai 1949, trat das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland in Kraft. Es hat Vorrang vor allen anderen deutschen Gesetzen, die mit dem Grundgesetz übereinstimmen müssen.

Was als Provisorium bis zur Wiedervereinigung gedacht war und deshalb nicht Verfassung genannt wurde, hat sich ein dreiviertel Jahrhundert lang bewährt. Das Jubiläum ist für mich ein Anlass, an Elisabeth Selbert zu erinnern*. Vor allem ihr ist es zu verdanken, dass der Satz „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ ins Grundgesetz aufgenommen wurde – und das Leben nicht nur der Frauen veränderte.

Denn was heute zumindest de iure selbstverständlich ist, war vier Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs heftig umstritten. Dem Parlamentarischen Rat, der als verfassungsgebende Versammlung seit Herbst 1948 das Grundgesetz erarbeitete, gehörten neben Elisabeth Selbert noch drei weitere Frauen (Frieda Nadig, Helene Weber und Helene Wessel) und 61 Männer an. Die meisten hatten mit der Gleichberechtigung der Frauen wenig im Sinn und wollten nur den Gleichheitspassus aus der Weimarer Verfassung übernehmen. Die hatte den Frauen die gleichen staatsbürgerlichen Rechten und Pflichten zugebilligt wie den Männern. „Alle Deutschen sind grundsätzlich vor dem Gesetz gleich“ hieß es in § 109 der Verfassung vom 11. August 1919. Doch das genügte Elisabeth Selbert nicht. Für sie war selbstverständlich, „daß man heute weiter gehen muß als in Weimar … Die Frau soll nicht nur in staatsbürgerlichen Dingen gleichstehen, sondern muß auf allen Rechtsgebieten dem Manne gleichgestellt werden.“ (zitiert nach https://www.fernuni-hagen.de/rechtundgender/downloads/Art._3.pdf).

Die von Elisabeth Selbert  vorgeschlagene Formulierung „Männer und Frauen sind gleichberechtigt, ging ihren KollegInnen zu weit. Selbst Frieda Nadig, die zweite sozialdemokratische Delegierte im Parlamentarischen Rat, war zunächst entsetzt. Sie befürchtete ein Rechtschaos, wenn alle Gesetze, die mit dem Gleichberechtigungsgrundsatz nicht übereinstimmten, geändert werden müssten. Doch Elisabeth Selbert gelang es, Frieda Nadig und die übrigen Mitglieder ihrer Partei im Parlamentarischen Rat zu überzeugen.

Größer war der Widerstand in den konservativen Parteien. Sowohl im Grundsatzausschuss als auch in der ersten Lesung im Hauptausschuss des Parlamentarischen Rates wurde der Antrag der SPD Ende 1948 abgelehnt.

Doch Elisabeth Selbert kapitulierte nicht. Sie mobilisierte die Frauen im ganzen Land und erreichte, dass Frauenverbände, Frauenring, Gewerkschaften, Betriebsgruppen, aber auch einzelne Frauen gegen die Nichtaufnahme des umfassenden Gleichberechtigungsgrundsatzes ins Grundgesetz protestierten. Und obwohl laut einer Meinungsumfrage die neue Verfassung fast der Hälfte der Frauen völlig gleichgültig war und sich nur jede Zehnte dafür sehr interessierte, gingen waschkörbeweise Protestschreiben beim Parlamentarischen Rat ein.

So viel außerparlamentarische Opposition beeindruckte auch die Väter der Verfassung – wohl nicht zuletzt auch wegen der im August 1949 anstehenden ersten Bundestagswahlen. In der Sitzung des Hauptausschusses Anfang Januar 1949 wurde der SPD-Antrag mit Elisabeth Selberts Formulierung angenommen. Sie selbst bezeichnete das als „Sternstunde ihres Lebens“.

Die Juristin schlug auch eine Übergangsregelung vor, die in Artikel 117 des Grundgesetzes festgeschrieben wurde. Danach mussten alle Gesetze, die dem Gleichheitsprinzip widersprachen, bis zum 31. März 1953 geändert werden. Betroffen waren vor allem zahlreiche Bestimmungen des Ehe-und Familienrechts.

Wie wichtig der Zusatzartikel war, zeigte sich einige Jahre später. Die überwiegend männlichen Politiker hatten es mit den Gesetzesänderungen nicht eilig. Weil die Reform des Ehe- und Familienrechts bis zum Stichtag nicht erfolgt war, erklärte das Bundesverfassungsgericht Ende 1953 Frauen und Männer auch in Ehe und Familie für gleichberechtigt – und setzte die Gesetze, die dem Gleichberechtigungsgrundsatz nicht entsprachen, außer Kraft. Das Gleichberechtigungsgesetz beendete erst fünf Jahre später das Gesetzesvakuum. Seither durften Männer beispielsweise das Arbeitsverhältnis ihrer Frauen nicht mehr gegen deren Willen kündigen. Aber bis 1977 durften Frauen in Westdeutschland nur berufstätig sein, wenn dies „mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar” war. Wesentlich fortschrittlicher waren die Gesetze in der DDR.

Die von Elisabeth Selbert vorgeschlagene und erkämpfte Formulierung wurde durch die Verfassungsreform des Jahres 1994 ergänzt. Seither heißt es in Absatz 2 des 3. Artikels auch „Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“ Dies ist 75 Jahre nach der Verabschiedung des Grundgesetzes leider immer noch nötig. Und die Remigrations- und andere Pläne rechter PolitikerInnen zeigen, dass es derzeit wichtiger ist als je, die für alle Menschen in Deutschland geltenden Grundrechte zu verteidigen.

Geändert werden kann das Grundgesetz übrigens nur, wenn zwei Drittel des Bundestags und zwei Drittel des Bundesrats zustimmen. Zwei Artikel können überhaupt nicht geändert werden, und zwar Artikel 1, der die Menschenwürde garantiert, und Artikel 20, der Staatsprinzipien wie Demokratie, Rechtsstaat und Sozialstaat beschreibt (https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/10-fakten-grundgesetz-2264872)

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*Dieser Beitrag ist quasi ein Reblog eines Artikels, den ich im März/April 1999 geschrieben habe. Gebloggt habe ich damals noch nicht, aber der Artikel wurde über meinen Pressedienst Frauentexte verbreitet und veröffentlicht. Ein paar Dinge habe ich ergänzt, anderes ist heute noch so richtig und aktuell wie vor 25 Jahren

Wir sind viele

Am 9. November vergangenen Jahres stand ich mit drei Dutzend älteren Frauen und ganz wenigen meist noch älteren Männern vor dem Holocaust Mahnmal auf dem Opernplatz in Hannover. Die Omas gegen rechts hatten am 85. Jahrestag der Pogromnacht von 1938 zu einer Mahnwache aufgerufen. Wir wollten nicht nur an die Holocaust-Opfer, sondern auch an die Opfer des Massakers der Hamas in Israel einen Monat zuvor erinnern. Und wir wollten ein Zeichen setzen – gegen den wachsenden Antisemitismus in Deutschland und in vielen anderen Ländern.

In dem Mahnmal sind 1.935 Namen von Jüdinnen und Juden eingemeißelt, die in Hannover lebten, bis sie von den Nazis deportiert wurden. Viele wurden ermordet – wie sechs Millionen Jüdinnen und Juden aus ganz Europa.

Knapp drei Monate später, am internationalen Holocaust Gedenktag, kamen rund 2.000 Menschen zum Mahnmal, um an die Opfer des deutschen Nationalsozialismus zu erinnern und gegen Antisemitismus zu demonstrieren. Junge und Alte, Frauen und Männer.

Das ist nötiger denn je. Denn der Hass auf Jüdinnen und Juden lebte auch nach dem Sieg über Nazideutschland weiter – und nimmt nicht nur in Deutschland zu: Zwischen 2015 und 2021 stieg die Zahl antisemitischer Vorfälle in Deutschland kontinuierlich: von1.366 im Jahr 2015 auf mehr als 3.000 Delikte im Jahr 2021 (https://www.deutschlandfunk.de/antisemitismus-102.html#Statistik). In Frankreich registrierten das Innenministerium und der Schutzdienst der jüdischen Gemeinschaft (SPCJ) laut Tagesschau 2022 436 antisemitische Vorfälle, 2023 waren es 1.676 antisemitische Vorfälle (https://www.tagesschau.de/ausland/europa/antisemitismus-frankreich-110.html). Vor allem nach dem Massaker der Terrorgruppe Hamas in Israel explodierten die Zahlen.

Das Massaker der Terrorgruppe Hamas am 7. Oktober wirkte, so Yonathan Arfi, Präsident des Rats jüdischer Institutionen in Frankreich (Crif), „wie ein Katalysator des Hasses“ und aktivierte einen „latenten Antisemitismus“. Die Hemmschwellen, Jüdinnen und Juden zu beleidigen oder anzugreifen, sind seither gesunken.

In Deutschland gab es seit dem 7. Oktober nach Aussagen des Beauftragte der Bundesregierung für den Kampf gegen Antisemitismus, Felix Klein, in Deutschland 2.249 antisemitisch motivierte Straftaten, so viele wie im gesamten Jahr 2023. „Ein erheblicher Teil“ wurde nicht direkt nach dem 7. Oktober begangen, „sondern Wochen und Monate später“ (https://www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/antisemitismus-straftaten-102.html).

Jüdinnen und Juden fühlen sich seit dem größten Massenmord an Juden seit dem Holocaust auch in Deutschland nicht mehr sicher: Sie sprechen in der Öffentlichkeit nicht mehr Hebräisch, Männer trauen sich nicht mehr, ihre Kippa zu tragen, Kinder gehen nicht mehr in die Kita. Simon von der jüdischen Jugendorganisation Netzer Germany berichtete auf dem Opernplatz, dass PolizistInnen die Mitglieder einer Jugendgruppe bei der Anreise vom Bahnhof zur Unterkunft begleiteten und anschließend das Haus rund um die Uhr beschützten. „Wenn Kinder und Jugendliche sich in einer Ferienfreizeit sicherer fühlen als zu Hause, ist etwas falsch“, sagte er – und er hat recht.

Für mich war die Kundgebung vor dem Holocaust Mahnmal die zweite an diesem Samstag. Mittags hatte ich gemeinsam mit meiner Tochter in Goslar an der Kundgebung „Demokratie verteidigen – AfD stoppen!“ teilgenommen, zu der das Goslarer Bündnis gegen Rechtsextremismus aufgerufen hatte. 4.000 Menschen kamen auf den Marktplatz, viel mehr, als ich erwartet hatte (https://www.facebook.com/100064652773517/posts/pfbid0qaUn3Mt7mw7kDY9cC543ufS5XnFprN8SmS7V366JwUdL9NUeEz3qrjGjVFhDX2Myl/?app=fbl). Für einige TeilnehmerInnen war es die erste Demonstration ihres Lebens.  

Eigentlich wollte ich von Goslar – ziemlich durchgefroren – direkt nach Hause fahren. Doch als ich beim Umsteigen in Hannover die Pro-Palästina-Demo auf dem Bahnhofsvorplatz sah, beschloss ich, zur Kundgebung des Bündnisses gegen Antisemitismus und Antizionismus am Holocaust Denkmal zu gehen. Denn Judenhasse darf in Deutschland nie wieder toleriert werden; jede Stimme dagegen zählt.

Es waren immerhin 2.000 Menschen, die auf dem Opernplatz ihre Solidarität zeigten und ein Zeichen gegen Antisemitismus setzten, weit mehr als am 9. November. Denn die Veröffentlichungen des Recherchezentrum Correctiv über die Deportationspläne, die bei einem Treffen von Rechtsextremisten, AfD und CDU-Mitgliedern am 25. November in Potsdam geschmiedet wurden, haben die bislang schweigende Mehrheit aufgeweckt.

Seither gehen überall in Deutschland Menschen auf die Straße – in Frankfurt/Oder im Osten ebenso wie in Trier ganz im Westen der Republik. Allein in Düsseldorf waren es an diesem Wochenende 100.000, die zeigten, dass sie für die Demokratie, gegen rechte Hetze, Rassismus und auch gegen Antisemitismus sind. Und dass die AfD keine Alternative für Deutschland ist. Denn wir sind viele, wir sind das Volk.

Nie wieder ist jetzt

Am vergangenen Donnerstag war ich bei einer Mahnwache vor dem Holocaust Mahnmal auf dem Opernplatz in Hannover, zu der die „Omas gegen rechts“ aufgerufen hatten. Wir wollten am 9. November, am 85. Jahrestag der Pogromnacht, nicht nur an die Holocaust-Opfer, sondern auch an die Opfer des Massakers der Hamas in Israel erinnern. Und wir wollten ein Zeichen setzen – gegen den wachsenden Antisemitismus in Deutschland und in vielen anderen Ländern.

In dem Mahnmal, das vom Verein Memoriam initiiert, aus privaten Spenden finanziert und 1994 nach einem Entwurf des italienischen Künstlers Michelangelo Pistoletto gestaltet wurde, sind 1.935 Namen von deportierten und ermordeten Menschen in Stein gemeißelt. Auf einer zentralen Inschrift ist zu lesen: „Dieses Mahnmal ist zur bleibenden Erinnerung an über 6800 Juden Hannovers errichtet worden: Viele Familien lebten hier seit Generationen. Ab 1933 wurden sie von den Nationalsozialisten gedemütigt, entrechtet, verjagt, in den Selbstmord getrieben oder getötet: Die verbliebenen jüdischen Kinder, Frauen und Männer mussten 1941 ihre Wohnungen räumen und wurden unter Mithilfe der Stadtverwaltung in „Judenhäusern“ zusammengepfercht. Von dort aus wurden sie ohne nennenswerten Widerstand der übrigen Bevölkerung aus der Bürgerschaft herausgerissen, deportiert und ermordet.“ https://de.wikipedia.org/wiki/Mahnmal_für_die_ermordeten_Juden_Hannovers

1.935 Namen – 1.935 Menschen jüdischen Glaubens, die aus Hannover deportiert wurden. Die meisten wurden ermordet.

Während ich da stehe, schweifen meine Gedanken ab in meinen Heimatort an der Mosel. Dort gab es seit dem Mittelalter eine große jüdische Gemeinde, eine jüdische Schule und bis 1938 sogar eine Synagoge. Im Jahr 1933 lebten in Neumagen und im Nachbarort Niederemmel immerhin noch 75 Jüdinnen und Juden, 1938 – nach fünf Jahren Hetze und Schikane – waren es nur noch 20. Nach dem November-Pogrom verließen weitere jüdische Familien Neumagen, einige emigrierten in die USA. „Die letzten Einwohner jüdischen Glaubens wurden 1942 deportiert“, heißt es bei Wikipedia ( https://de.wikipedia.org/wiki/Synagoge_(Neumagen). „Das Gedenkbuch – Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft 1933–1945 und die Zentrale Datenbank der Namen der Holocaustopfer von Yad Vashem führen 18 Mitglieder der jüdischen Gemeinschaft Neumagen (die dort geboren wurden oder zeitweise lebten) auf, die während der Zeit des Nationalsozialismus ermordet wurden.“

Die Neumagener Synagoge in der Bogengasse wurde in der Pogromnacht „nur“ verwüstet, sicher auch, weil der Mob befürchte, ein Feuer könnte in der engen Gasse auf die Nachbarhäuser übergreifen. „Heute drangen SA-Leute in die Wohnungen der wenigen noch hier lebenden Juden ein, sie zerschlugen alles, was ihnen in die Hände fiel. Altes Porzellan, Schränke u.w; die Synagoge ist im Innern vollständig zertrümmert, alle Möbel zerschlagen. Alle Fenster, auch die Eisenteile zertrümmert, die Thorarollen und alten Bücher entfernt“, steht in der Neumagener Chronik (Seite 171).

An der Pogromnacht im November 1938 beteiligten sich nicht nur SA-Leute, sondern ganz normale Bürgeer. Auch meine drei Onkel, damals 19, 17 und 13 Jahre alt, machten wohl mit. Offen wurde darüber in unserer Familie nicht gesprochen. Wie in vielen Familien waren Kriegs- und NS-Zeit auch bei uns tabu. Nur wenn meine Tante und mein Onkel gleichzeitig bei uns zu Besuch waren, kam es gelegentlich zu heftigen Diskussionen: Dann warf meine Tante, die Jüngste in der Familie, dem Ältesten – dem einzigen Bruder, der den Krieg überlebt hatte – vor, seinen kleinen Bruder in jener Nacht mitgenommen, in den braunen Sumpf hineingezogen zu haben. „Er war damals 13, allein hätte Mama ihn nicht gehen lassen“, empörte sie sich einmal.

Wenn ich an meinen jüngsten Onkel denke, kommt mir eine Passage aus Jorge Sempruns Buch „Die große Reise“ in den Sinn. Er erzählt darin, wie ein etwa zehnjähriger Junge bei einem Halt im Bahnhof Trier einen Stein gegen die Gitter des Wagons schleuderte, in dem Semprun im Januar 1944 mit Hunderten anderer Gefangener ins KZ Buchenwald deportiert wurde.

„Ich frage mich, wie viele Deutsche noch umgebracht werden müssen, damit dieses deutsche Kind Aussicht hat, kein Boche zu werden. Er kann nichts dafür, und doch kann er dafür. Er hat sich nicht selber zu einem kleinen Nazi gemacht und doch ist er ein kleiner Nazi. Vielleicht hat er schon gar keine andere Wahl mehr, als jetzt ein kleiner Nazi zu sein und später ein großer Nazi zu werden“, schreibt er. „Das einzige, was uns vorderhand übrigbleibt, damit dieser Junge noch Aussicht hat, kein kleiner Nazi mehr zu sein, ist die Vernichtung der deutschen Armee.“ (Jorge Semprun, Die große Reise, S. 37) 

Er hatte recht. Zumindest mein jüngster Onkel hatte eigentlich keine Chance, kein Nazi zu werden. Er war erst sieben, als Hitler an die Macht kam und die Indoktrination in der Schule, in Hitlerjugend und sicher auch in der Familie begann. Ein wirklich großer Nazi wurde er zum Glück aber nicht, weil die Alliierten in der Normandie landeten. Er starb dort mit 18 Jahren, kurz nach dem D-Day. Und ich frage mich immer wieder, ob er bis zum Schluss überzeugter Nazi blieb oder ob ihm irgendwann Zweifel kamen.

Heute gibt es, anders als damals, unabhängige Medien. JedeR kann sich informieren – oder könnte es, wenn er oder sie es wollte. Trotzdem nimmt der Antisemitismus weltweit zu – auch in Deutschland und nicht erst seit dem Terroranschlag der Hamas auf Israel.

Abfällige Bemerkungen, Judenwitze, Aufkleber mit antisemitischen Symbolen, Verschwörungsmythen, körperliche Angriffe oder gar Attentate auf jüdische Menschen und Einrichtungen sind in Deutschland schon lange wieder Alltag. „Der Hass auf Jüdinnen und Juden eint mitunter sogar Gruppen, die sich sonst eher feindlich gegenüberstehen, zum Beispiel rechte, linke und/oder muslimische Jugendliche“, habe ich im Frühjahr 2021 in einem Artikel geschrieben (https://www.friedrich-verlag.de/bildung-plus/schulleben/meet-a-jew/).

Nie wieder – das sagen viele, aber es ist leider oft nur ein Lippenbekenntnis. Die Solidarität mit Jüdinnen und Juden ist begrenzt, die Mehrheit schweigt, wie damals. Zur Mahnwache der Omas gegen rechts kamen gestern gerade mal 30 bis 40 Menschen – meist ältere Frauen und einige ältere Männer. Die meisten Passantinnen und Passanten gingen nach einem kurzen Blick auf unsere Gruppe achtlos weiter. Wen interessiert schon, was ein paar Omas und Opas zu sagen haben. Nicht einmal die Polizei kam, um unsere Berechtigung zu überprüfen. Denn die hatte an diesem Tag leider Wichtigeres zu tun. Hierzulande müssen nämlich wieder Synagogen, Schulen, Kitas und Menschen jüdischen Glaubens geschützt werden.

Es ist Zeit, aufzustehen. Nie wieder ist jetzt.  

Wer mag, kann auch meinen Artikel über Klassenreisen gegen Antisemitismus und Rassismus lesen.

https://www.friedrich-verlag.de/bildung-plus/schulleben/auf-den-spuren-anne-franks/

In Memoriam: Orlando Orlandi Posti

In meinem Blogbeitrag über die Stadt der Tagebücher im Mai habe ich über die Briefe eines jungen Mannes geschrieben, die mich sehr beeindruckt und an Anne Franks Tagebuch erinnert haben (https://timetoflyblog.com/die-stadt-der-tagebuecher). Seinen Namen hatte ich mir leider nicht gemerkt – es waren wohl einfach zu viele Informationen und Eindrücke an diesem Vormittag. Inzwischen habe ich ihn von Silvia Gennaioli von der Fondazione Archivio Diaristico Nazionale in Pieve Santo Stefano, die mich Anfang Mai durch das Tagebuchmuseum führte, erfahren.

Orlando Orlandi Posti war Student, Mitbegründer der Italienischen Revolutionären Studentenvereinigung (ARSI) und eine der Geiseln, die im Zweiten Weltkrieg von deutschen Soldaten beim Massaker in den Ardeatinischen Höhlen ermordet wurden. Der 17-Jährige wurde Anfang Februar 1944 von der SS verhaftet, als er seine Freunde vor einer geplanten Razzia der deutschen Besatzer im Bezirk Monte Sacro warnen wollte. Während seiner fast zwei monatigen Gefangenschaft in der Via Tasso gelang es ihm, Briefe an seine Mutter zu schreiben und aus dem Gefängnis zu schmuggeln.

Über das Massaker in den Ardeatinischen Höhlen (Fosse Ardeatine) wissen die meisten Menschen in Deutschland wenig oder gar nichts. Ich gebe zu: Auch ich musste zuerst recherchieren, was dort geschehen war, bevor ich diesen Beitrag schreiben konnte. Dabei habe ich mich immer für Geschichte interessiert und das Fach – allerdings vor sehr langer Zeit – studiert.

Am 24. März 1944 ermordeten deutsche Soldaten 335 Menschen –  als Vergeltungsmaßnahme für den Tod von 33 Südtiroler Polizisten, die am Tag zuvor bei einem Bombenanschlag von italienischen Widerstandskämpfern in der Via Rasella ums Leben gekommen waren (https://de.wikipedia.org/wiki/Massaker_in_den_Ardeatinischen_Höhlen). Die Hinrichtungen dauerten einen ganzen Nachmittag; die jüngste ermordete Geisel war 15 Jahre alt, die älteste 74. Orlando Orlandi Posti starb ein paar Tage nach seinem 18. Geburtstag. Seine Träume, nach dem Krieg und der deutschen Besatzung Medizin zu studieren, zu reisen, in Freiheit zu leben, konnte er nicht verwirklichen.

Seine Mörder durften weiter leben, alt werden und in Freiheit sterben. Herbert Kappler, der Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD in Rom, der das Kriegsverbrechen organisierte und einige Geiseln selbst ermordete, wurde zwar 1948 zu lebenslanger Haft verurteilt. Aber er konnte vor seinem Tod im Februar 1978 aus dem Gefängnis fliehen (https://de.wikipedia.org/wiki/Herbert_Kappler). SS-Hauptsturmführer Erich Priebke, der die Erschießungen protokollierte und auch selbst Geiseln erschoss, tauchte nach dem Krieg unter und floh mit seiner Familie nach Südamerika – unterstützt von katholischen Geistlichen. Ein halbes Jahrhundert lebte der Kriegsverbrecher unbehelligt in Argentinien. Erst 1998 wurde er in Italien zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt, die jedoch wegen seines Alters in Hausarrest umgewandelt wurde.

„Im Prozess 1996 vor dem Militärgericht berief sich Priebke auf den Befehlsnotstand“, schrieb Malte Herwig in einem Artikel, der im Oktober 2013, kurz nach Priebkes 100. Geburtstag, im Magazin der Süddeutschen Zeitung erschien (https://sz-magazin.sueddeutsche.de/geschichte/der-letzte-fall-79973). Seine Beteiligung am Massaker bereute er auch kurz vor seinem Tod nicht, ein Fehler sei nur gewesen, dass „Leider Gottes … fünfe zu viel erschossen worden“ sind, nämlich 335 Menschen statt 330: für jeden getöteten Polizisten zehn unschuldige Geiseln. Er bemitleidete nur sich selbst und seine Mittäter. „Für uns war das ja furchtbar“, sagte Priebke, der sich selbst als gläubigen Christ bezeichnete. Mögen er und alle seine Helfer und Helfershelfer ewig in der Hölle schmoren.

Als ich den Artikel las, kam mir der Begriff von der „Banalität des Bösen“ in den Sinn, den die Philosophin Hannah Arendt 1963 beim Prozess gegen Adolf Eichmann prägte. Treffender kann man die „massive Gleichgültigkeit, mit der die Verbrechen begangen“ und die moralische Verantwortung dafür abgegeben wurde, wohl nicht beschreiben (https://www.deutschlandfunkkultur.de/outsourcing-moralischer-verantwortung-die-banalitaet-des-100.html).

2004, zum 60. Jahrestag des Massakers in den Adreatinischen Höhlen, wurden Orlando Orlandi Postis Briefe und Tagebuchnotizen aus dem Gefängnis veröffentlicht. Bislang gibt es das Buch* leider nur auf Italienisch. Aber vielleicht findet sich ja ein Verlag, der zum 80. Jahrestag im März 2024 die „Lettere dal carcere di via Tasso“ ins Deutsche übersetzen lässt und herausgibt. Damit sich künftig auch Menschen in Deutschland an das Kriegsverbrechen erinnern und Orlando Orlandi Posti und die anderen Opfer nie vergessen werden.

*Orlando Orlandi Posti: Roma ’44. Lettere dal carcere di via Tasso di un martire delle Fosse Ardeatine  Italienische Ausgabe, Rom, Donzelli 2004, 9,99 Euro