Wiederentdeckt: Ein Zimmer für sich allein

Eigentlich war es Zufall, dass ich Virginia Woolfs „Ein Zimmer für sich allein“ jetzt wieder gelesen und wiederentdeckt habe. In ihrem Buch „FrauenZimmerSchreiben“* schreibt die Herausgeberin Christiane Palm-Hoffmeister als Einleitung einen Brief an die Autorin des viel zitierten Essays.

Ich habe Virginia Woolfs Buch zum ersten Mal während des Studiums gelesen, auf Englisch, wie die 1977 gekaufte Penguin-Ausgabe von „A Room of One‘s Own“ verrät. 1989 habe ich mir dann eine Ausgabe auf Deutsch gekauft, weil mein Englisch inzwischen etwas eingerostet war. Für ein eigenes Zimmer war damals in unserem Haus kein Platz, weil wir drei Kinderzimmer brauchten. Als gemeinsames Arbeitszimmer diente meinem Mann und mir zeitweise ein Teil des Wohnzimmers, den wir mit Regalen und einer Sperrholzwand provisorisch abgetrennt hatten. Aber lieber arbeitete und schrieb ich auf dem freien Platz neben der Treppe, wo auch jetzt wieder ein Schreibtisch steht. Eigentlich brauche ich diesen Schreibplatz nicht mehr, denn ich habe inzwischen sogar zwei Arbeitszimmer für mich allein. Und ich muss – anders als damals – nicht mehr Kinder, Haushalt und Beruf unter den bekannten Hut bringen.

Vielleicht liegt es am freieren Teilzeit-Rentnerinnen-Leben, dass ich Virginia Woolfs Essay diesmal an einem Tag und in einer halben Nacht gelesen habe. Vielleicht kam die Anregung aber auch gerade zur richtigen Zeit. In den vergangenen Jahren hatte ich mehrere Wieder-Lese-Versuche gestartet und das Buch dann – unausgelesen – zur Seite gelegt.

Mir war vor allem der Satz im Gedächtnis geblieben, der dem Essay seinen Namen gab: „Eine Frau braucht Geld und ein eigenes Zimmer, um schreiben zu können“ (Seite 3)**. Dabei ist wirklich bemerkens- und lesenswert, wie treffend und umfassend Virginia Woolf schon in den Zwanzigerjahren die Situation von Frauen in der Literatur und im Leben beschrieben und analysiert hat. „In der Poesie füllt sie (die Frau) Bände, in der Geschichte kommt sie nicht vor“, schreibt sie. Und im richtigen Leben wurden und werden Mädchen und Frauen häufig „eingesperrt, geschlagen und durchs Zimmer geschleudert“ (Seite 49).

Zwar hat sich vieles geändert, seit Virginia Woolf ihren Essay schrieb. Doch manches ist leider noch so aktuell wie vor fast hundert Jahren. In Deutschland wird laut BMFSFJ „etwa jede vierte Frau … mindestens einmal Opfer körperlicher oder sexualisierter Gewalt durch ihren aktuellen oder durch ihren früheren Partner“ (https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/themen/gleichstellung/frauen-vor-gewalt-schuetzen/haeusliche-gewalt/formen-der-gewalt-erkennen-80642). Und obwohl es zumindest hierzulande inzwischen selbstverständlich ist, dass Mädchen und Frauen zur Schule gehen, studieren, einen Beruf lernen und berufstätig sind, sind Frauen auch heute noch das arme Geschlecht. So verdienten Frauen nach Angaben des Statistischen Bundesamts (Destatis) im vergangenen Jahr in Deutschland pro Stunde 18 Prozent weniger als Männer (https://www.destatis.de/DE/Themen/Arbeit/Verdienste/Verdienste-GenderPayGap/_inhalt.html). Ein Teil der Lohnunterschiede kann durch Lohn- und Gehaltsunterschiede in verschiedenen Berufen und Branchen erklärt werden. Anders als von Virginia Woolf vorausgedacht, gibt es nämlich immer noch typisch weibliche und typisch männliche Berufe. Und ErzieherInnen, Kranken- oder AltenpflegerInnen werden auch heute noch schlechter bezahlt als AutomechanikerInnen oder InstallateurInnen. Aber selbst wenn sie die gleiche Arbeit leisten, verdienen Frauen oft weniger als ihre männlichen Kollegen. Das liegt sicher auch daran, dass Männer oft selbstsicherer sind und sich und ihre Leistung besser verkaufen können.

Verwunderlich ist das nicht: Jahrhundertelang wurde behauptet, dass Frauen Männern mental, moralisch, physisch und intellektuell unterlegen sind. Dieses Vorurteil hat sich, so scheint es, bei beiden Geschlechtern ins kollektive Gedächtnis eingebrannt. Wenn Männer „ein Zimmer betreten, sagen sie sich, ich bin der Hälfte der Menschen hier überlegen, und deshalb sprechen sie voller Selbstvertrauen, voller Selbstgewissheit“, schreibt Virginia Woolf (S. 41). Dieses Gefühl sei wahrscheinlich „eine der Hauptquellen“ männlicher Macht (S. 39).

„Frauen haben in all diesen Jahrhunderten als Spiegel gedient, ausgestattet mit der magischen und köstlichen Kraft, die Gestalt des Mannes doppelt so groß wiederzugeben“, schreibt sie. „Welchen Nutzen Spiegel in zivilisierten Gesellschaften auch haben mögen, für jede gewalttätige und heroische Tat sind sie unabdingbar. Deshalb bestehen Napoleon und Mussolini so emphatisch auf der Unterlegenheit der Frauen, denn wären sie nicht unterlegen, würden sie nicht länger vergrößern“ (S. 40f). Dem ist mit Blick auf die großen und kleinen Mussolinis und Napoleons unserer Zeit nichts hinzuzufügen. Oder nur, dass es sich wirklich lohnt, Virginia Woolfs Essay wieder zu lesen.

*Dieser Beitrag enthält unbezahlte Werbung

**Zitiert nach Woolf, V. (2019). Ein Zimmer für sich allein (Kampa Pocket) (German Edition) [Kindle Android version]. Retrieved from Amazon.com, übersetzt von Antje Ravik Strubel


Ein Tag im Jahr: Der 27. September

Als ich heute Morgen das Datum meiner Morgenseiten schrieb, wurde es mir bewusst: Heute ist DER 27. September, also der Tag im Jahr, den Christa Wolf ihr ganzes Schriftstellerinnenleben lang – von 1960 bis 2011 – beschrieben hat. Maxim Gorki hatte die Schriftsteller der Welt 1935 dazu aufgerufen, diesen Tag zu porträtieren, die Istwesja hatte den Aufruf 1960 wiederholt (https://timetoflyblog.com/27-september-ein-tag-im-jahr). Ich bin erst vor zwei Jahren durch Christa Wolfs Buch „Ein Tag im Jahr“* auf den Tag aufmerksam geworden – und will die Tradition fort.

Vor einem Jahr, am 27. September 2021, gab der Bundeswahlleiter morgens um 06:00 Uhr das vorläufige Ergebnis der Wahl zum 20. Deutschen Bundestag am 26. September 2021 bekannt: Die SPD war mit 25,7 Prozent der Stimmen knapp stärkste Fraktion vor CDU/CSU mit 24,1 Prozent. Olaf Scholz wurde Bundeskanzler, auch wenn das am 27. noch nicht alle wahrhaben wollten.

Ein Jahr später hat Italien gewählt, und wie in Schweden vor einer Woche haben auch in Italien die rechten Parteien die Wahl gewonnen. Die post-faschistischen Fratelli d’Italia sind stärkste Fraktion, dass mit Giorgia Meloni die Brüder anführt und wohl erstmals eine Frau italienische Ministerpräsidentin wird, macht die Sache leider nicht besser. Bleibt nur die Hoffnung, dass sich auch diese Regierung – wie viele italienische vor ihr – nicht allzu lange an der Macht hält. Die Wahlbeteiligung lag bei gerade mal 64 Prozent – laut ZEIT ein „historischer Tiefstand“. Zum Vergleich: An der Bundestagswahl vor einem Jahr beteiligten sich 76,6 Prozent der Wahlberechtigten. Und die AfD kam auf „nur“ 10,3 Prozent.

Halbwegs gute Nachrichten aus Russland: Viele Männer entziehen sich der Teilmobilmachung durch Flucht ins Ausland, in Russland selbst protestieren immer mehr Menschen gegen den Ukrainekrieg – Tausende wurden und werden verhaftet. Trotzdem gehen die Scheinreferenden in den annektierten ukrainischen Gebieten weiter und enden heute. Das Ergebnis steht ohnehin schon fest. Christa Wolf, da bin ich sicher, würde sich im Grabe umdrehen angesichts dieser russischen Politik.

Auch im Iran rumort es: Vor allem Frauen, aber auch viele Männer gehen auf die Straße. Anlass der Demonstrationen gegen die rigiden Kleiderordnungen und das Mullah-regime war der Tod von Mahsa Amini. Die junge Frau war von den Revolutionswächtern verhaftet worden, weil sie ihr Kopftuch „unislamisch“ trug, und in der Haft gestorben. Dass Männer im Iran für Frauenrechte demonstrieren oder gar feministische Parolen rufen, wäre eigentlich eine sehr gute Nachricht, wenn das Regime nicht so gewaltsam gegen die DemonstrantInnen vorgehen würde. Mehr als 30 Menschen sind bereits gestorben, und laut HAZ plant die „iranische Justizbehörde Sondergerichte zur Aburteilung von festgenommenen Demonstrantinnen und Demonstranten“, die in den Augen der Machthaber „Anführer der vom Ausland angeheuerten Unruhestifter“ sind. Was für ein Privileg ist es, in einem Land wie Deutschland zu leben.

Insgesamt war der 27. September 2022 ein eher unspektakulärer Tag, das Protokoll in Kurzfassung. Yoga und Morgenseiten, wie an jedem Morgen, Kaffee trinken, Zeitung lesen. Weil die Artikel der Zeitschrift, die ich gemeinsam mit meiner Kollegin Foe Korrektur lese, auf sich warten lassen, habe ich den den Tag mit Haus- statt Berufsarbeit – das wird künftig, wenn ich Rentnerin bin, häufiger so sein. Ich habe gewaschen, geputzt, auf- und umgeräumt. Ich habe eingekauft und gewählt, weil ich am Wahltag im nächsten Monat nicht in Burgwedel bin. Wenn ich diesen Blog geschrieben und online gestellt habe, lese ich: den Roman von Marion Brasch über ihre fabelhafte Familie: „Ab jetzt ist Ruhe“.

Womit wir wieder beim 27. September wären. Marion Braschs Bruder, der Schriftsteller Thomas Brasch, hat ein Gedicht mit dem Titel „Der schöne 27. September“ geschrieben; zu dem gleichnamigen Gedichtband, der 1980 im Suhrkamp Verlag erschienen ist, hat Christa Wolf das Nachwort geschrieben.

https://www.suhrkamp.de/buch/thomas-brasch-der-schoene-27-september-t-9783518223734

Christa Wolf:

Ein Tag im Jahr: 1960-2000 (suhrkamp taschenbuch)

Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (suhrkamp taschenbuch)

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Das Trauerspiel von Afghanistan

Viel ist passiert, seit ich Anfang Juli den letzten Blogbeitrag veröffentlicht habe. Das Ahrtal und Teile von Nordrhein-Westfalen wurden überschwemmt, halbe Dörfer, Häuser, Brücken, Straßen wurden weggerissen, fast 200 Menschen starben. In Griechenland, in der Türkei und in Italien wüten Waldbrände, in Haiti gab es wieder mal ein Erdbeben mit mehr als tausend Toten. Von Klimawandel kann da sicher keine Rede mehr sein, eher von Klimakatastophe.

Eine Katastrophe ist auch das, was derzeit in Afghanistan passiert, und auch diese Katastrophe ist wie die Klimakatastrophe menschengemacht. Derzeit versuchen Tausende Menschen, aus Afghanistan zu fliehen. Sie belagern den Flughafen in der Hoffnung, irgendwie einen Platz in einem Flugzeug zu bekommen, das sie rausbringt aus diesem Land, weg von den Taliban, die die Macht wieder übernommen haben.

Nicht einmal zwei Monate ist es her, seit die letzten westlichen Soldatinnen und Soldaten Afghanistan verlassen haben, die Bundeswehr hat ihren Einsatz am 30. Juni beendet. Damit, dass die Taliban das Land so rasch erobern würden, haben offenbar weder PolitikerInnen noch Militärs gerechnet. Die Soldaten der afghanischen Armee, 20 Jahre lang ausgebildet und ausgestattet von der Nato, haben ihr Land und ihr Volk überhaupt nicht verteidigt, sondern sich und die Waffen kampflos den Taliban übergeben.

Die westlichen Länder haben, so scheint es, wieder einmal auf die Falschen gesetzt. Hinterher ist man natürlich klüger, aber ich bin sicher: Hätten man die Frauen bewaffnet und ausgebildet, sie hätten gewusst, wofür sie kämpfen, und hätten ihre Freiheit verteidigt. Manche, vielleicht sogar viele, wären lieber gestorben, als wieder ungeschützt den Taliban und ihren eigenen Männern, Brüdern, Vätern ausgeliefert zu sein, die gut ausgebildete Frauen mehr fürchten als die Scharia und den islamischen Staat. Der Männern die Macht sichert – im Staat und in der Familie.

Den islamische Staat wollten die USA und die Nato durch ihren Einmarsch im Jahr 2001 zwar verhindern. Doch in den Jahren davor haben sie die radikal islamischen Kräfte gestärkt und gepäppelt. Als nämlich sowjetische Truppen 1979 in Afghanistan einmarschierten, unterstützten vor allem die USA, Pakistan und Saudi-Arabien Guerilla-Gruppen, die gegen die Sowjets kämpften finanziell, materiell und ideologisch: Sie lieferten Waffen, bildeten die Kämpfer aus, die sich damals noch Mudschahedin nannten, und investierten Millionen in gewaltverherrlichende Lehrbücher, die afghanischen Schulkindern und afghanische Flüchtlingen in Pakistan die Lehre vom Dschihad, dem Heiligen Krieg, nahebringen sollten. Zumindest das ist offenbar sehr gut gelungen, und wenn Wikipedia recht hat, verwendeten auch die Taliban die von den USA produzierten Bücher.

https://de.wikipedia.org/wiki/Mudschahid#Mudschahidin_in_Afghanistan

Jetzt versuchen die Nato-Staaten, ihre Staatsangehörigen und zumindest einige AfghanInnen, die für sie gearbeitet haben, und deren Familien in Sicherheit zu bringen. Ob das gelingt, ist mehr als fraglich, denn auch am Flughafen gilt das Recht der Stärkeren. Viele Männer drängen sich vor, Frauen und Kinder zuletzt. Dabei müssten sie als Allererste außer Landes gebracht werden. Denn was mit den Frauen und Mädchen passiert, die in den letzten Jahren zur Schule gehen, berufstätig sein durften und ein etwas freieres Leben führen konnten, darf frau sich gar nicht ausmalen. Ihre Lage ist wirklich bedrohlich; deshalb möchte ich hier ausnahmsweise für Spenden an den Afghanischen Frauenverein e.V. (AFV) werben https://www.afghanischer-frauenverein.de/.

Der Afghanische Frauenverein fördert seit 1992 gezielt Projekte für Frauen und Kinder in Afghanistan. Jetzt vermittelt er dringend benötigte Hilfe in Form von Flugtickets, Lebensmittel, medizinische Versorgung – und braucht dafür Geld.

Denn nichts ist gut in Afghanistan. Als Margot Käßmann das vor fast zwölf Jahren in ihrer Neujahrsansprache sagte, wurde sie heftig kritisiert. Doch heute stimmen ihre Worte leider mehr denn je. Wer ihre beeindruckende Neujahrspredigt nachlesen möchte, findet sie unter dem folgenden Link

https://www.ekd.de/100101_kaessmann_neujahrspredigt.htm

Und noch etwas hat mich beeindruckt: das Gedicht „Das Trauerspiel von Afghanistan“. Nein, es wurde nicht in den letzten Wochen oder Monaten geschrieben, sondern von Theodor Fontane in der Mitte des vorletzten Jahrhunderts, etwa 1857 bis 1859.

Ich kannte die Ballade nicht, die vom traurigen Ende des ersten anglo-Afghanischen Kriegs erzählt. Ich muss gestehen, dass ich noch nicht einmal wusste, dass die Engländer drei Kriege in/gegen Afghanistan geführt haben, um ihre Vorherrschaft zu sichern und den Expansionsbestrebungen des damals noch von echten Zaren regierten Russischen Reichs Einhalt zu gebieten. Wie sich doch Ursachen und auch Folgen gleichen. The Great Game wurden die Auseinandersetzungen genannt, die für die, die ihre Köpfe hinhalten und ihr Leben lassen mussten, alles andere als ein Spiel waren. Der erste anglo-afghanische Krieg begann 1839 und endete 1842 mit dem Sieg Afghanistans, der vollständigen Vernichtung der Truppen von General William George Keith Elphinstone und dem vorläufigen Rückzug der Briten aus Afghanistan.

Im Januar 1842 traten 12.000 Zivilisten, 690 britische und 2.840 indische Soldaten den Rückzug aus Kabul an, weil die Stadt nach einer Revolte der Bevölkerung nicht mehr zu halten war. Obwohl die britische Führung freies Geleit ausgehandelt hatte, wurde der Zug immer wieder angegriffen; das erste Zwischenziel, das 140 Kilometer entfernte Dschalalabad, erreichte angeblich nur ein einziger Europäer, der junge Militärarzt Dr. William Brydon.

„Vernichtet ist das ganze Heer,
Mit dreizehntausend der Zug begann,
Einer kam heim aus Afghanistan“,

heißt die letzte Strophe von Fontanes Ballade. Wer sie ganz lesen möchte, findet sie unter

http://www.gruene-gruenberg.de/Downloads/afghanistan.pdf

Beim zweiten anglo-afghanischen Krieg von 1878 bis 1880 siegten dann die Briten. Sie annektierten etwa ein Drittel Afghanistans und bestimmten in den nächsten Jahren die afghanische Außenpolitik. Das änderte sich nach dem dritten anglo-afghanischen Krieg (Mai bis August 1919) wieder. Im Frieden von Rawalpindi erkannte Großbritannien Afghanistan provisorisch, im Vertrag von Kabul 1921 dann endgültig als souveränen und unabhängigen Staat an.

Aber auch 100 Jahre nach der Souveränität ist nichts gut in Afghanistan – und von der Unabhängigkeit sind zumindest die afghanischen Frauen leider immer noch unendlich weit entfernt.

Neumz – Frauen singen gregorianisch*

Wenn ich meine Morgenseiten schreibe, höre ich oft Musik – derzeit am liebsten gregorianische Gesänge. Die einstimmige, einförmige, aber nie eintönige Musik hilft mir, ruhig und entspannt in den Tag zu gleiten.

Jetzt, im Februar, ist es früh morgens noch dunkel, nur eine aus der Weihnachtszeit übriggebliebene Lichterkette, Kerzen und mein Bildschirm erhellen mein kleines Schreibzimmer und schaffen eine besondere Atmosphäre: Fast fühle ich mich in eine spärlich beleuchtete Klosterkirche versetzt. Dass es in meinem Zimmer wärmer ist als in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Kirchen, weiß ich durchaus zu schätzen.

Auf meinen CDs singen ausschließlich Männer gregorianische Choräle und Gebete und irgendwie wundert mich das nicht: Denn die (katholische) Kirche tut sich ja bekanntlich seit jeher mit Frauen schwer: „mulier taceat in ecclesia“ – alsoDie Frau möge in der Gemeinde schweigen“ –heißt es bekanntlich im Korintherbrief (1. Kor. 14, 34). Damit ist zwar der Ausschluss der Frau vom kirchlichen Lehr- und Priesteramt gemeint, aber auch in anderen Bereichen, zum Beispiel bei der Kirchenmusik, bleiben Frauen außen vor.  

Dass die bekanntesten Kinderchöre auch heute noch reine „Knabenchöre“ sind, liegt an der Tradition der Chöre: Die reicht zurück bis ins Frühmittelalter und wurde durch die Kirche bestimmt: Damals durften Frauen in den Kirchen auch nicht singen, die Musik während des Gottesdienstes war Männersache. Und natürlich durften zum Beispiel auch bei beim Thomanerchor in Leipzig, bei den Wiener Sängerknaben, den Regensburger Domspatzen, dem Dresdner Kreuzchor oder der Staats- und Domchor Berlin nur Jungs mitmachen. Der Knabenchor der Universität der Künste Berlin muss übrigens auch heute noch – mehr als 550 Jahre nach der Gründung durch Kurfürst Friedrich II. von Brandenburg – keine Mädchen aufnehmen: Die Richter der 3. Kammer des Berliner Verwaltungsgerichts bewerteten die Kunstfreiheit des Chores und seines Leiters höher als das Recht eines Mädchens, nicht wegen seines Geschlechts ausgeschlossen zu werden (Urteil vom 16. August 2019, VG 3 K 113.19). Und auch die anderen Knabenchöre sind mädchenfrei.

Natürlich wurden auch die gregorianische Gesänge meist von Männern gesungen. Benannt sind sie nach Papst Gregor I (590–604), der die kirchlichen Gesänge sammeln und aufzeichnen ließ. Das  geschah seit dem 9. Jahrhundert mit einer neuen Art der Musikschrift. Die Zeichen wurden über dem Text notiert und erleichterten vor allem dem Chorleiter und dem Kantor die Arbeit, denn die sogenannten Neumen – von griechisch νεύμα neuma, deutsch ‚Wink‘ – zeigten seine Winkbewegungen des Dirigenten an. Noten, Notenlinien und Schlüssel wurden erst später erfunden; die Sänger lernten bei doing, also durchs Zuhören und Mitsingen. Um alle gregorianischen Gesänge zu lernen, brauchten die Sänger laut Wikipedia etwa zehn Jahre https://de.wikipedia.org/wiki/Gregorianischer_Choral.

Die Neumen, notenähnliche Zeichen, gaben dem Projekt seinen Namen

Wie umfangreich das Repertoire ist, zeigt auch Neumz, ein spannendes Projekt, auf das ich bei meiner Suche nach von Frauen gesungenen gregorianischen Gesängen gestoßen bin. Ziel des Projekts ist es, alle gregorianischen Gesänge – insgesamt fast 8800 – aufzuzeichnen. Über 7.000 Stunden Audioaufnahmen werden in einer App abrufbar sein, wenn das Projekt 2022 abgeschlossen ist.

Gesungen werden die Gebete, Hymnen, Psalmen, Messgesänge und Chorälen des liturgischen Kalenders nicht von Profis, sondern von den Benediktinerinnen der Abtei Notre-Dame de Fidélité von Jouques in der Provence, aufgenommen werden sie nicht in einem Studio, sondern in der Klosterkirche, quasi do it yourself: Die Nonnen starten die Aufnahmen, wenn sie den Chorraum betreten, und beenden sie, wenn sie ihn wieder verlassen. Deshalb sind die Aufnahmen klanglich vielleicht nicht perfekt, aber authentisch. Gerade das macht das Projekt besonders und einzigartig, auch wenn gelegentlich Nebengeräusche wie Husten, Niesen oder Umblättern der Noten zu hören sind. Darauf, sie wegzuretuschieren, hat das Team um den britischen Musikwissenschaftler und -produzenten John Anderson bewusst verzichtet. Puristen stört’s vielleicht, mich nicht. Im Gegenteil.

John Anderson hat das aufwendige Projekt initiiert und die Nonnen, darunter auch seine Tante, überzeugt, den Aufnahmen und der Veröffentlichung zuzustimmen. Seit Ende vergangenen Jahres gibt es die Gesänge der Nonnen auf mobilen Apps für iOS und Android – inklusive Partituren und Texten auf Latein und übersetzt, unter anderem auch auf Deutsch. Eine Veröffentlichung auf CD ist nicht geplant.

Wer die App abonniert, kann alle Gesänge des dreijährigen Zyklus hören und sich beispielsweise von den gesungenen Stundengebeten der Nonnen durch den Tag begleiten lassen, vom Erstes Morgengebet (Ad Matutinum) am frühen Morgen bis zum Abendgebet Komplett (Ad Completorium). Das möchte ich auf jeden Fall mal versuchen. „Zwei Drittel der Einnahmen aus Abonnements gehen an die Schwestern, um sie und ihre Stiftung Notre Dame de l’Écoute in Benin zu unterstützen“, heißt es auf der Projekt-Website. Dort gibt es auch mehr Infos über gregorianische Musik im Allgemeinen und über das Projekt und das Kloster im Besonderen; auch einzelne Gesänge können dort kostenfrei abgerufen werden.

https://neumz.com

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Film ab

Durchschnittlich 1,5 mal im Jahr geht – rein statistisch – jede/r Bundesbürger/in jährlich ins Kino, meldete das Statistische Bundesamt, das jetzt DESTATIS heißt, Ende Januar. Ich liege deutlich über dem Durchschnitt.

Seit Anfang des Jahres habe ich mir bereits fünf Filme angesehen. Ich tue also etwas fürs Wohlergehen der Filmbranche.

Die ersten beiden Film erzählten die Geschichte der Schriftstellerinnen Astrid Lindgren und  Colette. Auch bei Film Nummer drei stand eine Frau im Mittelpunkt – die Frau eines erfolgreichen Schriftstellers. Sie tat, was auch Colette am Anfang getan hatte: Sie schrieb  Bücher, die ihr Mann unter seinem Namen veröffentlichte. Während sich aber Colette Anfang des 20. Jahrhunderts befreite und eine erfolgreiche Schriftstellerin wurde, gelingt das Joan Castleman im Roman nicht: Sie bleibt im Schatten ihres Mannes, opfert ihm die eigene Karriere, das eigene Talentt. Wie oft ist das früher geschehen, wie oft geschieht das heute noch.

Nachdem ich den Film „Die Frau des Nobelpreisträgers“ gesehen habe, habe ich auch den Roman von Meg Wolitzer gelesen – und so eine Autorin entdeckt, die ich bisher nicht kannte.

Die Autobiographie von Hape Kerkeling werde ich sicher nicht lesen. Aber der Film: „Der Junge muss an die frische Luft“ hat mich und alle, denen ich ihn empfohlen habe, begeistert. Schon allein wegen der tollen Schauspieler, allen voran Julius Weckauf, der den kleinen Hape spielt. Ein Film, in dem Lachen und Weinen ganz nah beieinander liegen, in einem Säckchen sind, wie es früher bei uns hieß.

Und nach vier überzeugenden Filmen war da noch Film Nummer 5. Kein Spiel-, sondern ein Dokumentarfilm: Ein Mann wandert 700 km durch den Harz und filmt sich und die Landschaft dabei. Eine gute Idee eigentlich, aber gut gedacht ist ja bekanntlich das Gegenteil von gut gemacht. Eine Werbung für den Harz war der Film meiner Meinung nach nicht. Das lag vielleicht auch daran, dass es auf der Tour gefühlt fast immer regnete. Aber Freunde, die fast alle Strecken selbst gewandert sind, behaupten, sie hätten auf ihren Touren bessere Aufnahmen gemacht und schönere Stellen gefunden als die gezeigten.

Ein Ereignis war der Kinobesuch trotzdem, denn so einen Ansturm habe ich selten erlebt. Vor dem Kino bildete sich schon eine dreiviertel Stunde vor Beginn eine Schlange, die vom Eingang im Hinterhof bis zur Straße reichte. So etwas habe ich zuletzt bei der Rocky Horror Picture Show in meiner Studentenzeit in den Siebzigern erlebt. Wer keine Karte reserviert hatte, musste draußen bleiben. Und als der Film mit Verspätung um viertel nach sieben startete, standen draußen noch immer Leute Schlange, die sich Karten für die Zusatzvorstellung am Sonntag sichern wollten. Wenn ich gewusst hätte, was mich erwartet, hätte ich zumindest einen der Wartenden glücklich gemacht, ihm meine Karte verkauft und vielleicht ganz nebenbei eine neue Karriere als Schwarzmarkthändlerin gestartet.

Oh say can you see

Zugegeben, ich war nie ein besonderer Fan der USA: Die Vereinigten Staaten von Amerika waren für mich nie das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, sondern vielmehr der beschränkten, außer man ist weiß und reich oder ungeheuer ehrgeizig und machtbesessen. Oder am besten alles gleichzeitig.

Vielleicht liegt meine Skepsis an den ersten politischen Ereignisse, die ich mit den USA verbinde: Das waren die Attentate auf Martin Luther King und Robert F. Kennedy im Jahr 1968 – und im gleichen Jahr bei den Olympischen Spielen in Mexiko die Black-Panther-Demonstration bei der Siegerehrung des 200-m-Laufs.

Wie groß muss der Leidensdruck sein, die Diskriminierung, wenn ein Sportler das, wofür er sich jahrelang gequält hat, was eigentlich das größte ist, was er in seinem Sportlerleben erreichen kann – eine olympische Medaille mit all den (wirtschaftlichen) Möglichkeiten, die sie eröffnet –, aufs Spiel setzt.

Sportler gegen Diskriminierung

Tommie Smith und John Carlos haben für ihren Protest einen hohen Preis gezahlt. Das IOC mit Präsident Avery Brundage – ja, der Brundage, der gegen den Hitlergruß deutscher Sportler bei der Olympiade 1936 in Berlin nichts einzuwenden hatte – reagierte harsch: Es  bestand darauf, dass die beiden aus der US-amerikanischen Mannschaft ausgeschlossen wurden. In den USA wurden die beiden lange angefeindet, Carlos fand trotz seines Erfolgs keinen angemessenen Job, seine Frau ist möglicherweise  an dem Druck zerbrochen. Sie nahm sich das Leben.  Immerhin: 40 Jahre später wurden Smith und Carlos mit dem Arthur Ashe Courage Award ausgezeichnet.

An diesen Protest erinnere ich mich jetzt, wenn ich die Bilder der Footballspieler sehe, die aus Protest gegen die Rassendiskriminierung beim Abspielen der Nationalhymne knien – und dafür von ihrem Präsidenten beschimpft werden. Trump forderte die Football-Profiliga NFL auf, die „Hurensöhne“ zu feuern. Es sei eine totale Respektlosigkeit gegenüber allem, „für das wir stehen“. Sagt ein Präsident, der gerade dabei ist, die Welt in Brand zu stecken. Der mich dazu bringt, einmal und sicher zum einzigen Mal in meinem Leben eine Aussage des nordkoreanischen Diktators Kim für richtig zu halten. Und wenn es nicht so traurig und so hochgefährlich wäre, könnte man darüber lachen, wie sich die beiden Männer als Wahnsinnigen und als senilen geistesgestörten Greis bezeichnen. Sie kapieren nicht, wie recht der andere (ausnahmsweise) mal hat – und offenbar auch nicht, dass die Bomben, mit denen sie sich gegenseitig drohen, viel gefährlicher sind als die, die in der amerikanischen Hymne besungen werden.

Pflicht, die Regierung abzuschaffen

Womit ich wieder bei der Ausgangsüberlegung angekommen wäre, warum ich diese Zeilen überhaupt schreibe, obwohl dieser Blog weitgehend politikfrei ist: Nein, ich war nie ein besonderer Fan der USA, aber eines habe ich immer geschätzt: die folgenden Sätze in der declaration of independence. Ich habe sie als Schülerin auswendig gelernt und kann sie immer noch zitieren (keine Angst, ich habe mein Gedächtnis und die folgenden Zeilen überprüft: “We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness. — That to secure these rights, Governments are instituted among Men, deriving their just powers from the consent of the governed, — That whenever any Form of Government becomes destructive of these ends, it is the Right of the People to alter or to abolish it, and to institute new Government.”

Papier ist, das weiß man, geduldig, die hehren Ziele offenbar nichts als Makulatur. Thomas Jefferson würde sich im Grab rumdrehen, wenn er seine Vereinigten Staaten erleben müsste, davon bin ich überzeugt. Es wäre höchste Zeit, dass die Amerikaner, die so viel Wert darauf legen, dass die Symbole ihres Staates, Flagge und Hymne, respektiert werden, sich auf das besinnen, was in ihrer Verfassung steht: die Gleichheit der Menschen, ihr Recht auf  Leben, Freiheit und das Streben nach Glück und die Pflicht, eine Regierung, die das gefährdet, zu ändern oder abzuschaffen.

(Kleine Notiz am Rande:

Die Football-Liga NFL hat Trumps Äußerungen verurteilt, die Spielergewerkschaft will das Recht der Spieler auf freie Meinungsäußerung schützen. Aber Colin Kaepernik, der zuerst kniend protestierte, ist derzeit vereinslos.)

 

Prämien-Dumping made by DFB

Eigentlich wundert es mich nicht. Der Deutsche Fußball Bund geht mit schlechtem Beispiel voran! 37.500 Euro Siegprämie erhält jede Spielerin, wenn die Mannschaft – oder Frauschaft – in der nächsten Woche Europameisterin wird. Erreichen die Fußballerin das Finale, gibt es für jede 20.000 Euro, fürs Halbfinale 10.000 Euro.

Das ist zwar für Ottilie Normalverdienerin sehr viel Geld, aber auf den direkten Vergleich kommt es an: Bei der Europameisterschaft der Männer im vergangenen Jahr hätte jeder Spieler 300.000 Siegprämie bekommen. Hätte, hat aber nicht, weil Jogis Jungs eben im Halbfinale ausgeschieden sind. Der Einzug ins Halbfinale hat jedem Spieler immerhin 100.000 Euro gebracht. DFB-Schatzmeister Reinhard Grindel bezeichnete das damals als „maßvolle, vernünftige Regelung“– und er rechnete es den Spielern hoch an, dass sie nicht mehr verlangten als bei der EM von 2012. Die Prämien der Frauen sind im Vergleich dazu geradezu ein Schnäppchen.

Um den gender pay gap – also den Lohnunterschied zwischen Frauen und Männern – auszurechnen, braucht man kein Mathestudium, sondern es genügen ein Abi am AVG in Trier* und ein Taschenrechner: Er beträgt für den Titel 87,5 Prozent, für den Einzug ins Halbfinale 90 Prozent. Zum Vergleich: Durchschnittlich verdienten Frauen in Deutschlande 2016 brutto 21 Prozent weniger als Männer. Das toppt der DFB mit seinen Prämien locker.

Die Nationalspielerinnen laufen wegen dieser Benachteiligung nicht etwa Sturm – aber stürmen ist ja auch auf dem Platz derzeit nicht ihre Stärke. Und sie drohen, anders als die amerikanischen Eishockey-Nationalspielerinnen vor der Weltmeisterschaft im März, nicht etwa mit Streik. Im Gegenteil: Sie sind sehr zufrieden und dankbar.

„Das ist eine riesige Wertschätzung vom DFB“, soll die zum Mannschaftsrat gehörende Sara Däbritz gesagt haben. Immerhin bekommen die Fußballerinnen 15.000 Euro mehr Siegprämie als bei der letzten EM – damals gab es nur 22.500 Euro. Zum Vergleich: Jogis Jungs hätten auch 2012 schon 300.000 Euro für den Titel bekommen.

Geld bekommen Sara Däbritz und ihre Mitspielerinnen übrigens nur, wenn sie auch das Spiel gegen Dänemark am Sonnabend gewinnen. Auf eine Prämie für den Einzug ins Viertelfinale haben die Fußballerinnen freiwillig verzichtet. „Wir haben es bewusst so gemacht, dass wir erst ab dem Halbfinale honoriert werden, weil wir einen hohen Anspruch an uns selbst haben. Wir wissen, was in uns steckt.“ Ihren gut bezahlten männlichen Kollegen sind solch hohen Ansprüche fremd: Die ließen sich im vergangenen Jahr den Einzug ins Viertelfinale mit 50.000 Euro honorieren – 20.000 Euro mehr, als die Frauen für den Titelgewinn erhalten.

Es ist bei den Fußballerinnen also nicht anders als im richtigen Berufsleben: Frauen haben hohe Anforderungen an sich selbst; ihre finanziellen Ansprüche sind indes bescheiden.

Übrigens: Schuld am riesigen Gender Prämien gap ist angeblich die UEFA, die bei den Männern 27 Millionen Euro Siegprämie ausschüttete, bei den Frauen nur 1,2 Millionen. Doch es hätte dem nicht gerade armen DFB gut angestanden, ein positives Zeichen zu setzen. Gegen die Diskriminierung, für die Gleichberechtigung. Doch die Chance haben die Herren vom DFB – und leider auch die Nationalspielerinnen – vertan.

*Auguste Viktoria Gymnasium; frei nach Franz Müntefering, der allerdings die an der Volksschule Recklinghausen für ausreichend hielt.

Hidden Figures – mehr als ein Film

Im Kino: Sehr sehenswert: Hidden Figures oder auf Deutsch: Unerkannte Heldinnen. Der Film erzählt – nach einem Buch vorn Margot Lee Shetterly – die Geschichte von Katherine Johnson, Dorothy Vaughan  und Mary Jackson. Die drei Mathematikerinnen arbeiteten für die NASA und hatten wesentlichen Anteil an den erfolgreichen Weltraum-Missionen der Amerikaner.

Katherine Johnson, Dorothy Vaughan und Mary Jackson und ihre afroamerikanischen Kolleginnen gab es wirklich. Als die Computer das Laufen gerade erst lernten, stellten „(human) computer“ – so hießen sie wirklich – die notwendigen Berechnungen an. Das hatte Tradition: Seit dem Kriegseintritt der USA im Jahr 1941 warb die US-Army systematisch Frauen  mit College-Abschlüssen in Mathematik an. Sie berechneten vor allem Geschossbahnen. Bei Kriegsende arbeiteten rund 80 Frauen als Computer im Ballistic Research Laboratory. Übrigens: Auch in Deutschland waren die mathematischen Fähigkeiten der Frauen seit den 30er Jahren begehrt; etwa 70 Mathematikerinnen und „technische Rechnerinnen“ sollen im Zweiten Weltkrieg an Aufträgen der Luftfahrtindustrie und für das V2-Raketenprogramm gearbeitet haben.

Notiz nahm von den Leistungen der Frauen bei der NASA kaum jemand, den Ruhm heimsten die Männer ein – die Astronauten oder die männlichen Vorgesetzten. Afro-Amerikanerinnen hatten es in Zeiten der Apartheid besonders schwer. Katherine Johnson, Heldin des Films, schaffte als einzige schwarze Frau den Sprung von den human Computern in eine andere Abteilung; einfach weil sie so gut war. Ihre Abhandlung „Bestimmung des Azimutalwinkels beim Brennschluss, um einen Satelliten über einer ausgewählten Position der Erde zu platzieren (was immer das heißt und bedeutet)“ war grundlegend für die bemannte Raumfahrt. Dass John Glenn 1962 als erster Amerikaner die Erde in einem Raumschiff umkreiste und wieder heil landete, war auch ihr zu verdanken, ebenso  wie später die Mondlandung und andere Weltraummissionen. Für ihre Leistungen als Pionierin der Raumfahrt erhielt Katherine Johnson 2015 von Präsident Barack Obama die Presidential Medal of Freedom, eine der höchsten zivilen Auszeichnungen der USA.

Hidden Figures erinnert nicht nur an die hervorragenden  Leistungen der (schwarzen) Mathematikerinnen, sondern vor allem auch daran, wie sehr die Rassentrennung das Leben Anfang der 60er Jahre in den USA bestimmte. Farbige mussten in Bussen hinten sitzen, die schwarzen Mathematikerinnen mussten wegen der Rassengesetzte  in  separaten Büros und Einheiten arbeiten. Sie durften nicht einmal die Toiletten der weißen Frauen  benutzen. Mary Jackson musste sich die Teilnahme an Abendkursen an der weißen Uni vor Gericht erstreiten und Dorothy Vaughan durfte zwar ihre Arbeitseinheit leiten, wurde aber lange nicht als „head computer“ bezahlt. Denn Führungspositionen waren für schwarze Frauen nicht vorgesehen.  Es sind die kleinen Szenen, die den Film so eindrucksvoll machen: Wie  die weißen Kollegen reagieren, als Katherine Johnson sich Kaffee aus ihrer Thermoskanne nimmt (sie trinken nicht mehr aus der Kanne) oder wie selbstverständlich Dorothy Vaughan von ihrer weißen „Vorgesetzten“ mit Vornamen angesprochen wird.

Dass die Rassentrennung in öffentlichen und öffentlich zugänglichen Einrichtungen in den USA erst 1964 aufgehoben wurde, hatte ich schon fast vergessen, obwohl ich es als Kind mitbekommen habe: Erst am 2. Juli 1964 – 99 Jahre, nachdem die Sklaverei in den Vereinigten Staaten abgeschafft worden war – unterzeichnete Präsident Johnson den Civil Rights Act, eines der wichtigsten Bürgerrechtsgesetz. Auch die Diskriminierung von Farbigen am Arbeitsplatz ist seitdem verboten. Die Wirklichkeit sieht allerdings anders aus. Polizeikontrollen – die Auftaktszene im Film – sind auch heute noch für Schwarze gefährlich. Und das Kabinett von Donald Trump ähnelt dem NASA-Team im Film: fast nur weiße Männer.

Selbst in der Kunst spielen Schwarze bislang meist nur eine Nebenrolle. So gibt es nur wenige schwarze Oscarpreisträger – die meisten der Wenigen haben die Auszeichnung für Nebenrollen erhalten. Der Film Hidden figueres ist für den Oscar, der in der Nacht zum Montag verliehen wird nominiert, außerdem Octavia Spencer, die die Computerexpertin Dorothy Vaughn spielt, als beste Nebendarstellerin. Verdient hätten es Film und Schauspielerin.

Frontal-Streik

Eigentlich gehört Frontal 21 zu meinen Lieblingssendungen. Ich finde das  investigative Magazin mit Ilka Brecht wirklich toll – nicht nur wegen der ebenso witzigen wie wahren toll-Beiträge von Werner Doyé und Andreas Wiemers am Ende der Sendung.

Toll ist leider auch das Urteil im Arbeitsgerichtsprozess der Frontal-Reporterin Birte Meier. Birte Meier, die unter anderem 2015 mit ihrem Kollegen Christian Esser den Deutschen Wirtschaftsfilmpreis in der Kategorie Langfilm gewann und im vergangenen Jahr die Affäre „Rent a Sozi“ aufdeckte, hat gegen ihren Arbeitgeber ZDF geklagt. Genau gesagt gegen ihren Auftraggeber, denn Birte Meier ist freie Mitarbeiterin, wenn auch die vertraglich festgelegte Arbeitszeit von 40 Stunden pro Woche wenig Freiheit für andere Aufträge lässt – vor allem angesichts der Tatsache, dass Überstunden in der Branche fast selbstverständlich sind. Das sagt einiges über die Arbeitsbedingungen in den Medien, auch in den öffentlich-rechtlichen, die ja eigentlich Vorbild sein sollten. Aber das ist ein anderes Thema.

Am 1. Februar hat das Arbeitsgericht Berlin Birte Meiers Klage gegen das ZDF abgewiesen – sowohl die Forderung nach 70.000 Euro Entschädigung wegen Ungleichbezahlung als auch den Auskunftsanspruch über das  Gehalt ihrer männlichen Kollegen. Sie konnte nach Einschätzung des Gerichts nicht belegen, dass sie wirklich weg ihres Geschlechts benachteiligt wurde. Dazu hätte sie Vergleichszahlen benötigt, die das ZDF aber laut Urteil nicht rausrücken muss – und auch nicht rausrückt.  Hier beißt sich die Katze in den Schwanz.

Gute Leistung, Preise und die Anerkennung der Kolleg/innen schützen nicht vor schlechter Bezahlung. Und so stellte Birte Meier fest,  dass sie deutlich weniger verdiente als ihre männlichen Kollegen, obwohl sie die gleiche Tätigkeit ausübte. Das  wollte sie nicht länger hinnehmen.  Sie versuchte, neu über ihr Gehalt zu verhandeln, und klagte, als das nicht klappte, gegen die Benachteiligung. Sie berief sich dabei auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs – vergeblich.

Dass Birte Meier weniger verdient als männliche Kollegen, bestritt das ZDF nicht. Doch dafür gibt  es angeblich gute Gründe: Der eine war fest angestellt, der andere schon länger im Betrieb. Der dritte hatte vielleicht eine längere Nase oder konnte vielleicht besser verhandeln, wie der zuständige Richter mutmaßte.

Richter Ernst fand ich besonders toll: Er sprach offen aus, was viele andere nur denken, zum Beispiel dass Schwangerschaften und Kindererziehungszeiten (zu Recht) dazu führen, dass Frauen weniger Berufserfahrung haben und weniger verdienen als ihre männlichen Kollegen. Nun ist Birte Meier kinderlos und es ist auch nicht zu erwarten, dass sie mit 45 Jahren noch allzuoft schwanger wird. Und selbst wenn erschließt sich mir nicht, warum eine künftige Schwangerschaft dazu führt, dass sie in der Vergangenheit weniger verdiente. Wirklich toll.

Einen Job-to-Job-Vergleich, bei dem Arbeiten von zwei Mitarbeitern verglichen werden, verhinderte der Arbeitsrichter mit seinem Urteil – Birte Meier hat danach keinen Auskunftsanspruch, obwohl der nach Rechtsprechung des europäischen Gerichtshofs durchaus besteht, wenn sich ein/e Mitarbeiter/in benachteiligt fühlt. Aber wen interessiert schon Europa?! Und wen Lohngerechtigkeit?

Nach EU-Recht gilt übrigens auch, dass es nicht auf den Status des Arbeitnehmers ankommt, sondern auf den Wert der Arbeit. Aber dieser Gedanke macht Leuten, die für Anwesenheit, nicht für Ergebnisse bezahlt werden, sicher Angst.

Das neue Entgeltgleichheitsgesetz, das im März verabschiedet werden soll, hilft übrigens Frauen nicht unbedingt weiter. Danach wird es in Betrieben mit mehr als 200 Mitarbeitern ein Auskunftsrecht über gezahlte Gehälter geben. Weil die Daten aber anonymisiert werden, nutzen sie vor Gericht wenig, da Richter konkrete Vergleiche fordern. Ein Verbandsklagerecht, mit dem Vereine, Verbände oder Gewerkschaften bei diskriminierenden Lohnstrukturen klagen können, ist nicht vorgesehen. Mutige Frauen, die (nicht nur) um ihr Recht kämpfen, müssen das allein tun und zahlen wahrscheinlich einen hohen Preis.

Birte Meiers Prozess geht vermutlich in die zweite Runde vor dem Landesarbeitsgericht. Einen Vergleichsvorschlag des ZDF hat sie abgelehnt. Sie will weiter für Frontal arbeiten, auch wenn das ZDF am liebsten auf ihre Mitarbeit verzichten und das Arbeitsverhältnis mit der preisgekrönten Reporterin gerne lösen würde. Spätestens wenn das geschieht, werde ich in einen Frontal-Streik treten, auch wenn  ich das investigative Magazin eigentlich toll finde.

Von brotlosen Künsten …

… und warum es sich vielleicht doch lohnt, seinem bliss zu folgen.

Vor ein paar Tagen habe ich mir im Fernsehen einen Dokumentarfilm über das Aufnahmeverfahren der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover angesehen. Wer einen der zehn Studienplätze bekommen will, muss in drei Runden seine „besondere künstlerische Befähigung zur Schauspielerin, zum Schauspieler“ nachweisen. Ich habe keine Ahnung von Schauspielkunst und war ziemlich beeindruckt, wie begeistert und gut vorbereitet die jungen Frauen und Männer waren. Ihre Auftritte hatten eine ganz andere Qualität als die Darbietungen der Selbstdarsteller bei Castingshows wie DSDS. Wer durchkommt, bekommt einen Studienplatz und lernt einen Beruf, der keine besonders rosigen Berufsaussichten bietet.

Natürlich gibt es (einige wenige) Großverdiener und einige mehr, die recht gut verdienen . Aber viele (die meisten?) können von ihrem Verdienst als SchauspielerInnen nicht leben und halten sich finanziell mit anderen Jobs über Wasser.

Am gleichen Abend habe ich ein Interview mit einer jungen deutschen Schauspielerin gesehen, die bereits in vielen Filmen mitgespielt hat. Sie bekommt 1.300 Euro Tagesgage, doppelt so viel wie die Mindestgage, die  laut Tarifvertrag für Schauspieler – ja, auch den gibt es – bei 775 Euro liegt. Das klingt nach viel, aber es relativiert sich, wenn man bedenkt, dass zwischen den Engagements oft viele Tage ohne Engagement und ohne Bezahlung liegen.

Unbefristet waren nach einer Studie zur Arbeits- und Lebenssituation von Schauspielerinnen und Schauspielern (Bema-Studie) gerade mal 4,9 Prozent der Befragten beschäftigt, 36,2 Prozent waren unständig beschäftigt, 46,1 Prozent selbstständig – was wahrscheinlich gleichbedeutend ist mit nicht ständig. Und auch der Verdienst im Traumberuf SchauspielerIn war alles andere als traumhaft: 68,1 Prozent der Befragten hatten in den letzten 12 Monaten bis zu 30.420 Euro verdient – brutto. Die Wirklichkeit sieht noch trauriger aus: Bei fast der Hälfte (45,8 Prozent) waren es weniger als 15.000 Euro.

Und noch ein paar Zahlen: Laut Künstlersozialkasse betrug das durchschnittliche Jahreseinkommen der Versicherten im Bereich Darstellung Anfang 2016 15.581 Euro – bei den Schauspielerinnen waren es sogar nur 12.594 Euro (aber das ist ein anderes Thema). Nur die freien Musikerinnen und Musikerinnen verdienten noch weniger: durchschnittlich 13.317 Euro im Jahr. Das reicht mancherorts nicht einmal, um die Miete zu bezahlen.

Unter den Blinden ist der einäugige König, heißt ein altes Sprichwort. Und so sind die Versicherten im Bereich Wort – Leute wie ich, also Autoren, Journalisten, Lektoren, Übersetzer, Korrektoren usw. – Großverdiener unter den KSK-Versicherten mit durchschnittlich 19.603 Euro Jahreseinkommen (!). Ich kenne viele, die dafür nicht aufstehen und nicht arbeiten würde. Von wegen Mindestlohn.

Fazit: Kunst ist (oft) brotlos, egal in welchem Bereich. Vom Schreiben können die meisten ebenso wenig leben wie vom Musikmachen, vom Malen oder eben vom Schauspielern. Dabei möchte doch kaum jemand auf Bücher, Bilder, Musik; Filme oder Theater verzichten.

Fast hab ich gewünscht, dass die jungen Leute, die mir in dem Film besonders engagiert und begabt schienen ausscheiden. „Lernt was Anständiges“, wollte ich ihnen zurufen. Studiert Medizin, BWL oder Maschinenbau. Oder Jura: Da könnt ihr bei Auftritten vor Gericht euer Schauspieltalent beweisen. Vielleicht könnt ihr auch Lehrer – da spielt ihr zwar immer vor dem gleichen Publikum, verdient aber mehr und braucht nicht immer neuen Engagements nachzujagen. Das zermürbt auf Dauer (glaubt mir, ich weiß, wovon ich spreche). Aber wahrscheinlich haben die SchauspielerInnen in spe den guten Rat schon von ihren Eltern gehört und ihn ebenso in den Wind geschlagen wie ich selbst vor gefühlt 100 Jahren.

Nein, ich bin nicht Schauspielerin geworden (dafür habe ich gar kein Talent, das ist der Welt erspart geblieben), sondern verdiene mein Geld als Journalistin, Lektorin und Korrektorin. Ich mag meinen Beruf nach all den Jahren noch und ich würde mich wieder dafür entscheiden, wenn ich auch manches anders machen würde. Und ich hoffe, dass es den Jungs und Mädchen, die ich in dem Dokumentarfilm gesehen habe, ähnlich geht. Trotz der Unsicherheit, der schlechten Bezahlung.

Übrigens: Nach der Bema-Studie würden 84,9 Prozent nochmal Schauspielerin oder Schauspieler werden, nur 15,1 Prozent nicht. Vielleicht ist es also doch richtig, das zu tun, woran das Herz hängt.

Hier noch ein Gedicht von Friedrich von Schiller. Er wusste, was er schrieb. Schiller hat zwar Medizin studiert, sich dann aber  doch gegen den festen Job und die sicheren Einnahmen als Militärarzt und für die Kunst entschieden. Zum Glück, nicht nur für ihn.

http://www.ub.uni-heidelberg.de/wir/geschichte/schiller.html