Wenn Männer Frauen die Welt erklären

Vor ein paar Tagen habe ich auf spiegel.de zufällig den Artikel „Mansplaining auf TikTok“ gelesen. Als die Profigolferin und Golflehrerin Georgia Ball einen Abschlag filmt, um ihren mehr als 150.000 Followern auf TikTok zu zeigen, wie frau es richtig macht, wird sie von einem Mann unterbrochen. Er erklärt ihr, was sie ändern und besser machen sollte. Er wisse, wovon er spreche, schließlich spiele er seit 20 Jahren Golf (https://www.spiegel.de/netzwelt/apps/profi-golferin-georgina-ball-mit-mansplaining-hit-auf-tiktok-vielen-dank-fuer-ihren-ratschlag-a-0a5c7115-5e0a-41bc-b4df-679d3c9fe4c7?utm_source=pocket-newtab-de-de). Stoppen lässt er sich bei seinen Belehrungen nicht: Was zählen schon Ausbildung, Erfolge oder auch Titel einer Frau gegen die geballte männliche Erfahrung.

Was Mansplaining ist, erklärt der Autor (tmk – Torsten Kleinz) in seinem Artikel: „Dabei setzen insbesondere ältere Männer voraus, dass ihr Gegenüber inkompetent oder unerfahren ist, drängen ihre Ratschläge auf und reagieren dabei nicht auf zarte Hinweise.“ Rebecca Solnit erwähnt er dagegen nicht. Die bekannte amerikanische Schriftstellerin und Essayistin hat das Wort, das sich aus den Worten Man (Mann) und explaining (erklären) zusammensetzt, zwar nicht erfunden. Aber sie hat in ihrem Essay „Men Explain Things to Me“ – „Wenn Männer mir die Welt erklären“* – das Phänomen, das viele Frauen kennen, beschrieben und weltweit zum Gesprächsthema gemacht.

Rebecca Solnit erlebte vor mehr als 20 Jahren, an einem Sommertag im Jahr 2003, Ähnliches wie Georgia Ball. Der Gastgeber einer Party fragte sie, damals schon eine renommierte Autorin, worüber sie schreibe. Als Rebecca Solnit ihr kurz zuvor veröffentlichtes Buch über den Foto-Pionier Eadweard Muybridge nannte, empfahl er ihr ein „ausgesprochen wichtiges Buch“, das sie unbedingt lesen müsse. Hinweise, dass seine Gesprächspartnerin eben jenes Buch geschrieben hatte, überhörte „Mr. Wichtig“ geflissentlich.

Rebecca Solnit schildert die Episode in ihrem Essay, den sie erst ein paar Jahre später, dann aber in nur wenigen Stunden schrieb. „Dieser Essay wollte niedergeschrieben werden“, schreibt sie im Postskkriptum zum Essay: „Kein anderer Text, den ich je geschrieben habe, hat solche Verbreitung gefunden. Er hatte eine Saite angeschlagen. Einen Nerv getroffen.“

Men Explain Things to Me“ wurde zunächst nur online auf der unabhängigen Website TomDispatch veröffentlicht. Auf der Website Guernica bekam er dann „im Lauf der Jahre Millionen Klicks, weil die Erfahrungen und Situationen, die ich beschrieb, so brutal alltäglich waren, aber kaum Beachtung fanden“, so Rebecca Solnit in ihrem Buch Unziemliches Verhalten. Das Wort „Mansplaining“ wurde laut Wikipedia in Australien zum Wort des Jahres 2014 gekürt. „In der Begründung der Jury hieß es, Mansplaining sei ein ‚dringend erforderliches, klug geprägtes Kunstwort, das auf eingängige Weise die Idee der herablassenden Erklärweise einfinge, die manche Männer nur allzu häufig Frauen gegenüber an den Tag legen‘.“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Mansplaining)

Selbst wenn sie wissen, dass ihr weibliches Gegenüber Expertin auf einem Gebiet ist, meinen manche Männer, dass die Frau auf (männliche) Hilfe angewiesen ist. Sie sei als Referentin zu einer Veranstaltung eingeladen worden, erzählte mir eine Informatikprofessorin. Weil bis zum Beginn ihres Vortrags noch Zeit war, schaltete sie ihren Computer auf Stand-by. Als der Bildschirm schwarz wurde, sprang ein Mann aus dem Publikum auf, lief zum Pult und wollte sich an ihrem Computer zu schaffen machen – um der Computerexpertin bei ihrem vermeintlichen Computerproblem zu helfen. Das habe sie natürlich verhindert, erklärte die Professorin. „Ungefragt den Computer einer Informatikerin anfassen geht gar nicht!“

Merke: Selbst Doktor- und Professorinnentitel schützen Frauen nicht vor Männern, die ihnen die Welt und ihr Fachgebiet erklären wollen.

*Dieser Artikel enthält unbezahlte Werbung

Der Essay „Wenn Männer mir die Welt erklären“ wurde erstmals 2014 auf Deutsch im gleichnamigen Buch veröffentlicht. Es enthält außerdem sechs weitere Essays von Rebecca Solnit.

Rebecca Solnit: Wenn Männer mir die Welt erklären. Essays. Aus dem amerikanischen Englisch von Kathrin Razum und Bettina Münch. Mit Bildern von Ana Teresa Fernandez. Btb Verlag, München 2017, 12 Euro.

Der von Georgia Ball veröffentlichte Vidoclip wurde laut Spiegel.de bis zur Veröffentlichung des Artikels am 25. Februar elf Millionen Mal auf TikTok angesehen, auf Instagram erreichte Ball zwölf Millionen Nutzerinnen und Nutzer – inzwischen dürften es viel mehr sein. Wer will, kann sich den Film in der Ard-Mediathek ansehen unter https://www.ardmediathek.de/video/morgenmagazin/profispielerin-georgia-ball-ueber-ungewollte-tipps/das-erste/Y3JpZDovL3Nwb3J0c2NoYXUuZGUvc3BvcnRzY2hhdS1mZm1wZWctdmlkZW8tNDM0MjI0Nzc

Ach Paula oder „Ich werde noch was“

Paula Modersohn-Becker gehört nicht zu meinen LieblingsmalerInnen, oder soll ich sagen, gehörte. Denn natürlich habe ich mir die Ausstellung ihrer Bilder im Landesmuseum in Hannover angesehen. Schließlich zählt Paula-Modersohn Becker zu den bedeutendsten Künstlerinnen der Zeit um 1900 – sie war eine der ersten ExpressionistInnen in Deutschland, wenn nicht die erste überhaupt. Und mich beeindruckt die Zielstrebigkeit, ja Besessenheit, mit der sie ihren Weg ging, an sich und ihr Talent glaubte – zu einer Zeit, in der Kunst vorwiegend Männersache war.

Frauen durften um die Jahrhundertwende noch nicht an Kunstakademien studieren. Wie viele andere Malerinnen, despektierlich Malweiber genannt, nahm auch Paula Becker privaten Malunterricht und besuchte nach ihrer Lehrerinnenausbildung die Zeichen- und Malschule des Vereins der Berliner Künstlerinnen. An der „Damenakademie“ hatte vor Paula Becker auch Käthe Kollwitz ihre Ausbildung begonnen und später unterrichtet.

Worpswede besuchte die junge Malerin erstmals im Sommer 1897 mit ihren Eltern , ein Jahr später zog sie zunächst vorübergehend, später dauerhaft in die Künstlerkolonie. Sie nahm Zeichenunterricht bei Fritz Mackensen, lernte ihre Freundin Clare Rilke-Westhoff und auch den elf Jahre älteren  Maler Otto Modersohn kennen, den sie 1901 heiratete. Modersohn erkannte ihr Talent, schätzte den Austausch mit ihr und unterstützte sie auch finanziell.

„Wundervoll ist dies wechselseitige Geben und Nehmen; ich fühle, wie ich lerne an ihr und mit ihr. Unser Verhältnis ist zu schön, schöner als ich je gedacht, ich bin wahrhaft glücklich, sie ist eine echte Künstlerin, wie es wenige gibt in der Welt, sie hat etwas ganz Seltenes. […] Keiner kennt sie, keiner schätzt sie – das wird anders werden“, schrieb er am 15. Juni 1902 in sein Tagebuch.

Anders wurde das leider erst nach ihrem Tod im November 1907. Zu ihren Lebzeiten konnte Paula Modersohn-Becker gerade mal eine Handvoll Bilder verkaufen, für die meisten ihrer Worpsweder Malerkollegen war sie nur die Frau von Otto Modersohn. Doch davon ließ sie sich ebenso wenig dauerhaft entmutigen wie von den teilweise vernichtenden Kritiken. Mutig setzte sie sich über viele Konventionen hinweg – künstlerisch und gesellschaftlich.

„Sie haßt das Conventionelle und fällt nun in den Fehler alles lieber eckig, häßlich, bizarr, hölzern zu machen. Die Farbe ist famos, aber die Form? Der Ausdruck! Hände wie Löffel, Nasen wie Kolben, Münder wie Wunden, Ausdruck wie Cretins. Sie ladet sich zuviel auf.“, notierte Otto Modersohn im September 1903 in seinem Tagebuch und fügt hinzu „Rath kann man ihr schwer ertheilen, wie meistens“(zitiert nach https://de.wikipedia.org/wiki/Paula_Modersohn-Becker).

„Daß ich mich verheirate, soll kein Grund sein, daß ich nichts werde“ schrieb Paula im November 1900 an ihre Mutter, die ihre künstlerische Ausbildung förderte und ihre Tochter bestärkte, die Kunst nicht aufzugeben. Auch nach der Heirat malte Paula weiter, sie behielt ihr eigenes Atelier, reiste und lebte mehrere Monate allein in Paris. Inder französischen Hauptstadtentdeckte sie unter anderem die Werke von Paul Cézanne und Paul Gauguin, besuchte Kurse an privaten Akademien, unter anderem Anatomie- und Aktkurse in der École des Beaux-Arts – und malte als erste Künstlerin Selbstakte, unter anderem das »Selbstbildnis mit rotem Blütenkranz.

„Ich werde noch etwas. Wie groß oder wie klein, dies kann ich selbst nicht sagen, aber es wird etwas in sich Geschlossenes“, schrieb Paula im Januar 1906 aus Paris an ihre Mutter. Sie sollte recht behalten: Als sie mit 31 Jahren im November 1907 kurz nach der Geburt ihrer Tochter starb, hinterließ sie rund 800 Gemälde und 2.500 Zeichnungen.

„Es ist nicht auszudenken, was noch alles entstanden wäre, wenn sie noch länger gelebt hätte. Sie träumte in den letzten Monaten viel von Italien, das sie nie gesehen, von Akten im Freien, von großfigurigen Bildern. Man kann nur ahnen, was sie der Welt noch geschenkt hätte“, schrieb Otto Modersohn (Ein Buch der Freundschaft, 1932, zitiert nach https://de.wikipedia.org/wiki/Paula_Modersohn-Becker).

Nach Paulas Tod organisierten er und Heinrich Vogeler mehrere Ausstellungen, durch die einige Sammler auf sie aufmerksam wurden und ihre Bilder kauften. Unter anderen auch der hannoversche Keksfabrikant, Mäzen und Kunstsammler Hermann Bahlsen. Er schenkte dem Landesmuseum 1910 zwei Bilder von Paula Modersohn-Becker: Das „Stillleben mit Schellfisch“ (das ich persönlich überhaupt nicht mag) und seine ursprüngliche Rück- oder Vorderseite „Rotes Haus mit Birke“. Sie bildeten den Grundstein der Sammlung, die derzeit 39 Gemälde von Paula Modersohn-Becker umfasst und damit laut Landesmuseum die „weltweit größte Sammlung außerhalb Bremens“ ist.

„Die Hannoveraner Modersohn-Becker-Sammlung besticht durch internationale bekannte Hauptwerke wie das »Selbstbildnis mit Hand am Kinn«, aber auch durch eine beeindruckende Themenvielfalt. Sie umfasst Werke aus dem gesamten Schaffensprozess der Künstlerin: Von Landschaftsbildern über Stillleben und Darstellungen von Frauen und Kindern ist alles vertreten“, heißt es in der Pressemitteilung des Museums zu Ausstellung.

Mir hat die Ausstellung gefallen. So gut, dass ich sicher noch mal hingehen werde, bevor sie Ende Februar schließt. Denn manches Bild erschließt sich erst auf den zweiten Blick. Und Paula Modersohns Weg als Künstlerin verdient die Aufmerksamkeit allemal. Oder um Falko Mohrs, den Niedersächsischen Minister für Wissenschaft und Kultur, zu zitieren: „Paula Modersohn-Becker war eine mutige Künstlerin, die sich gegen gesellschaftliche Konventionen stellte und als Frau an der Spitze der Entwicklung der Moderne in Deutschland stand. … Mit ihrer ungeheuren Schaffenskraft und inneren Stärke kann Paula Modersohn-Becker uns allen als Vorbild dienen.“ Dem ist eigentlich nichts mehr hinzuzufügen.

Die Ausstellung im Landesmuseum ist noch bis zum 25. Februar zu sehen.

Reise in die Antike

Kurz bevor meine Museumscard nach einem Jahr abläuft, war ich endlich wieder einmal im Kestner Museum. Mein letzter Besuch dort liegt sicher Jahre zurück. Dabei liegt das Museum August Kestner, wie es offiziell heißt, auf dem Weg zur Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek, wo ich häufig Bücher ausleihe, und ganz in der Nähe des Maschteichs, an dessen Ufer ich im Sommer gerne sitze.

Dass ich so oft an diesem Museum vorbei- und nie hineingegangen bin, liegt sicher auch daran, dass mich die vier Sammlungen, die dort gezeigt werden – Antike und Ägyptische Kulturen, Angewandte Kunst und Design sowie Münzen und Medaillen – nicht so sehr interessieren. Gelohnt hat sich der Besuch im ältesten städtischen Museum Hannovers trotzdem – nicht nur, aber auch wegen der beiden Sonderausstellungen, die zurzeit dort gezeigt werden.

Die Ausstellung  „Personaggi | Persönlichkeiten. Der Abstieg der Mädchen von den Vasen“ gibt – ausgehend von Darstellungen auf antiken griechischen Gefäßen – einen Einblick in den Alltag junger Frauen und Mädchen im klassischen Griechenland. Und sie informiert über Normen und Rollenerwartungen, in denen sie gefangen waren.

Über gesellschaftliche Normen und Behinderungen wegen ihres Geschlechts mussten sich noch mehr als 2.000 Jahre später auch die elf Pionierinnen in der Archäologie hinwegsetzen, an die die Ausstellung „Ein gut Theil Eigenheit – Lebenswege früher Archäologinnen“ erinnert. Weil Frauen in Deutschland erst seit 1900 studieren durften, waren Archäologinnen wie Ida von Boxberg (1806 bis 1893) oft Autodidaktinnen. Ihre Forschungen wurden, so verraten die Texte zur Ausstellung, zwar durchaus geschätzt, die Frauen und ihre Leistungen gerieten aber oft in Vergessenheit.

Die Ausstellung, die noch bis Anfang nächsten Jahres im Kestner Museum zu sehen ist, ist Bestandteil des Forschungs- und Vermittlungsprojekts „AktArcha – Akteurinnen archäologischer Forschung zwischen Geistes- und Naturwissenschaften: im Feld, im Labor, am Schreibtisch“. Weitere Informationen über Archäologinnen und das Projekt, das im Themenschwerpunkt „Frauen in Wissenschaft, Forschung und Innovation: Leistungen und Potenziale sichtbar machen, Sichtbarkeit strukturell verankern“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung gefördert wird, gibt es unter https://archaeologinnen-lebenswege.de/.

Wiederentdeckt: Ein Zimmer für sich allein

Eigentlich war es Zufall, dass ich Virginia Woolfs „Ein Zimmer für sich allein“ jetzt wieder gelesen und wiederentdeckt habe. In ihrem Buch „FrauenZimmerSchreiben“* schreibt die Herausgeberin Christiane Palm-Hoffmeister als Einleitung einen Brief an die Autorin des viel zitierten Essays.

Ich habe Virginia Woolfs Buch zum ersten Mal während des Studiums gelesen, auf Englisch, wie die 1977 gekaufte Penguin-Ausgabe von „A Room of One‘s Own“ verrät. 1989 habe ich mir dann eine Ausgabe auf Deutsch gekauft, weil mein Englisch inzwischen etwas eingerostet war. Für ein eigenes Zimmer war damals in unserem Haus kein Platz, weil wir drei Kinderzimmer brauchten. Als gemeinsames Arbeitszimmer diente meinem Mann und mir zeitweise ein Teil des Wohnzimmers, den wir mit Regalen und einer Sperrholzwand provisorisch abgetrennt hatten. Aber lieber arbeitete und schrieb ich auf dem freien Platz neben der Treppe, wo auch jetzt wieder ein Schreibtisch steht. Eigentlich brauche ich diesen Schreibplatz nicht mehr, denn ich habe inzwischen sogar zwei Arbeitszimmer für mich allein. Und ich muss – anders als damals – nicht mehr Kinder, Haushalt und Beruf unter den bekannten Hut bringen.

Vielleicht liegt es am freieren Teilzeit-Rentnerinnen-Leben, dass ich Virginia Woolfs Essay diesmal an einem Tag und in einer halben Nacht gelesen habe. Vielleicht kam die Anregung aber auch gerade zur richtigen Zeit. In den vergangenen Jahren hatte ich mehrere Wieder-Lese-Versuche gestartet und das Buch dann – unausgelesen – zur Seite gelegt.

Mir war vor allem der Satz im Gedächtnis geblieben, der dem Essay seinen Namen gab: „Eine Frau braucht Geld und ein eigenes Zimmer, um schreiben zu können“ (Seite 3)**. Dabei ist wirklich bemerkens- und lesenswert, wie treffend und umfassend Virginia Woolf schon in den Zwanzigerjahren die Situation von Frauen in der Literatur und im Leben beschrieben und analysiert hat. „In der Poesie füllt sie (die Frau) Bände, in der Geschichte kommt sie nicht vor“, schreibt sie. Und im richtigen Leben wurden und werden Mädchen und Frauen häufig „eingesperrt, geschlagen und durchs Zimmer geschleudert“ (Seite 49).

Zwar hat sich vieles geändert, seit Virginia Woolf ihren Essay schrieb. Doch manches ist leider noch so aktuell wie vor fast hundert Jahren. In Deutschland wird laut BMFSFJ „etwa jede vierte Frau … mindestens einmal Opfer körperlicher oder sexualisierter Gewalt durch ihren aktuellen oder durch ihren früheren Partner“ (https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/themen/gleichstellung/frauen-vor-gewalt-schuetzen/haeusliche-gewalt/formen-der-gewalt-erkennen-80642). Und obwohl es zumindest hierzulande inzwischen selbstverständlich ist, dass Mädchen und Frauen zur Schule gehen, studieren, einen Beruf lernen und berufstätig sind, sind Frauen auch heute noch das arme Geschlecht. So verdienten Frauen nach Angaben des Statistischen Bundesamts (Destatis) im vergangenen Jahr in Deutschland pro Stunde 18 Prozent weniger als Männer (https://www.destatis.de/DE/Themen/Arbeit/Verdienste/Verdienste-GenderPayGap/_inhalt.html). Ein Teil der Lohnunterschiede kann durch Lohn- und Gehaltsunterschiede in verschiedenen Berufen und Branchen erklärt werden. Anders als von Virginia Woolf vorausgedacht, gibt es nämlich immer noch typisch weibliche und typisch männliche Berufe. Und ErzieherInnen, Kranken- oder AltenpflegerInnen werden auch heute noch schlechter bezahlt als AutomechanikerInnen oder InstallateurInnen. Aber selbst wenn sie die gleiche Arbeit leisten, verdienen Frauen oft weniger als ihre männlichen Kollegen. Das liegt sicher auch daran, dass Männer oft selbstsicherer sind und sich und ihre Leistung besser verkaufen können.

Verwunderlich ist das nicht: Jahrhundertelang wurde behauptet, dass Frauen Männern mental, moralisch, physisch und intellektuell unterlegen sind. Dieses Vorurteil hat sich, so scheint es, bei beiden Geschlechtern ins kollektive Gedächtnis eingebrannt. Wenn Männer „ein Zimmer betreten, sagen sie sich, ich bin der Hälfte der Menschen hier überlegen, und deshalb sprechen sie voller Selbstvertrauen, voller Selbstgewissheit“, schreibt Virginia Woolf (S. 41). Dieses Gefühl sei wahrscheinlich „eine der Hauptquellen“ männlicher Macht (S. 39).

„Frauen haben in all diesen Jahrhunderten als Spiegel gedient, ausgestattet mit der magischen und köstlichen Kraft, die Gestalt des Mannes doppelt so groß wiederzugeben“, schreibt sie. „Welchen Nutzen Spiegel in zivilisierten Gesellschaften auch haben mögen, für jede gewalttätige und heroische Tat sind sie unabdingbar. Deshalb bestehen Napoleon und Mussolini so emphatisch auf der Unterlegenheit der Frauen, denn wären sie nicht unterlegen, würden sie nicht länger vergrößern“ (S. 40f). Dem ist mit Blick auf die großen und kleinen Mussolinis und Napoleons unserer Zeit nichts hinzuzufügen. Oder nur, dass es sich wirklich lohnt, Virginia Woolfs Essay wieder zu lesen.

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**Zitiert nach Woolf, V. (2019). Ein Zimmer für sich allein (Kampa Pocket) (German Edition) [Kindle Android version]. Retrieved from Amazon.com, übersetzt von Antje Ravik Strubel


Ein Tag im Jahr: Der 27. September

Als ich heute Morgen das Datum meiner Morgenseiten schrieb, wurde es mir bewusst: Heute ist DER 27. September, also der Tag im Jahr, den Christa Wolf ihr ganzes Schriftstellerinnenleben lang – von 1960 bis 2011 – beschrieben hat. Maxim Gorki hatte die Schriftsteller der Welt 1935 dazu aufgerufen, diesen Tag zu porträtieren, die Istwesja hatte den Aufruf 1960 wiederholt (https://timetoflyblog.com/27-september-ein-tag-im-jahr). Ich bin erst vor zwei Jahren durch Christa Wolfs Buch „Ein Tag im Jahr“* auf den Tag aufmerksam geworden – und will die Tradition fort.

Vor einem Jahr, am 27. September 2021, gab der Bundeswahlleiter morgens um 06:00 Uhr das vorläufige Ergebnis der Wahl zum 20. Deutschen Bundestag am 26. September 2021 bekannt: Die SPD war mit 25,7 Prozent der Stimmen knapp stärkste Fraktion vor CDU/CSU mit 24,1 Prozent. Olaf Scholz wurde Bundeskanzler, auch wenn das am 27. noch nicht alle wahrhaben wollten.

Ein Jahr später hat Italien gewählt, und wie in Schweden vor einer Woche haben auch in Italien die rechten Parteien die Wahl gewonnen. Die post-faschistischen Fratelli d’Italia sind stärkste Fraktion, dass mit Giorgia Meloni die Brüder anführt und wohl erstmals eine Frau italienische Ministerpräsidentin wird, macht die Sache leider nicht besser. Bleibt nur die Hoffnung, dass sich auch diese Regierung – wie viele italienische vor ihr – nicht allzu lange an der Macht hält. Die Wahlbeteiligung lag bei gerade mal 64 Prozent – laut ZEIT ein „historischer Tiefstand“. Zum Vergleich: An der Bundestagswahl vor einem Jahr beteiligten sich 76,6 Prozent der Wahlberechtigten. Und die AfD kam auf „nur“ 10,3 Prozent.

Halbwegs gute Nachrichten aus Russland: Viele Männer entziehen sich der Teilmobilmachung durch Flucht ins Ausland, in Russland selbst protestieren immer mehr Menschen gegen den Ukrainekrieg – Tausende wurden und werden verhaftet. Trotzdem gehen die Scheinreferenden in den annektierten ukrainischen Gebieten weiter und enden heute. Das Ergebnis steht ohnehin schon fest. Christa Wolf, da bin ich sicher, würde sich im Grabe umdrehen angesichts dieser russischen Politik.

Auch im Iran rumort es: Vor allem Frauen, aber auch viele Männer gehen auf die Straße. Anlass der Demonstrationen gegen die rigiden Kleiderordnungen und das Mullah-regime war der Tod von Mahsa Amini. Die junge Frau war von den Revolutionswächtern verhaftet worden, weil sie ihr Kopftuch „unislamisch“ trug, und in der Haft gestorben. Dass Männer im Iran für Frauenrechte demonstrieren oder gar feministische Parolen rufen, wäre eigentlich eine sehr gute Nachricht, wenn das Regime nicht so gewaltsam gegen die DemonstrantInnen vorgehen würde. Mehr als 30 Menschen sind bereits gestorben, und laut HAZ plant die „iranische Justizbehörde Sondergerichte zur Aburteilung von festgenommenen Demonstrantinnen und Demonstranten“, die in den Augen der Machthaber „Anführer der vom Ausland angeheuerten Unruhestifter“ sind. Was für ein Privileg ist es, in einem Land wie Deutschland zu leben.

Insgesamt war der 27. September 2022 ein eher unspektakulärer Tag, das Protokoll in Kurzfassung. Yoga und Morgenseiten, wie an jedem Morgen, Kaffee trinken, Zeitung lesen. Weil die Artikel der Zeitschrift, die ich gemeinsam mit meiner Kollegin Foe Korrektur lese, auf sich warten lassen, habe ich den den Tag mit Haus- statt Berufsarbeit – das wird künftig, wenn ich Rentnerin bin, häufiger so sein. Ich habe gewaschen, geputzt, auf- und umgeräumt. Ich habe eingekauft und gewählt, weil ich am Wahltag im nächsten Monat nicht in Burgwedel bin. Wenn ich diesen Blog geschrieben und online gestellt habe, lese ich: den Roman von Marion Brasch über ihre fabelhafte Familie: „Ab jetzt ist Ruhe“.

Womit wir wieder beim 27. September wären. Marion Braschs Bruder, der Schriftsteller Thomas Brasch, hat ein Gedicht mit dem Titel „Der schöne 27. September“ geschrieben; zu dem gleichnamigen Gedichtband, der 1980 im Suhrkamp Verlag erschienen ist, hat Christa Wolf das Nachwort geschrieben.

https://www.suhrkamp.de/buch/thomas-brasch-der-schoene-27-september-t-9783518223734

Christa Wolf:

Ein Tag im Jahr: 1960-2000 (suhrkamp taschenbuch)

Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (suhrkamp taschenbuch)

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Das Trauerspiel von Afghanistan

Viel ist passiert, seit ich Anfang Juli den letzten Blogbeitrag veröffentlicht habe. Das Ahrtal und Teile von Nordrhein-Westfalen wurden überschwemmt, halbe Dörfer, Häuser, Brücken, Straßen wurden weggerissen, fast 200 Menschen starben. In Griechenland, in der Türkei und in Italien wüten Waldbrände, in Haiti gab es wieder mal ein Erdbeben mit mehr als tausend Toten. Von Klimawandel kann da sicher keine Rede mehr sein, eher von Klimakatastophe.

Eine Katastrophe ist auch das, was derzeit in Afghanistan passiert, und auch diese Katastrophe ist wie die Klimakatastrophe menschengemacht. Derzeit versuchen Tausende Menschen, aus Afghanistan zu fliehen. Sie belagern den Flughafen in der Hoffnung, irgendwie einen Platz in einem Flugzeug zu bekommen, das sie rausbringt aus diesem Land, weg von den Taliban, die die Macht wieder übernommen haben.

Nicht einmal zwei Monate ist es her, seit die letzten westlichen Soldatinnen und Soldaten Afghanistan verlassen haben, die Bundeswehr hat ihren Einsatz am 30. Juni beendet. Damit, dass die Taliban das Land so rasch erobern würden, haben offenbar weder PolitikerInnen noch Militärs gerechnet. Die Soldaten der afghanischen Armee, 20 Jahre lang ausgebildet und ausgestattet von der Nato, haben ihr Land und ihr Volk überhaupt nicht verteidigt, sondern sich und die Waffen kampflos den Taliban übergeben.

Die westlichen Länder haben, so scheint es, wieder einmal auf die Falschen gesetzt. Hinterher ist man natürlich klüger, aber ich bin sicher: Hätten man die Frauen bewaffnet und ausgebildet, sie hätten gewusst, wofür sie kämpfen, und hätten ihre Freiheit verteidigt. Manche, vielleicht sogar viele, wären lieber gestorben, als wieder ungeschützt den Taliban und ihren eigenen Männern, Brüdern, Vätern ausgeliefert zu sein, die gut ausgebildete Frauen mehr fürchten als die Scharia und den islamischen Staat. Der Männern die Macht sichert – im Staat und in der Familie.

Den islamische Staat wollten die USA und die Nato durch ihren Einmarsch im Jahr 2001 zwar verhindern. Doch in den Jahren davor haben sie die radikal islamischen Kräfte gestärkt und gepäppelt. Als nämlich sowjetische Truppen 1979 in Afghanistan einmarschierten, unterstützten vor allem die USA, Pakistan und Saudi-Arabien Guerilla-Gruppen, die gegen die Sowjets kämpften finanziell, materiell und ideologisch: Sie lieferten Waffen, bildeten die Kämpfer aus, die sich damals noch Mudschahedin nannten, und investierten Millionen in gewaltverherrlichende Lehrbücher, die afghanischen Schulkindern und afghanische Flüchtlingen in Pakistan die Lehre vom Dschihad, dem Heiligen Krieg, nahebringen sollten. Zumindest das ist offenbar sehr gut gelungen, und wenn Wikipedia recht hat, verwendeten auch die Taliban die von den USA produzierten Bücher.

https://de.wikipedia.org/wiki/Mudschahid#Mudschahidin_in_Afghanistan

Jetzt versuchen die Nato-Staaten, ihre Staatsangehörigen und zumindest einige AfghanInnen, die für sie gearbeitet haben, und deren Familien in Sicherheit zu bringen. Ob das gelingt, ist mehr als fraglich, denn auch am Flughafen gilt das Recht der Stärkeren. Viele Männer drängen sich vor, Frauen und Kinder zuletzt. Dabei müssten sie als Allererste außer Landes gebracht werden. Denn was mit den Frauen und Mädchen passiert, die in den letzten Jahren zur Schule gehen, berufstätig sein durften und ein etwas freieres Leben führen konnten, darf frau sich gar nicht ausmalen. Ihre Lage ist wirklich bedrohlich; deshalb möchte ich hier ausnahmsweise für Spenden an den Afghanischen Frauenverein e.V. (AFV) werben https://www.afghanischer-frauenverein.de/.

Der Afghanische Frauenverein fördert seit 1992 gezielt Projekte für Frauen und Kinder in Afghanistan. Jetzt vermittelt er dringend benötigte Hilfe in Form von Flugtickets, Lebensmittel, medizinische Versorgung – und braucht dafür Geld.

Denn nichts ist gut in Afghanistan. Als Margot Käßmann das vor fast zwölf Jahren in ihrer Neujahrsansprache sagte, wurde sie heftig kritisiert. Doch heute stimmen ihre Worte leider mehr denn je. Wer ihre beeindruckende Neujahrspredigt nachlesen möchte, findet sie unter dem folgenden Link

https://www.ekd.de/100101_kaessmann_neujahrspredigt.htm

Und noch etwas hat mich beeindruckt: das Gedicht „Das Trauerspiel von Afghanistan“. Nein, es wurde nicht in den letzten Wochen oder Monaten geschrieben, sondern von Theodor Fontane in der Mitte des vorletzten Jahrhunderts, etwa 1857 bis 1859.

Ich kannte die Ballade nicht, die vom traurigen Ende des ersten anglo-Afghanischen Kriegs erzählt. Ich muss gestehen, dass ich noch nicht einmal wusste, dass die Engländer drei Kriege in/gegen Afghanistan geführt haben, um ihre Vorherrschaft zu sichern und den Expansionsbestrebungen des damals noch von echten Zaren regierten Russischen Reichs Einhalt zu gebieten. Wie sich doch Ursachen und auch Folgen gleichen. The Great Game wurden die Auseinandersetzungen genannt, die für die, die ihre Köpfe hinhalten und ihr Leben lassen mussten, alles andere als ein Spiel waren. Der erste anglo-afghanische Krieg begann 1839 und endete 1842 mit dem Sieg Afghanistans, der vollständigen Vernichtung der Truppen von General William George Keith Elphinstone und dem vorläufigen Rückzug der Briten aus Afghanistan.

Im Januar 1842 traten 12.000 Zivilisten, 690 britische und 2.840 indische Soldaten den Rückzug aus Kabul an, weil die Stadt nach einer Revolte der Bevölkerung nicht mehr zu halten war. Obwohl die britische Führung freies Geleit ausgehandelt hatte, wurde der Zug immer wieder angegriffen; das erste Zwischenziel, das 140 Kilometer entfernte Dschalalabad, erreichte angeblich nur ein einziger Europäer, der junge Militärarzt Dr. William Brydon.

„Vernichtet ist das ganze Heer,
Mit dreizehntausend der Zug begann,
Einer kam heim aus Afghanistan“,

heißt die letzte Strophe von Fontanes Ballade. Wer sie ganz lesen möchte, findet sie unter

http://www.gruene-gruenberg.de/Downloads/afghanistan.pdf

Beim zweiten anglo-afghanischen Krieg von 1878 bis 1880 siegten dann die Briten. Sie annektierten etwa ein Drittel Afghanistans und bestimmten in den nächsten Jahren die afghanische Außenpolitik. Das änderte sich nach dem dritten anglo-afghanischen Krieg (Mai bis August 1919) wieder. Im Frieden von Rawalpindi erkannte Großbritannien Afghanistan provisorisch, im Vertrag von Kabul 1921 dann endgültig als souveränen und unabhängigen Staat an.

Aber auch 100 Jahre nach der Souveränität ist nichts gut in Afghanistan – und von der Unabhängigkeit sind zumindest die afghanischen Frauen leider immer noch unendlich weit entfernt.

Neumz – Frauen singen gregorianisch*

Wenn ich meine Morgenseiten schreibe, höre ich oft Musik – derzeit am liebsten gregorianische Gesänge. Die einstimmige, einförmige, aber nie eintönige Musik hilft mir, ruhig und entspannt in den Tag zu gleiten.

Jetzt, im Februar, ist es früh morgens noch dunkel, nur eine aus der Weihnachtszeit übriggebliebene Lichterkette, Kerzen und mein Bildschirm erhellen mein kleines Schreibzimmer und schaffen eine besondere Atmosphäre: Fast fühle ich mich in eine spärlich beleuchtete Klosterkirche versetzt. Dass es in meinem Zimmer wärmer ist als in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Kirchen, weiß ich durchaus zu schätzen.

Auf meinen CDs singen ausschließlich Männer gregorianische Choräle und Gebete und irgendwie wundert mich das nicht: Denn die (katholische) Kirche tut sich ja bekanntlich seit jeher mit Frauen schwer: „mulier taceat in ecclesia“ – alsoDie Frau möge in der Gemeinde schweigen“ –heißt es bekanntlich im Korintherbrief (1. Kor. 14, 34). Damit ist zwar der Ausschluss der Frau vom kirchlichen Lehr- und Priesteramt gemeint, aber auch in anderen Bereichen, zum Beispiel bei der Kirchenmusik, bleiben Frauen außen vor.  

Dass die bekanntesten Kinderchöre auch heute noch reine „Knabenchöre“ sind, liegt an der Tradition der Chöre: Die reicht zurück bis ins Frühmittelalter und wurde durch die Kirche bestimmt: Damals durften Frauen in den Kirchen auch nicht singen, die Musik während des Gottesdienstes war Männersache. Und natürlich durften zum Beispiel auch bei beim Thomanerchor in Leipzig, bei den Wiener Sängerknaben, den Regensburger Domspatzen, dem Dresdner Kreuzchor oder der Staats- und Domchor Berlin nur Jungs mitmachen. Der Knabenchor der Universität der Künste Berlin muss übrigens auch heute noch – mehr als 550 Jahre nach der Gründung durch Kurfürst Friedrich II. von Brandenburg – keine Mädchen aufnehmen: Die Richter der 3. Kammer des Berliner Verwaltungsgerichts bewerteten die Kunstfreiheit des Chores und seines Leiters höher als das Recht eines Mädchens, nicht wegen seines Geschlechts ausgeschlossen zu werden (Urteil vom 16. August 2019, VG 3 K 113.19). Und auch die anderen Knabenchöre sind mädchenfrei.

Natürlich wurden auch die gregorianische Gesänge meist von Männern gesungen. Benannt sind sie nach Papst Gregor I (590–604), der die kirchlichen Gesänge sammeln und aufzeichnen ließ. Das  geschah seit dem 9. Jahrhundert mit einer neuen Art der Musikschrift. Die Zeichen wurden über dem Text notiert und erleichterten vor allem dem Chorleiter und dem Kantor die Arbeit, denn die sogenannten Neumen – von griechisch νεύμα neuma, deutsch ‚Wink‘ – zeigten seine Winkbewegungen des Dirigenten an. Noten, Notenlinien und Schlüssel wurden erst später erfunden; die Sänger lernten bei doing, also durchs Zuhören und Mitsingen. Um alle gregorianischen Gesänge zu lernen, brauchten die Sänger laut Wikipedia etwa zehn Jahre https://de.wikipedia.org/wiki/Gregorianischer_Choral.

Die Neumen, notenähnliche Zeichen, gaben dem Projekt seinen Namen

Wie umfangreich das Repertoire ist, zeigt auch Neumz, ein spannendes Projekt, auf das ich bei meiner Suche nach von Frauen gesungenen gregorianischen Gesängen gestoßen bin. Ziel des Projekts ist es, alle gregorianischen Gesänge – insgesamt fast 8800 – aufzuzeichnen. Über 7.000 Stunden Audioaufnahmen werden in einer App abrufbar sein, wenn das Projekt 2022 abgeschlossen ist.

Gesungen werden die Gebete, Hymnen, Psalmen, Messgesänge und Chorälen des liturgischen Kalenders nicht von Profis, sondern von den Benediktinerinnen der Abtei Notre-Dame de Fidélité von Jouques in der Provence, aufgenommen werden sie nicht in einem Studio, sondern in der Klosterkirche, quasi do it yourself: Die Nonnen starten die Aufnahmen, wenn sie den Chorraum betreten, und beenden sie, wenn sie ihn wieder verlassen. Deshalb sind die Aufnahmen klanglich vielleicht nicht perfekt, aber authentisch. Gerade das macht das Projekt besonders und einzigartig, auch wenn gelegentlich Nebengeräusche wie Husten, Niesen oder Umblättern der Noten zu hören sind. Darauf, sie wegzuretuschieren, hat das Team um den britischen Musikwissenschaftler und -produzenten John Anderson bewusst verzichtet. Puristen stört’s vielleicht, mich nicht. Im Gegenteil.

John Anderson hat das aufwendige Projekt initiiert und die Nonnen, darunter auch seine Tante, überzeugt, den Aufnahmen und der Veröffentlichung zuzustimmen. Seit Ende vergangenen Jahres gibt es die Gesänge der Nonnen auf mobilen Apps für iOS und Android – inklusive Partituren und Texten auf Latein und übersetzt, unter anderem auch auf Deutsch. Eine Veröffentlichung auf CD ist nicht geplant.

Wer die App abonniert, kann alle Gesänge des dreijährigen Zyklus hören und sich beispielsweise von den gesungenen Stundengebeten der Nonnen durch den Tag begleiten lassen, vom Erstes Morgengebet (Ad Matutinum) am frühen Morgen bis zum Abendgebet Komplett (Ad Completorium). Das möchte ich auf jeden Fall mal versuchen. „Zwei Drittel der Einnahmen aus Abonnements gehen an die Schwestern, um sie und ihre Stiftung Notre Dame de l’Écoute in Benin zu unterstützen“, heißt es auf der Projekt-Website. Dort gibt es auch mehr Infos über gregorianische Musik im Allgemeinen und über das Projekt und das Kloster im Besonderen; auch einzelne Gesänge können dort kostenfrei abgerufen werden.

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Film ab

Durchschnittlich 1,5 mal im Jahr geht – rein statistisch – jede/r Bundesbürger/in jährlich ins Kino, meldete das Statistische Bundesamt, das jetzt DESTATIS heißt, Ende Januar. Ich liege deutlich über dem Durchschnitt.

Seit Anfang des Jahres habe ich mir bereits fünf Filme angesehen. Ich tue also etwas fürs Wohlergehen der Filmbranche.

Die ersten beiden Film erzählten die Geschichte der Schriftstellerinnen Astrid Lindgren und  Colette. Auch bei Film Nummer drei stand eine Frau im Mittelpunkt – die Frau eines erfolgreichen Schriftstellers. Sie tat, was auch Colette am Anfang getan hatte: Sie schrieb  Bücher, die ihr Mann unter seinem Namen veröffentlichte. Während sich aber Colette Anfang des 20. Jahrhunderts befreite und eine erfolgreiche Schriftstellerin wurde, gelingt das Joan Castleman im Roman nicht: Sie bleibt im Schatten ihres Mannes, opfert ihm die eigene Karriere, das eigene Talentt. Wie oft ist das früher geschehen, wie oft geschieht das heute noch.

Nachdem ich den Film „Die Frau des Nobelpreisträgers“ gesehen habe, habe ich auch den Roman von Meg Wolitzer gelesen – und so eine Autorin entdeckt, die ich bisher nicht kannte.

Die Autobiographie von Hape Kerkeling werde ich sicher nicht lesen. Aber der Film: „Der Junge muss an die frische Luft“ hat mich und alle, denen ich ihn empfohlen habe, begeistert. Schon allein wegen der tollen Schauspieler, allen voran Julius Weckauf, der den kleinen Hape spielt. Ein Film, in dem Lachen und Weinen ganz nah beieinander liegen, in einem Säckchen sind, wie es früher bei uns hieß.

Und nach vier überzeugenden Filmen war da noch Film Nummer 5. Kein Spiel-, sondern ein Dokumentarfilm: Ein Mann wandert 700 km durch den Harz und filmt sich und die Landschaft dabei. Eine gute Idee eigentlich, aber gut gedacht ist ja bekanntlich das Gegenteil von gut gemacht. Eine Werbung für den Harz war der Film meiner Meinung nach nicht. Das lag vielleicht auch daran, dass es auf der Tour gefühlt fast immer regnete. Aber Freunde, die fast alle Strecken selbst gewandert sind, behaupten, sie hätten auf ihren Touren bessere Aufnahmen gemacht und schönere Stellen gefunden als die gezeigten.

Ein Ereignis war der Kinobesuch trotzdem, denn so einen Ansturm habe ich selten erlebt. Vor dem Kino bildete sich schon eine dreiviertel Stunde vor Beginn eine Schlange, die vom Eingang im Hinterhof bis zur Straße reichte. So etwas habe ich zuletzt bei der Rocky Horror Picture Show in meiner Studentenzeit in den Siebzigern erlebt. Wer keine Karte reserviert hatte, musste draußen bleiben. Und als der Film mit Verspätung um viertel nach sieben startete, standen draußen noch immer Leute Schlange, die sich Karten für die Zusatzvorstellung am Sonntag sichern wollten. Wenn ich gewusst hätte, was mich erwartet, hätte ich zumindest einen der Wartenden glücklich gemacht, ihm meine Karte verkauft und vielleicht ganz nebenbei eine neue Karriere als Schwarzmarkthändlerin gestartet.

Oh say can you see

Zugegeben, ich war nie ein besonderer Fan der USA: Die Vereinigten Staaten von Amerika waren für mich nie das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, sondern vielmehr der beschränkten, außer man ist weiß und reich oder ungeheuer ehrgeizig und machtbesessen. Oder am besten alles gleichzeitig.

Vielleicht liegt meine Skepsis an den ersten politischen Ereignisse, die ich mit den USA verbinde: Das waren die Attentate auf Martin Luther King und Robert F. Kennedy im Jahr 1968 – und im gleichen Jahr bei den Olympischen Spielen in Mexiko die Black-Panther-Demonstration bei der Siegerehrung des 200-m-Laufs.

Wie groß muss der Leidensdruck sein, die Diskriminierung, wenn ein Sportler das, wofür er sich jahrelang gequält hat, was eigentlich das größte ist, was er in seinem Sportlerleben erreichen kann – eine olympische Medaille mit all den (wirtschaftlichen) Möglichkeiten, die sie eröffnet –, aufs Spiel setzt.

Sportler gegen Diskriminierung

Tommie Smith und John Carlos haben für ihren Protest einen hohen Preis gezahlt. Das IOC mit Präsident Avery Brundage – ja, der Brundage, der gegen den Hitlergruß deutscher Sportler bei der Olympiade 1936 in Berlin nichts einzuwenden hatte – reagierte harsch: Es  bestand darauf, dass die beiden aus der US-amerikanischen Mannschaft ausgeschlossen wurden. In den USA wurden die beiden lange angefeindet, Carlos fand trotz seines Erfolgs keinen angemessenen Job, seine Frau ist möglicherweise  an dem Druck zerbrochen. Sie nahm sich das Leben.  Immerhin: 40 Jahre später wurden Smith und Carlos mit dem Arthur Ashe Courage Award ausgezeichnet.

An diesen Protest erinnere ich mich jetzt, wenn ich die Bilder der Footballspieler sehe, die aus Protest gegen die Rassendiskriminierung beim Abspielen der Nationalhymne knien – und dafür von ihrem Präsidenten beschimpft werden. Trump forderte die Football-Profiliga NFL auf, die „Hurensöhne“ zu feuern. Es sei eine totale Respektlosigkeit gegenüber allem, „für das wir stehen“. Sagt ein Präsident, der gerade dabei ist, die Welt in Brand zu stecken. Der mich dazu bringt, einmal und sicher zum einzigen Mal in meinem Leben eine Aussage des nordkoreanischen Diktators Kim für richtig zu halten. Und wenn es nicht so traurig und so hochgefährlich wäre, könnte man darüber lachen, wie sich die beiden Männer als Wahnsinnigen und als senilen geistesgestörten Greis bezeichnen. Sie kapieren nicht, wie recht der andere (ausnahmsweise) mal hat – und offenbar auch nicht, dass die Bomben, mit denen sie sich gegenseitig drohen, viel gefährlicher sind als die, die in der amerikanischen Hymne besungen werden.

Pflicht, die Regierung abzuschaffen

Womit ich wieder bei der Ausgangsüberlegung angekommen wäre, warum ich diese Zeilen überhaupt schreibe, obwohl dieser Blog weitgehend politikfrei ist: Nein, ich war nie ein besonderer Fan der USA, aber eines habe ich immer geschätzt: die folgenden Sätze in der declaration of independence. Ich habe sie als Schülerin auswendig gelernt und kann sie immer noch zitieren (keine Angst, ich habe mein Gedächtnis und die folgenden Zeilen überprüft: “We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness. — That to secure these rights, Governments are instituted among Men, deriving their just powers from the consent of the governed, — That whenever any Form of Government becomes destructive of these ends, it is the Right of the People to alter or to abolish it, and to institute new Government.”

Papier ist, das weiß man, geduldig, die hehren Ziele offenbar nichts als Makulatur. Thomas Jefferson würde sich im Grab rumdrehen, wenn er seine Vereinigten Staaten erleben müsste, davon bin ich überzeugt. Es wäre höchste Zeit, dass die Amerikaner, die so viel Wert darauf legen, dass die Symbole ihres Staates, Flagge und Hymne, respektiert werden, sich auf das besinnen, was in ihrer Verfassung steht: die Gleichheit der Menschen, ihr Recht auf  Leben, Freiheit und das Streben nach Glück und die Pflicht, eine Regierung, die das gefährdet, zu ändern oder abzuschaffen.

(Kleine Notiz am Rande:

Die Football-Liga NFL hat Trumps Äußerungen verurteilt, die Spielergewerkschaft will das Recht der Spieler auf freie Meinungsäußerung schützen. Aber Colin Kaepernik, der zuerst kniend protestierte, ist derzeit vereinslos.)

 

Prämien-Dumping made by DFB

Eigentlich wundert es mich nicht. Der Deutsche Fußball Bund geht mit schlechtem Beispiel voran! 37.500 Euro Siegprämie erhält jede Spielerin, wenn die Mannschaft – oder Frauschaft – in der nächsten Woche Europameisterin wird. Erreichen die Fußballerin das Finale, gibt es für jede 20.000 Euro, fürs Halbfinale 10.000 Euro.

Das ist zwar für Ottilie Normalverdienerin sehr viel Geld, aber auf den direkten Vergleich kommt es an: Bei der Europameisterschaft der Männer im vergangenen Jahr hätte jeder Spieler 300.000 Siegprämie bekommen. Hätte, hat aber nicht, weil Jogis Jungs eben im Halbfinale ausgeschieden sind. Der Einzug ins Halbfinale hat jedem Spieler immerhin 100.000 Euro gebracht. DFB-Schatzmeister Reinhard Grindel bezeichnete das damals als „maßvolle, vernünftige Regelung“– und er rechnete es den Spielern hoch an, dass sie nicht mehr verlangten als bei der EM von 2012. Die Prämien der Frauen sind im Vergleich dazu geradezu ein Schnäppchen.

Um den gender pay gap – also den Lohnunterschied zwischen Frauen und Männern – auszurechnen, braucht man kein Mathestudium, sondern es genügen ein Abi am AVG in Trier* und ein Taschenrechner: Er beträgt für den Titel 87,5 Prozent, für den Einzug ins Halbfinale 90 Prozent. Zum Vergleich: Durchschnittlich verdienten Frauen in Deutschlande 2016 brutto 21 Prozent weniger als Männer. Das toppt der DFB mit seinen Prämien locker.

Die Nationalspielerinnen laufen wegen dieser Benachteiligung nicht etwa Sturm – aber stürmen ist ja auch auf dem Platz derzeit nicht ihre Stärke. Und sie drohen, anders als die amerikanischen Eishockey-Nationalspielerinnen vor der Weltmeisterschaft im März, nicht etwa mit Streik. Im Gegenteil: Sie sind sehr zufrieden und dankbar.

„Das ist eine riesige Wertschätzung vom DFB“, soll die zum Mannschaftsrat gehörende Sara Däbritz gesagt haben. Immerhin bekommen die Fußballerinnen 15.000 Euro mehr Siegprämie als bei der letzten EM – damals gab es nur 22.500 Euro. Zum Vergleich: Jogis Jungs hätten auch 2012 schon 300.000 Euro für den Titel bekommen.

Geld bekommen Sara Däbritz und ihre Mitspielerinnen übrigens nur, wenn sie auch das Spiel gegen Dänemark am Sonnabend gewinnen. Auf eine Prämie für den Einzug ins Viertelfinale haben die Fußballerinnen freiwillig verzichtet. „Wir haben es bewusst so gemacht, dass wir erst ab dem Halbfinale honoriert werden, weil wir einen hohen Anspruch an uns selbst haben. Wir wissen, was in uns steckt.“ Ihren gut bezahlten männlichen Kollegen sind solch hohen Ansprüche fremd: Die ließen sich im vergangenen Jahr den Einzug ins Viertelfinale mit 50.000 Euro honorieren – 20.000 Euro mehr, als die Frauen für den Titelgewinn erhalten.

Es ist bei den Fußballerinnen also nicht anders als im richtigen Berufsleben: Frauen haben hohe Anforderungen an sich selbst; ihre finanziellen Ansprüche sind indes bescheiden.

Übrigens: Schuld am riesigen Gender Prämien gap ist angeblich die UEFA, die bei den Männern 27 Millionen Euro Siegprämie ausschüttete, bei den Frauen nur 1,2 Millionen. Doch es hätte dem nicht gerade armen DFB gut angestanden, ein positives Zeichen zu setzen. Gegen die Diskriminierung, für die Gleichberechtigung. Doch die Chance haben die Herren vom DFB – und leider auch die Nationalspielerinnen – vertan.

*Auguste Viktoria Gymnasium; frei nach Franz Müntefering, der allerdings die an der Volksschule Recklinghausen für ausreichend hielt.