Kunst am Baum

Der Alte Park an der Thönser Straße in Großburgwedel ist gerade mal einen halben Hektar groß – klein für einen Park, aber recht ansehnlich für eine Galerie. In die verwandelt sich der kleine Park seit 2008 für ein paar Wochen am Ende des Sommers mit der Freiluftausstellung Parkomanie. Mit seinen Ausstellungen möchte der Veranstalter, der Kunstverein Burgwedel-Isernhagen, „dazu beitragen, Hemmschwellen abzubauen, indem sich die Kunst in den öffentlichen und frei zugänglichen Raum, also zum Menschen hin, begibt“, heißt es in der Ausschreibung (https://www.kunstverein-bwi.de/ausstellungen-veranstaltungen-kunstfahrten-2023/). Die Parkomanie sei „ein gezielter Beitrag, Kunst ohne Zwang zu erleben und ihr eine größere Wahrnehmung in der Öffentlichkeit – und durch sie – zu ermöglichen“.

Rund um die Uhr können alle, die – absichtlich oder zufällig – im Park sind, die Werke anschauen. Sie hängen an oder stehen, passend zum Ausstellungsthema zwischenraum / space between, zwischen den alten Bäumen. Ich gehe gerne durch den Park – und manchmal nehme ich, bekennende Kunstbanausin, mir auch die Zeit, darüber nachzudenken oder auf den Begleittafeln nachzulesen, was die KünstlerInnen mir sagen wollen. Manches verstehe ich auch ohne Erklärung auf Anhieb, anderes erschließt sich mir erst auf den zweiten Blick oder gar nicht.

Wie achtlos weggeworfene Mülltüten sieht die Upcycling-Skulptur „Aufgeblasen“, aus. Die Berlinerin Pia Höhfeld will damit zum Nachdenken und zur Diskussion über Plastik- und anderen Müll anregen. „Der Müll, den wir weggeworfen haben, nimmt in meiner Kunst wieder Raum ein und konfrontiert uns mit unserem eigenen Konsumverhalten“, schreibt sie in ihrem Statement.

Wie ein Spinnennetz spannt sich der rote Faden von W. van Ravenhorst zwischen den Ästen eines Baumes, schafft Verbindungen, die aber nicht immer von Dauer sind. Schon in der ersten Woche hat sich das Netz sichtbar verändert.

Die Nachricht auf den hoch im Baum hängenden Tüchern kann ich nicht entschlüsseln. Denn sie besteht aus lauter Nullen und Einsen. „Es ist ein Songtext“, verrät Silke Jüngst, aber welcher es ist, bleibt ihr Geheimnis. „Digitale Nachricht auf analogem Material. Ungreifbare Datensätze auf haptischem Untergrund. Schwarz auf Weiß, Null und Eins. Der Text in Binärcode, obwohl direkt vor unseren Augen, bleibt verborgen und ist nur für Eingeweihte lesbar. Die analoge Welt hält mit der digitalen nicht mehr mit. Dazwischen Leerraum, Freiraum, Mut zur Lücke? Raum für neues Denken?“, schreibt die Künstlerin in ihrem Statement zu binary II. Der Gedanke fasziniert mich ebenso wie die Frage, ob Hanno Küblers Skulptur „Ohne Titel (großes Nest) ein künstliches Objekt oder ein wirkliches Nest ist. Dass „das Vogelnest zur Zeit wissenschaftlich untersucht (wird), um zu klären, um welche Vogelart es sich handelt und ob sie aufgrund des Klimawandels hier ansässig wird“, glaube ich allerdings nicht. Aber wer weiß es schon?

Meine Lieblingsskulptur steht direkt am Eingang des Alten Parks. Was „Into the Spaceless“ des Wilhelmshavener Künstlers Weibach2 mir sagen will, bleibt mir trotz der Erläuterungen unverständlich – aber ich muss ja nicht alles verstehen. Die Skulptur, die von allen Seiten anders aussieht, gefällt mir einfach. Und das genügt mir als bekennende Kunstbanausin.

Mehr Informationen

kunstverein burgwedel-isernhagen artclub e.v.

https://www.kunstverein-bwi.de/

Blick zurück nach vorn

Letzte Woche habe ich die beiden letzten Artikel für eine Zeitschrift abgegeben, die ich einige Jahre als verantwortliche Redakteurin betreut habe, heute dann die gestalteten Seiten korrigiert. Jetzt ist dieses Kapitel abgeschlossen. Ich habe vier Jahrzehnte lang mit Schreiben meinen Lebensunterhalt verdient. Jetzt nehme ich keine Schreibaufträge mehr an, sondern schreibe „nur noch“, was mir gefällt. Blogbeiträge wie diesen zum Beispiel.

Ist es Zufall oder ein Zeichen, dass jetzt der richtige Zeitpunkt ist, aufzuhören? Vor genau 40 Jahren, im August 1983, habe ich ein Praktikum im Verlag Heinen, einem kleinen Verlag an der Mosel, begonnen. Das war zwar unbezahlt, aber ich war trotzdem überglücklich. Denn ich wollte auf keinen Fall Lehrerin werden – und Jobs in Verlagen damals waren rar und heiß begehrt. Ohne Praktika oder Kontakte hatte frau keine Chance, den Einstieg ins Verlagswesen oder bei einer Zeitung zu schaffen.

Auch mir hat damals ein Bekannter geholfen: Wir hatten ein paar Jahre zusammen in einer Leichtathletikgruppe trainiert und uns dann während meines Studiums aus den Augen verloren. Bei einem Weinfest trafen wir uns wieder und kamen ins Gespräch: Er erzählte mir, dass er Geschäftsführer eines Verlags sei, ich ihm, dass ich eine Stelle in einem Verlag suchte. So hat alles angefangen.

Ich bin dann wieder zurück in meinen Heimatort gezogen, denn aus dem Praktikum wurde nach drei Monaten ein bezahltes Volontariat. Gelernt habe ich in dem Verlag viel, vor allem „by doing“. Ich war von Anfang an für eine Buchreihe zuständig und habe nicht nur Texte lektoriert, sondern auch viele selbst geschrieben und für die Bücher fotografiert. Drei Jahre lang habe ich an der Mosel gearbeitet und gelebt – wahrscheinlich in dieser Reihenfolge wie so oft, vielleicht allzuoft, in meinem Leben. Dann bin ich der Liebe wegen in den Norden gezogen und habe beruflich neu angefangen.

Meine Erfahrung im Verlag hat mir nach dem Umzug Türen geöffnet. Die vier Bücher, an denen ich als Autorin und Fotografin mitgearbeitet hatte, haben bei Bewerbungen beeindruckt. Trotzdem war die Chance, eine feste Stelle zu finden, als Mutter eines kleinen Kinden gleich null: Krippenplätze gab es damals in meinem neuen Wohnort noch nicht, den ersten Kindergartenplatz bekam meine Tochter mit dreieinhalb Jahren in der Nachmittagsgruppe: Betreuungszeit von 14 bis 17 Uhr. Aber wenn ich wirklich einmal erst um 17 Uhr kam, um Nele abzuholen, erntete ich böse Blicke. Ich hatte als einzige Mutter in meinem Bekanntenkreis meinen Beruf nicht aufgegeben und galt als Rabenmutter, weil ich lieber arbeitete, statt mich um mein Kind zu kümmern. Und ich überließ seine Betreuung „Fremden“, wenn ich Termine hatte oder am Schreibtisch saß – gelegentlich meinen Eltern oder meiner Nachbarin, deren Tochter mit meiner befreundet war, meist aber meinem Mann, also Neles Vater.

Natürlich hatte ich ein schlechtes Gewissen. Dass es eigentlich ein Kompliment, eine Rabenmutter zu sein, wurde mir erst später bewusst. Raben sind nämlich nicht nur sehr intelligent, sondern auch ausgesprochen gute Eltern: Sie kümmern sich sehr lange und intensiv um ihren Nachwuchs; bis zu vier Jahre bleiben die kleinen Raben im Nest und lernen von ihren Eltern in dieser Zeit auch komplexe Dinge (https://www.ardalpha.de/wissen/natur/tiere/intelligenz-kraehen-raben-rabenvoegel-voegel-100.html). Außerdem betreuen Rabenväter und -mütter die Kleinen oft gemeinsam, sind also ein Vorbild in Sachen partnerschaftliche Arbeitsteilung und in der Vereinbarkeit von Beruf und Familie.

Solche Vorbilder braucht es in der Menschenwelt noch immer, auch wenn sich bei der Kinderbetreuung und in der Einstellung zur Erwerbstätigkeit von Müttern in Deutschland vieles geändert hat. Seit zehn Jahren haben Kinder ab dem ersten Geburtstag das Recht auf einen Betreuungsplatz, aber nicht alle bekommen einen. Nach einer Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (https://www.bib.bund.de/Publikation/2022/pdf/15-Jahre-Elterngeld-Erfolge-aber-noch-Handlungsbedarf.pdf?__blob=publicationFile&v=2) arbeiten inzwischen mehr als die Hälfte (56 Prozent) der Mütter mit Kindern unter drei Jahren. Viele Väter nehmen Elternzeit, die meisten der Studie zufolge allerdings nur zwei Monate – und fast immer zusammen mit ihren Partnerinnen. Dass Väter ein ganzes Jahr aus dem Beruf aussteigen und sich hauptberuflich um Haushalt und Kinder kümmern, ist immer noch die Ausnahme. Der Fortschritt ist halt (manchmal) eine Schnecke. Und womöglich dauert es noch einmal vierzig Jahre, bis sich Väter und Mütter die Familien- und Erwerbsarbeit wirklich partnerschaftlich teilen.

Aber vielleicht gelingt der Wandel ja auch schneller. Denn die Arbeitsbedingungen haben sich in vielen Berufen – auch in meinem – rasant geändert. Zwar schrieben wir unsere Texte schon in den 1980-Jahren am Computer, doch sie wurden im Vor-Internet-Zeitalter noch auf Disketten gespeichert und in die Lithoanstalt gebracht oder geschickt. Die dort gefertigten Schwarz-Weiß-Filme montierte mein Kollege, gelernter Schriftsetzer, von Hand mit den Vierfarb-Lithos der Fotos zu (druck)fertigen Seiten. Bei nachträglichen Korrekturen mussten neue Filme gezogen und in die Seiten einmontiert werden – ein ziemlich arbeits- und kostenaufwendiger Prozess. Fotos nachträglich auszutauschen, war für uns völlig tabu. Ein Vierfarb-Litho von einem etwa 10 x 15 cm großen Foto kostete damals rund 400 DM – viel Geld für einen kleinen Verlag mit einem begrenzten Budget.

Längst gebe ich meine Texte selbst in das Layoutprogramm ein und korrigiere die gestalteten Seiten – von meinem Computer zu Hause oder wo immer ich gerade bin. Und auch Fotos können heute ohne großen Aufwand getauscht, vergrößert oder verschoben werden. In manchen Verlagen gestalten die RedakteurInnen die Seiten, Zeitschriften oder ganze Bücher selbst und übernehmen „nebenbei“ viele organisatorische und administrative Aufgaben. Zum Schreiben und zum Redigieren bleibt ihnen oft nur noch wenig Zeit, zu wenig, wie manche bedauern. Und vielleicht übernehmen das Texten in Zukunft künstliche Intelligenzen.

Ich bin gespannt, wo die Reise hingeht, aber ich bin froh, dass ich es ab jetzt von außen beobachten kann. Ich habe die Entscheidung gegen die Schule, für den Journalismus nie bereut. Ich wäre keine gute Lehrerin geworden, aber ich war eine recht gute Journalistin – und ich war es gerne. Recherchieren und schreiben haben mir immer Spaß gemacht – es war für mich mehr als ein Job und ich werde es weiter tun. Aber vier Jahrzehnte „Lohnschreiberei“ sind genug – ich freue mich, dass ich künftig schreiben kann, was und für wen es mir gefällt. Zum Beispiel für die LeserInnen meines Blogs.

In Memoriam: Orlando Orlandi Posti

In meinem Blogbeitrag über die Stadt der Tagebücher im Mai habe ich über die Briefe eines jungen Mannes geschrieben, die mich sehr beeindruckt und an Anne Franks Tagebuch erinnert haben (https://timetoflyblog.com/die-stadt-der-tagebuecher). Seinen Namen hatte ich mir leider nicht gemerkt – es waren wohl einfach zu viele Informationen und Eindrücke an diesem Vormittag. Inzwischen habe ich ihn von Silvia Gennaioli von der Fondazione Archivio Diaristico Nazionale in Pieve Santo Stefano, die mich Anfang Mai durch das Tagebuchmuseum führte, erfahren.

Orlando Orlandi Posti war Student, Mitbegründer der Italienischen Revolutionären Studentenvereinigung (ARSI) und eine der Geiseln, die im Zweiten Weltkrieg von deutschen Soldaten beim Massaker in den Ardeatinischen Höhlen ermordet wurden. Der 17-Jährige wurde Anfang Februar 1944 von der SS verhaftet, als er seine Freunde vor einer geplanten Razzia der deutschen Besatzer im Bezirk Monte Sacro warnen wollte. Während seiner fast zwei monatigen Gefangenschaft in der Via Tasso gelang es ihm, Briefe an seine Mutter zu schreiben und aus dem Gefängnis zu schmuggeln.

Über das Massaker in den Ardeatinischen Höhlen (Fosse Ardeatine) wissen die meisten Menschen in Deutschland wenig oder gar nichts. Ich gebe zu: Auch ich musste zuerst recherchieren, was dort geschehen war, bevor ich diesen Beitrag schreiben konnte. Dabei habe ich mich immer für Geschichte interessiert und das Fach – allerdings vor sehr langer Zeit – studiert.

Am 24. März 1944 ermordeten deutsche Soldaten 335 Menschen –  als Vergeltungsmaßnahme für den Tod von 33 Südtiroler Polizisten, die am Tag zuvor bei einem Bombenanschlag von italienischen Widerstandskämpfern in der Via Rasella ums Leben gekommen waren (https://de.wikipedia.org/wiki/Massaker_in_den_Ardeatinischen_Höhlen). Die Hinrichtungen dauerten einen ganzen Nachmittag; die jüngste ermordete Geisel war 15 Jahre alt, die älteste 74. Orlando Orlandi Posti starb ein paar Tage nach seinem 18. Geburtstag. Seine Träume, nach dem Krieg und der deutschen Besatzung Medizin zu studieren, zu reisen, in Freiheit zu leben, konnte er nicht verwirklichen.

Seine Mörder durften weiter leben, alt werden und in Freiheit sterben. Herbert Kappler, der Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD in Rom, der das Kriegsverbrechen organisierte und einige Geiseln selbst ermordete, wurde zwar 1948 zu lebenslanger Haft verurteilt. Aber er konnte vor seinem Tod im Februar 1978 aus dem Gefängnis fliehen (https://de.wikipedia.org/wiki/Herbert_Kappler). SS-Hauptsturmführer Erich Priebke, der die Erschießungen protokollierte und auch selbst Geiseln erschoss, tauchte nach dem Krieg unter und floh mit seiner Familie nach Südamerika – unterstützt von katholischen Geistlichen. Ein halbes Jahrhundert lebte der Kriegsverbrecher unbehelligt in Argentinien. Erst 1998 wurde er in Italien zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt, die jedoch wegen seines Alters in Hausarrest umgewandelt wurde.

„Im Prozess 1996 vor dem Militärgericht berief sich Priebke auf den Befehlsnotstand“, schrieb Malte Herwig in einem Artikel, der im Oktober 2013, kurz nach Priebkes 100. Geburtstag, im Magazin der Süddeutschen Zeitung erschien (https://sz-magazin.sueddeutsche.de/geschichte/der-letzte-fall-79973). Seine Beteiligung am Massaker bereute er auch kurz vor seinem Tod nicht, ein Fehler sei nur gewesen, dass „Leider Gottes … fünfe zu viel erschossen worden“ sind, nämlich 335 Menschen statt 330: für jeden getöteten Polizisten zehn unschuldige Geiseln. Er bemitleidete nur sich selbst und seine Mittäter. „Für uns war das ja furchtbar“, sagte Priebke, der sich selbst als gläubigen Christ bezeichnete. Mögen er und alle seine Helfer und Helfershelfer ewig in der Hölle schmoren.

Als ich den Artikel las, kam mir der Begriff von der „Banalität des Bösen“ in den Sinn, den die Philosophin Hannah Arendt 1963 beim Prozess gegen Adolf Eichmann prägte. Treffender kann man die „massive Gleichgültigkeit, mit der die Verbrechen begangen“ und die moralische Verantwortung dafür abgegeben wurde, wohl nicht beschreiben (https://www.deutschlandfunkkultur.de/outsourcing-moralischer-verantwortung-die-banalitaet-des-100.html).

2004, zum 60. Jahrestag des Massakers in den Adreatinischen Höhlen, wurden Orlando Orlandi Postis Briefe und Tagebuchnotizen aus dem Gefängnis veröffentlicht. Bislang gibt es das Buch* leider nur auf Italienisch. Aber vielleicht findet sich ja ein Verlag, der zum 80. Jahrestag im März 2024 die „Lettere dal carcere di via Tasso“ ins Deutsche übersetzen lässt und herausgibt. Damit sich künftig auch Menschen in Deutschland an das Kriegsverbrechen erinnern und Orlando Orlandi Posti und die anderen Opfer nie vergessen werden.

*Orlando Orlandi Posti: Roma ’44. Lettere dal carcere di via Tasso di un martire delle Fosse Ardeatine  Italienische Ausgabe, Rom, Donzelli 2004, 9,99 Euro

Hauptsache Lesen

E-Book oder richtiges Buch, das war für mich lange keine Frage. Ich bin ein großer Fan gedruckter Bücher – und ich werde es sicher auch bleiben. Digitale Bücher waren für mich eigentlich immer nur Notlösungen. Ich habe sie gekauft oder geliehen, wenn ich verreist bin und sicher gehen wollte, dass mir der Lesestoff nicht ausgeht. Oder wenn mir die Printversion eines Buchs zu teuer war.

Doch meine Einstellung ändert sich allmählich. Immer häufiger entscheide ich mich aus Überzeugung bzw. aus ganz praktischen Gründen für die digitale Variante. Ich gehöre nämlich zu den Menschen, die in den Büchern, die sie lesen, Spuren hinterlassen. Ich unterstreiche Dinge, die mir wichtig sind, notiere Anmerkungen am Rand oder Zitate auf Karteikarten, die dann leider manchmal verloren gehen.

Markieren und Notieren geht bei E-Books natürlich auch – aber im E-Book kann ich alles wieder spurlos löschen, wenn ich möchte. Was aber viel entscheidender ist: Seit ich einen neuen E-Book-Reader habe, kann ich Markierungen und Notizen mit wenigen Befehlen an meinen Computer senden und die Datei weiterbearbeiten. Weil ich mir einen Arbeitsgang spare, sind E-Books für mich immer öfter erste Wahl, wenn ich ein Buch nicht nur lesen, sondern auch darüber schreiben möchte, wie zum Beispiel letztens über „Ein Zimmer für sich allein“ von Virginia Woolf.

Weit über 100 Bücher im handlichen Taschenbuchformat

Einmal gekauft und abgespeichert, habe ich die Bücher immer dabei – im handlichen Tachenbuchformat, ohne zentnerweise Papier mit mir rumschleppen zu müssen. Und während ich manchmal gefühlt stundenlang in meinen Bücherregalen nach einem bestimmten Buch suche, finde ich meine E-Books problemlos wieder. Das liegt nicht nur daran, dass meine digitale Bibliothek noch recht überschaubar ist. Mein E-Book-Reader ist zugegebenerweise einfach viel ordentlicher und systematischer als ich. Er ordnet Bücher nie falsch ein und auf Knopfdruck sortiert er sie in Sekundenschnelle neu – wahlweise nach Titel, Autor, Aktualität oder vielleicht auch nach anderen Kriterien, die ich bislang nicht entdeckt habe.

Dass ich E-Books im Dunkeln lesen kann, ohne Licht zu machen, ist – gerade wenn wir mit dem Wohnmobil unterwegs sind und auf engem Raum zusammenleben – ein weiterer Vorteil. Wenn ich wach werde, kann ich lesen, ohne Licht zu machen und meinen Mann zu stören. Außerdem sind die elektronischen Buchläden rund um die Uhr geöffnet – auch an Sonn- und Feiertagen. Und so kann ich mir heute, am Welttag des Buches, selbst ein Buch schenken. Schließlich geht der 1995 von der UNESCO eingerichtete Aktionstag für das Lesen, für Bücher und für die Rechte von Autoren auf die katalanische Tradition zurück, am Namenstag des Heiligen St. Georg Rosen und Bücher zu verschenken. Der 23. April ist übrigens nicht nur der Georgstag, sondern laut Wikipedia auch das (vermutete) Geburts- sowie das Todesdatum von William Shakespeare, von Miguel de Cervantes sowie der Geburtstag des isländischen Literaturnobelpreisträgers Halldór Laxness (https://de.wikipedia.org/wiki/Welttag_des_Buches).

Welches Buch ich mir herunterladen werde, weiß ich noch nicht. Vielleicht eines meiner Lieblingsbücher, Fahrenheit 451 von Ray Bradbury. Der Roman spielt in einer totalitären Gesellschaft, in der Lesen verboten ist und Bücher, wenn sie entdeckt werden, verbrannt werden. Eine fürchterliche Vorstellung. Denn die Geschichte hat gezeigt, dass Heinrich Heine recht hatte, als er sagte: „Wo man Bücher verbrennt, verbrennt man irgendwann auch Menschen.“

Was für ein Glück, dass ich in einem Land lebe, in dem ich jedes Buch kaufen und lesen darf, das ich möchte. Ob digital oder ganz klassisch auf Papier ist eigentlich egal – Hauptsache Lesen.

Thema verfehlt?

Ich fürchte, ich bin ein ziemlich langweiliger, fantasieloser Mensch. Das ist mir wieder einmal bewusst geworden, als ich vergangene Woche die Fastenmail von Frank Muchlinsky gelesen habe. „Tun Sie etwas Unvernünftiges!“, lautete die Wochenaufgabe. Ich habe lange nachgedacht, was ich tun könnte und wollte, und ich muss gestehen, dass mir dazu nicht viel – um nicht zu sagen nichts Vernünftiges – eingefallen ist.

Einfach spontan irgendwohin fahren, war mein erster und nicht sonderlich origineller Gedanke. Doch das kam nicht infrage. Denn während mein Mann in Schweden Nordlichtern nachjagte, habe ich das Haus und danach die Katze von Bekannten gehütet. Und außerdem waren da noch zwei Aufträge, die ich – pflichtbewusst wie ich bin – pünktlich abarbeiten wollte. Um einen Bungeesprung zu buchen, bin ich zu feige, um nackt im nächsten See zu baden, ist es mir einfach zu kalt. Bei besserem Wetter gerne – aber nicht, wenn es so regnerisch, grau und trist ist wie zurzeit.

Vielleicht kam mir wegen des schlechten Wetters das Holifest in den Sinn. Das aus der hinduistischen Überlieferung stammende Frühlingsfest wird in Indien traditionell am ersten Vollmondtag des Monats Phalgun, dem 12. hinduistischen Kalendermonat, gefeiert. Bei diesem Fest besprengen und bestreuen sich die Menschen gegenseitig mit gefärbtem Wasser und gefärbtem Puder, dem Gulal.

Das indische Frühlingsfest war in diesem Jahr schon am 8. März, die westlichen Epigonen, die „Holi Festivals of Colours“ mit viel Musik, dafür aber ohne religiösen Hintergrund, finden erst im Sommer in verschiedenen deutschen Städten statt. Ich werde mir sicher kein Ticket kaufen. Denn ich mag weder Menschenmassen noch Elektro, Minimal und House, also die Musik, die im August beim Festival in Hildesheim gespielt wird.

Aber die Idee, die Welt und das Leben etwas bunter zu machen, gefällt mir. Und so habe ich statt mich selbst mit Farbe zu bemalen, eine Buddha-Statue gefärbt. Mit den neuen Farben erinnert mich die Statue ein wenig an die Grüne Tara oder Shyama-Tara (wörtlich: „grüne Befreierin“). Sie ist laut Wikipedia „ein weiblicher, friedvoller Buddha und Bodhisattva des tibetischen Buddhismus“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Grüne_Tara) und wird „verehrt wie kaum ein anderer Bodhisattva“.

Die Grüne Tara soll vor acht Arten der Angst und vor Gefahren schützen, die Weisheit vermehren, zur Erleuchtung führen und Wünsche – auch weltliche – besonders schnell erfüllen. Diese Bereitschaft wird „durch ihre zum Aufstehen bereite Sitzhaltung symbolisiert“. Letzteres passt gut, zu mir: immer auf dem Sprung, allzeit bereit, das zu tun, was man von mir erwartet. Aber es ist ja angeblich nie zu spät, Dinge zu ändern

Meinen Buddha stören meine Farbspiele nicht: Er sitzt und lächelt, ruht in sich – und passt wirklich gut zum Motto der Fastenwoche: Sieben Wochen unverzagt.

PS 1: Allen, die sich wie ich nicht wirklich gut mit Buddhismus auskennen, sei’s gesagt. Als Bodhisattva (sanskrit, der das Wesen der Erleuchtung hat) wird laut Metzler Lexikon Philosophie „ein auf dem Heilsweg Fortgeschrittener bezeichnet, der aus Mitleid (karuṇā) mit den Lebewesen auf die endgültige Buddhaschaft – das Eingehen in das Nirvāṇa – verzichtet, bis er auch ihnen Erlösung verschafft hat“ (https://www.spektrum.de/lexikon/philosophie/bodhisattva/340).

PS 2: Die Wochenaufgabe habe ich zugegebenerweise nicht wirklich erfüllt, das Thema ist wohl verfehlt. Aber ich habe einen Blogbeitrag geschrieben, mehr Farbe in mein Leben gebracht und eine neue Figur. Manchmal muss frau ihre Prioritäten einfach anders setzen und das tun, was ihr in den Sinn kommt – und was ihr gefällt.

Kultur pur

So viel geballte Kultur in einer Woche gönne ich mir selten bis nie: am Mittwoch Kino im Amtshof in Burgwedel, am Samstagabend Mittwochstheater in Hannover-Linden und dazwischen drei Ausstellungen in drei verschiedenen Museen.

Zufall oder nicht: Sowohl der Film, den ich am Mittwoch gesehen habe, als auch das Theaterstück am Samstagabend spielen in Frankreich: „Das Beste kommt noch“ erzählt die Geschichte von zwei sehr ungleichen Freunden. Als einer unheilbar an Krebs erkrankt, möchten die beiden möglichst viel der noch verbleibenden Zeit miteinander verbringen. Sie reisen zusammen in die Vergangenheit und tun, mehr um dem anderen einen Gefallen zu tun als aus Überzeugung, auch Dinge, vor denen sie sich bislang gedrückt haben. Und weil der Kranke meint, nicht er, sondern sein Freund sei todkrank, kommt es zu einigen Missverständnissen.

„Alles was sie wollen“ von Matthieu Delaporte und Alexandre de La Patellière habe ich mir mit einer Schreibfreundin angesehen. Im Mittelpunkt des Stücks steht die berühmte Schriftstellerin Lucie Arnaud, die kurz vor der Premiere ihres neuen Theaterstücks noch kein einziges Wort geschrieben hat.

Schreibblockaden kenne ich, im Mittwochstheater war ich bislang noch nie. Aber mein erster Besuch war sicher nicht mein letzter. Denn die Atmosphäre in dem alten Haus auf dem Lindener Berg gefällt mir: Es erinnert mich ein bisschen an das Unterhaus in Mainz, in dem ich als Studentin – also vor fast 100 Jahren – öfter gewesen bin. Und vielleicht sind die beiden Abstecher nach Frankreich ein Zeichen, dass ich meine Französischkenntnisse aus Realschulzeiten wieder aufbessern sollte. Eine Vokabelbox „Französisch Grundwortschatz“ habe ich letztens vor der Altpapiersammlung gerettet.

Vor der Vorstellung habe ich mir die Doppelausstellung des britischen Malers und Bildhauers Glenn Brown im Landes- und im Sprengel Museum angesehen. Es ist im Übrigen die erste gemeinsame Ausstellung der beiden Museen, die fast direkte Nachbarn sind.

Für die Dauer der Ausstellung – also bis zum 18. Juni – hat Glenn Brown die Kunstsammlungen beider Häuser um 50 eigene Werke erweitert. Die meisten seiner Bilder und Skulpturen wurden bewusst zwischen denen anderer Maler und Bildhauer platziert. Denn Glenn Brown ist, so heißt es in der Pressemitteilung, „bekannt für die Verwendung von kunsthistorischen Referenzen in seinen Gemälden“. Und in einem Interview sagte der Künstler: „Mein Gehirn wurde von anderen Künstlern geformt, sie leben alle in mir. Und ich bin untrennbar mit der Kunstgeschichte verbunden. Alles gehört zusammen.“ Nachzulesen im Ausstellungskatalog.

Ich kannte Glenn Brown und seine Werke bislang nicht – und er wird wohl auch nicht mein Lieblingsmaler. Aber seine Technik und seine Farben haben mich beeindruckt, er erzeugt „in altmeisterlicher Manier mit dünnen, wirbelnden Pinselstrichen … eine fast fotografisch anmutende Oberfläche“. Mein Lieblingswerk ist allerdings kein Bild, sondern eine Skulptur, deren Titel ich mir leider nicht gemerkt habe. Aber da ich ja eine Museumscard habe, werde ich „the real thing“ sicher noch ein zweites Mal besuchen, so wie ich auch ein zweites Mal „Nach Italien“ (https://timetoflyblog.com/nach-italien) gegangen bin. Die Ausstellung, die zur Reise in den Süden einlädt, wurde nämlich bis August verlängert.

Die erste Ausstellung, die ich in der vergangenen Woche besucht habe, war ebenfalls eine Doppelausstellung. Im Museum für Karikatur und Zeichenkunst Wilhelm Busch sind zwei Ausstellungen von insgesamt drei Zeichnern zu sehen. Alles erlaubt“ heißt der Titel des Ausstellungsparts von Achim Greser und Heribert Lenz, die gemeinsam Karikaturen für große deutsche Zeitungen zeichnen.Seit ihrer Zeit bei der Titanic haben Greser & Lenz nach und nach einen gemeinsamen Zeichenstil entwickelt, der inzwischen kaum mehr Rückschlüsse erlaubt, welche Zeichnung von welchem der beiden Zeichner stammt“, ist in der Pressemitteilung des Museums zu lesen. Mir gefallen die Karikaturen sehr gut, spannend finde ich aber auch die ausgestellten Leserbriefe, die zeigen, „welchen Anfeindungen Karikaturist*innen auch in unserer vermeintlich offenen Gesellschaft mitunter ausgesetzt sind“.

Mit den Bildern von Günter Mattei tue ich mich schwerer. Vor allem mit den Tierbildern, ein Schwerpunkt seines Ausstellungsteils „Kommst du“, kann ich wenig anfangen. Aber die Geschmäcker sind eben verschieden, bekanntlich ist ja – um bei Tierbildern zu bleiben – „Wat den Eenen sin Uhl, is den Annern sin Nachtigall“.

Gelohnt hat sich der Besuch im Wilhelm Busch Museum trotzdem. Und auch die Ausstellung werde ich mir sicher noch ein zweites Mal ansehen.

Fastenaktion 7 Wochen Ohne

Am vergangenen Mittwoch, am Aschermittwoch, hat die Fastenzeit begonnen. Und wie in den letzten Jahren habe ich mir auch in diesem Jahr einiges vorgenommen. Eigentlich das Übliche: Ich möchte bis Ostern auf Eis und Süßigkeiten verzichten, ja auch auf meine geliebten sauren Brause-Kaubonbons. Die lasse ich noch problemlos liegen; schwerer – unerwartet schwer – fällt mir dagegen in diesem Jahr der Verzicht auf Schokolade. Noch bin ich tapfer, aber ich bedaure schon jetzt den ersten Schokohasen, der mir am Ostersonntag arglos über den Weg hoppeln wird. Ihm droht ein grausames Schicksal (https://timetoflyblog.com/arme-hasen).

Weil ich mehr Ordnung in meinen Räumen und in meinem Leben schaffen möchte, habe ich mir wieder vorgenommen, mich jeden Tag von etwas zu trennen. Anders als vor zwei Jahren werde ich in diesem Jahr allerdings nicht „ansteigend ausmisten“, das heißt mich in der ersten Woche täglich von einem, in der zweiten Woche dann täglich von zwei Gegenständen usw trennen. Denn das wird spätestens in den beiden letzten Wochen ziemlich stressig.

An den ersten Tagen hat das Wegwerfen recht gut geklappt. Und damit der gewonnene Platz nicht gleich wieder mit anderem gefüllt werden soll, möchte ich auch „konsumfasten“: Ich will mir außer Lebensmitteln und anderen Dingen des „täglichen Bedarfs“ nichts Neues kaufen.* Neues Gebrauchtes ist ebenfalls bis Ostern tabu, weil ich vor allem Bücher, aber auch Kleidung meist secondhand kaufe – nicht nur weil es preiswerter ist, sondern auch, weil viele gebrauchte Sachen noch tadellos erhalten und zum Wegwerfen einfach zu schade sind.

Last, but not least beteilige ich mich auch in diesem Jahr wieder an der Fastenaktion „7 Wochen Ohne“ der evangelischen Kirche. Mit dem Motto „Leuchten! Sieben Wochen ohne Verzagtheit“ fremdle ich allerdings noch ein bisschen. Und die erste Fastenmail, die ich am vergangenen Mittwoch erhalten habe, hat mich auch nicht wirklich erleuchtet. Es gehe darum, „selbst hell zu werden, wenn die Zeiten dunkel sind. Dazu möchten wir Sie in diesem Jahr ermutigen. Lassen Sie uns gemeinsam sieben Wochen lang auf das verzichten, was uns einschüchtern will. Geben wir acht auf alles, was leuchtet, und stellen wir auch unser eigenes Licht nicht unter den Scheffel!“, schreibt Frank Muchlinsky.

Während ich diesen Blogbeitrag schreibe, fällt mir ein, dass ich Letzteres gerade gestern einer Schreibfreundin geschrieben habe. Und vielleicht ist das Motto ja doch genau das richtige für mich. Denn ich bin Meisterin im Sorgen machen: Ich sorge mich um alles Mögliche und Unmögliche. Meist oder zumindest oft erweisen sich die Sorgen im Nachhinein als unbegründet. Also ab jetzt sechs Wochen ohne …

Wer sich für die Fastenaktion interessiert oder mitmachen möchte, kann sich unter 7wochenohne.de informieren und kostenlos anmelden.

* Für mich gilt eigentlich: kein Tag ohne Bücher! Bücher sind aus meinem Leben nicht wegzudenken. Und trotzdem zählen sie weder zu den Lebensmitteln noch zu den Dingen, die gekauft werden dürfen. Also keine neuen Bücher bis Ostern. Aber Ausleihen ist zum Glück erlaubt.

Findiger Heiliger

Eigentlich glaube ich nicht an Heilige. Zumindest nicht wirklich. Ich bin zwar katholisch geboren, aber schon vor langer Zeit – vor fast 30 Jahren – aus der Kirche ausgetreten. Genauer gesagt bin ich in die evangelische übergetreten.

Theologische Feinheiten spielten bei meiner Entscheidung keine Rolle: Ob das Abendmahl eine ständige Wiederholung der Opfer Jesu Christi ist, wie die katholische Kirche es lehrt, oder nur an den Tod und die Auferstehung Jesu erinnert, wie die Protestant:innen glauben, ist mir – wie wahrscheinlich vielen anderen Gläubigen – egal. Ebenso, ob es nur zwei oder sieben Sakramente gibt. Weil ich nach der Scheidung von meinem ersten Mann wieder mit einem anderen Mann zusammenlebe, und zwar in Geschlechtsgemeinschaft!, lebte ich nach der katholischen Lehre „ständig in der schweren Sünde des Ehebruchs“ (https://www.herder.de/stz/wiedergelesen/warum-duerfen-wiederverheiratete-geschiedene-nicht-zu-den-sakramenten-zugelassen-werden/). Aus diesem Grund war ich zumindest von zwei katholischen Sakramenten – der Buße und der Eucharistie – ausgeschlossen. Kurz, ich war exkommuniziert und kein vollwertiges Mitglied der Kirche mehr. Das störte mich zugegebenerweise wenig, weil ich schon lange vor meinem offiziellen Austritt innerlich gekündigt hatte. Und der evangelischen Kirche, der ich jetzt angehöre, war es völlig egal, ob und wie oft ich geschieden oder wieder verheiratet bin. Hier ließen und lassen sich sogar Pfarrer:innen und Bischöf:innen scheiden und gehen neue Verbindungen ein.

In der katholischen Kirche gibt es immer noch keine Pfarrerinnen und Bischöfinnen. Zum Priester oder Höherem geweiht werden nur Männer. Daran hat sich seit der Gründung vor 2000 Jahren nichts geändert – und es soll wohl auch zwei Päpste nach meinem Kirchenwechsel so bleiben. Einer Kirche, die Frauen von allen wichtigen Positionen ausschließt und in der ein Club alter, damals noch vorwiegend weißer Männer alle wichtigen Entscheidungen trifft, gleich, was die Mitglieder wünschen, mochte ich nicht angehören.

In der evangelischen Kirche können geistliche Ämter im Prinzip auf jeden Gläubigen übertragen werden – natürlich auch auf Frauen. Die Pfarrer werden nicht von oben bestimmt, sondern gewählt. Dass die evangelische Kirche das Papsttum ablehnt und nicht für sich beansprucht, die einzig wahre Kirche zu sein, waren auch Gründe, warum ich mich für sie entschieden habe.

Mit meiner neuen Kirche bin ich eigentlich ganz zufrieden. Nur mit den Heiligen tue ich mich zugegebenerweise gelegentlich ein bisschen schwer. Denn die evangelische Kirche lehnt Heiligenverehrung als unbiblisch ab. Die Menschen sollen sich mit ihren Anliegen im Gebet direkt – und ausschließlich – an Gott wenden; katholische Gläubige können dagegen auch ihre Heiligen um Hilfe bitten.

Die Auswahl ist groß. Wie viele Heilige und Selige es in der katholischen Kirche gibt, weiß wohl niemand genau: Schon 2004 waren im Martyrologium Romanum 6.650 Heilige und Selige verzeichnet, inzwischen dürften es ein paar mehr sein (https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Seligen_und_Heiligen). So ist der Papst, der mich mit seinen reaktionären Ansichten zur Weißglut und zum Austritt aus der römisch katholischen Kirche brachte, kurz nach seinem Tod heilig gesprochen worden. Spätestens das wäre für mich ein Kündigungsgrund gewesen.

Je nach Anliegen können unterschiedliche Heilige angerufen werden. Zum heiligen Florian betet man beispielsweise, um sein Haus vor Feuer zu schützen.  Der Heilige Blasius ist zuständig, wenn es um Halsschmerzen, Ersticken und andere Halserkrankungen geht. Das macht Sinn, denn bevor er Bischof und dann gefoltert und hingerichtet wurde, war Blasius Arzt – er soll im Gefängnis einen Jungen, der eine Fischgräte verschluckt hatte, vor dem Erstickungstod gerettet haben. Ob das allein durch sein Gebet geschah oder ob er als Arzt einen rettenden (Ein)Griff kannte, kann ich nicht beurteilen, aber ich halte Letzteres für wahrscheinlich.

Auf dieses Wunder geht der Blasiussegen zurück, der seit dem 16. Jahrhundert erteilt wird. Ich habe den Segen als Kind jahrelang Anfang Februar, am Namenstag des Heiligen, bekommen. Damals fand ich das Ritual mit den beiden gekreuzten Kerzen vor dem Gesicht spannend – ob es gewirkt hat, vermag ich nicht zu beurteilen. Aber ich habe sehr selten Halsschmerzen. Und an einer Fischgräte habe ich mich auch noch nie verschluckt.

An einen anderen Heiligen wende ich mich zugegebenerweise auch noch heute gelegentlich – und ich weiß, dass ich nicht die einzige bin. Der Heilige Antonius hilft angeblich nicht nur bei ernsthaften Problemen wie Unfruchtbarkeit, Fieber, Pest, Schiffbruch, Kriegsnöten und Viehkrankheiten, sondern auch bei eher alltäglichen Dingen, zum Beispiel beim Wiederauffinden verlorener Gegenstände. In Bayern heißt der Heilige Antonius daher auch „Schlampertoni“, im Rheinland „Schussels Tünn“. Das macht ihn irgendwie sympathisch.

Gerade wegen seiner Findigkeit brauche ich gelegentlich die Unterstützung des Heiligen. So hatte ich letztens meine Ohrringe mit den türkisen Steinen verlegt und überall danach gesucht. Ich habe diverse Schmuckkästchen, Schubladen und Taschen mehrmals aus- und wieder eingeräumt. Aber die beiden Stecker blieben verschwunden. Bis ich den Heiligen Antonius um Hilfe gebeten habe.

Gesucht – gefunden

Halbherzig zugegebenerweise, denn ich glaube ja eigentlich nicht an Heilige. Als ich dann ein paar Tage später das Kästchen öffnete, in dem ich meine Ohrringe aufbewahre und das ich schon mehrmals durchsucht und ausgeleert hatte, lag einer der Stecker ganz oben. Den zweiten habe ich dann im gleichen Kästchen entdeckt. Manchmal geschehen eben doch Zeichen und Wunder oder – wie meine Tochter behauptet – manche Gegenstände bewegen sich unabhängig in Zeit und Raum. 

Und weil das gut funktioniert hat, werde ich den Heiligen Antonius vielleicht auch in einer anderen Angelegenheit um Hilfe bitten: Er soll nämlich auch beim guten Altwerden helfen – und da kann ich mit 66 Jahren schon mal Unterstützung gebrauchen.


Blick zurück

Vor ein paar Tagen hat die Polizei begonnen, Lützerath zu räumen, dieses kleine Dorf in der Nähe von Köln am Rande des Tagebaus Garzweiler II – oder das, was davon übriggeblieben ist. Denn die BewohnerInnen sind längst weggezogen – wer lebt schon gern an einer Abbruchkante, Mordor ständig vor Augen

Um zu verhindern, dass RWE die Braunkohle unter dem Dorf abbaggert, hatten KlimaaktivistInnen die leerstehenden Häuser des Dorfes besetzt. Jetzt harren nur noch einige in Baumhäusern und unter der Erde aus. Die KlimaaktivistInnen bezweifeln, dass die dort liegende Kohle für die Energierversorgung Deutschlands wirklich gebraucht wird – und stehen damit nicht allein. Viele WissenschaftlerInnen vertreten die gleiche Auffassung und laut aktuellem ZDF-Politbarometer sind 59 Prozent der befragten BundesbürgerInnen dagegen, dass für die weitere Braunkohlenutzung Abbaugebiete wie Lützerath  ausgeweitet werden. Nicht nur für die KlimaaktivistInnen ist der Deal, den auch die Grünen mit dem Energiekonzern ausgehandelt haben, ein fauler Kompromiss, der verhindert, dass Deutschland seine Klimaziele erreicht, und der das Pariser Klimaabkommen bricht.

Wenn ich die Bilder sehe, werden Erinnerungen wach: Erinnerungen an das Hüttendorf im Flörsheimer Wald und an den Protest gegen die Startbahn West des Frankfurter Flughafens. Das ist so lange her, dass ich nachschlagen muss, wann es war. 1979, lese ich bei Wikipedia, wurde die „Aktionsgemeinschaft gegen die Flughafenerweiterung“ gegründet, aus der wenig später die „Bürgerinitiative gegen die Flughafenerweiterung Frankfurt Rhein-Main“ wurde. Die Protestaktionen gegen die Flughafenerweiterung wurden zu „einer der größten Bürgerbewegungen“ in Deutschland . Brave Bürger:innen gingen auf die Straße und in den Wald, Leute, die älter waren als ich es heute bin und die sich bis dahin nie hätten vorstellen können, mit Demonstranten wie uns und anderen Chaoten gemeinsame Sache zu machen.

Ich wohnte damals ganz in der Nähe, in Mainz, auf der anderen Seite des Rheins. Um die Rodung des Flörsheimer Waldes zu verhindern, bauten die Gegner ein Hüttendorf im Wald. Ein Freund gehörte zu denen, die alarmiert wurden, wenn die Räumung drohte und durch die Anwesenheit vieler Menschen verhindert werden sollte. Und so fuhren wir abends ein paarmal gemeinsam los. 

In den Nächten, die ich im Wald verbrachte, passierte wenig. Alles war friedlich, aber die Stimmung war angespannt. Es war ein merkwürdiges, beklemmendes Gefühl, Wasserwerfern und hunderten von behelmten Polizisten gegenüberzustehen oder zu sitzen, deren Gesichter man hinter den Visieren nicht erkannte – wir Demonstranten sollten unsere Gesichter trotz der Kälte nicht hinter Schals verstecken. Für uns gab es ein Vermummungsverbot.

Als das Hüttendorf am 2. November 1981 geräumt wurde, war ich nicht dabei. Die Startbahn West und nach ihr noch einige weitere am Frankfurter Flughafen wurde gebaut. Schließlich wollten immer mehr Menschen preiswert in Urlaub fliegen – auch ich, ich gebe es zu. Daran, dass Flugzeuge mehr als andere Verkehrsmittel zur Klimakatastrophe beitragen, denken nur wenige, wenn Spanien, die USA oder Australien locken.

Heute weiß ich: Wir hätten mehr tun müssen, um die Klimakatastrophe zu verhindern. Einige WissenschaftlerInnen, zum Beispiel vom Club of Rome, hatten schon Jahre vorher vor den Folgen der Umweltverschmutzung, der Umweltzerstörung und des grenzenlosen Wachstums gewarnt. Doch so recht hat niemand auf sie gehört; meine Generation hat es versaut.

Die Grünen waren damals gerade erst gegründet worden, entstanden aus Bürgerinitiativen gegen umweltzerstörerische Großprojekte und gegen die atomare Aufrüstung. Vor allem grüne PolitikerInnen haben bei Demos und Aktionen gegen AKWs, gegen das geplante Endlager in Brockdorf oder eben gegen die Startbahn West mitgemacht, die Bürgerinitiativen und ihre Ziele unterstützt. Sie haben sich mehr und früher als andere Parteien für Umweltschutz, für erneuerbare Energien engagiert und den Ausstieg aus der Kohle gefordert. An der Demo gegen die Abholzung des Hambacher Forstes beteiligte sich im Herbst 2018 die heutige Außenministerin und damalige Grünen-Chefin Annalena Baerbock. „Wir stehen an der Seite des breiten zivilgesellschaftlichen, gewaltfreien Protestes für den Kohleausstieg und für ein Ende der Naturzerstörung durch den Braunkohlebergbau“, hieß es in einem Parteitagsbeschluss.

Da klingt es wie Ironie der Geschichte, dass vier Jahre später ausgerechnet zwei grüne Wirtschaftsministerinnen – Robert Habeck und Mona Neubaur aus Nordrhein-Westfalen – mit der Räumung von Lützerath und der Abbagerung der unter dem Dorf liegenden Kohlevorkommen zustimmen mussten. Ein Dorf als Preis für den von 2038 auf 2030 vorgezogenen Kohleausstieg in NRW. Ein zu hoher Preis.

Darf ich dir das Sie anbieten?

Auf der Suche nach einem anderen Buch entdeckte ich im Freihandbestand der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek zufällig ein schmales Büchlein von Katharina Hacker. Ich musste es mit nach Hause nehmen, nicht nur, weil ich die Autorin mag und gerne Essays lese, sondern weil der Titel mir aus dem Herzen sprach: „Darf ich Dir das Sie anbieten?“.*

Nun habe ich eigentlich überhaupt nichts gegen das Duzen. Im Gegenteil. Ich – Nach-68erIn – bin in einer Zeit groß geworden, in der sich selbst Erwachsene, die sich lange und recht gut kannten, oft mit Sie ansprachen. Die Eltern meiner SchulfreundInnen oder gar LehrerInnen zu duzen, wäre mir und anderen Kindern nie in den Sinn gekommen. Als ich erwachsen wurde, änderte sich das allmählich. Und weil es schien, als würden mit dem Sie irgendwie auch ein bisschen die verstaubten Traditionen und verkrusteten Hierarchien der 50er- und 60er-Jahre über Bord geworfen, machte ich, wie viele meiner Generation, gerne beim Duzen mit.

Allerdings habe ich nicht alle und jeden geduzt: Zu den Bekannten meiner Eltern habe ich bis zuletzt „Sie“ und Herr oder Frau xy gesagt, einen früheren Lehrer und Trainer habe ich so lange gesiezt, bis er mir irgendwann das du angeboten hat. Und auch manchen Gleichaltrigen blieb ich beim Sie – und auf Distanz. Meist zu Recht, wie sich im Nachhinein herausstellte.

Dass ich, inzwischen auf die 70 zugehend, von Jüngeren geduzt werde, ist für mich im Allgemeinen kein Problem: Von KollegInnen zum Beispiel, mit denen ich zusammenarbeite, von Menschen, mit denen ich zusammen Sport treibe oder mit denen ich gemeinsam schreibe. Aber wenn mich wildfremde Menschen mit du ansprechen oder anschreiben, fremdle ich zugegebenerweise immer häufiger. Dem Marketing-Menschen, der mich fragt: „Hast du unsere Weihnachtspost gelesen“ und der mich auffordert „lass deine Lieben gewinnen“, möchte ich antworten: „Kenne ich Sie? Sind wir miteinander in die Schule gegangen“. Und ein Los kaufe ich von jemand, der so tut, als seien wir befreundet, obwohl wir uns gar nicht kennen, gewiss nicht.

Ich bin offenbar nicht die einzige, die die „Inflation des Duzens“ nervt. Mit demBeitrag auf dem Blog Alltägliches + Ausgedachtes – nebenbei bemerkt einer der wenigen Blogs, die ich fast immer lese – landete heute Morgen ein Link zu einer wie der Autor schreibt „lesenswerten Kolumne im General-Anzeiger zum allüberall grassierenden Duz-Zwang“ in meinem E-Mail-Postfach.

Ich konnte die Kolumne von Ulrich Bumann lesen, weil sie mir „von einem Abonnenten empfohlen“ wurde. Ob der Link auch bei einer Empfehlung der Empfehlung funktioniert, wird sich zeigen, wenn dieser Beitrag online ist.

Die Kolumne ist wirklich lesenswert, ebenso wie die Minutenessays von Katharina Hacker. Das Buch „Darf ich dir das Sie anbieten“ ist im Berenberg Verlag GmbH erschienen und kostet 18 Euro.

*Dieser Beitrag enthält unbezahlte Werbung