Es ist nie zu spät …

… neu anzufangen“  lautet der Titel eines Buches von Julia Cameron, das ich mir sofort nach seinem Erscheinen im Jahr 2017 gekauft habe. Damals war ich gerade 60 geworden und der Untertitel heißt „Der Weg des Künstlers“ ab 60.*

Nun glaube ich nicht, dass ich eine Künstlerin bin oder jemals werde, aber es geht in Julia Camerons Büchern – oder zumindest die beiden, die ich gelesen habe – eigentlich nicht darum, (große) Kunst, was immer es sein mag, zu schaffen. Sondern sie will Menschen ermutigen, an ihre Kreativität zu glauben, herauszufinden, was sie gerne tun möchten – und damit anzufangen, egal ob sie Klavier spielen, Gedichte schreiben, sich sozial engagieren, Fische züchten oder Vögel beobachten wollen.

„Wenn wir behaupten, es ist zu spät für uns, mit etwas anzufangen, drücken wir damit in Wirklichkeit aus, dass wir nicht bereit sind, Anfänger zu sein“, schreibt Julia Cameron, und ich glaube, sie hat recht.

Trotzdemhabe ich das Buch vor fünf Jahren wieder zur Seite gelegt. Irgendwie fehlte mir die Zeit und es war für mich einfach noch nicht der richtige Zeitpunkt. Denn es richtet sich an Menschen, die in Rente gehen – und von der Rente war ich damals noch mehr als sechs Jahre entfernt. Jetzt ist es so weit, und ich habe vor ein paar Wochen das Zwölf-Wochen-Programm gestartet.

Vier Komponenten sind in allen zwölf Wochen gleich: die Morgenseiten, ein Künstlertreff sowie zwei Spaziergänge von 20 Minuten pro Woche und die Memoiren, die sich in jeder Woche mit einem bestimmten Zeitabschnitt (Faustformel Lebensalter geteilt durch zwölf) befassen. Hinzu kommen jeweils bestimmte Aufgaben und Denkanstöße. Die Freiheit, eine oder andere Aufgabe abzuwandeln oder auszulassen, nehme ich mir. Und manche Woche dauert bei mir eben nicht 7, sondern 14 Tage.

Drei der vier „Basistechniken“ gehören ohnehin schon länger zu meinem Alltag: Spaziergänge oder Wanderungen beispielsweise. Weil ich wegen meiner Knieprobleme nicht mehr laufen, also joggen, kann, habe ich mir zum Ziel gesetzt, täglich mindestens 8000, besser 10.000 Schritte zu gehen. Das schaffe ich zwar nicht jeden Tag, aber im Durchschnitt der Woche haut es meist hin.

Morgenseiten schreibe ich seit Jahren – meist kurz nach dem Aufstehen, allerdings nicht immer, wie von Julia Cameron gefordert, mit der Hand, sondern oft am Computer. Ich habe mämlich festgestellt, dass ich dann offener schreibe – und manchmal schreibe ich nahtlos von den Morgenseiten an einem meiner Schreibprojekte weiter.

Die Idee des Künstlertreffs hat mirschon gefallen, als ich zum ersten Mal in einem anderen Buch Julia Camerons darüber gelesen habe: Einmal in der Woche einen Termin mit sich selbst einplanen, etwas unternehmen, was Spaß macht, etwas Neues entdecken oder etwas Altes, halb vergessenes, wiederzuentdecken – das hat was. In der Vergangenheit habe ich mir dafür allerdings nur selten die Zeit genommen. Das soll sich jetzt ändern und ich habe in den vergangenen sechs Wochen schon einiges unternommen: Ich habe mir zum Beispiel zahlreiche Ateliers hannoverscher KünstlerInnen angesehen, ein samisches Museum, zwei Kunsthandwerk-Ausstellungen und einen Skulpturenpark besichtigt und im Café Winuwuk Kaffee getrunken und geschrieben.

Bei meinen Aktivitäten steht oft Kunst im Mittelpunkt. Irgendwie schleiche ich um das Thema wie die berühmte Katze um den heißen Brei – wohl weil ich noch nicht wirklich den Mut habe, selbst anzufangen zu malen und zu zeichnen. Mein Perfektionismus steht mir im Wege. Denn ich halte mich für völlig talentfrei – und ich habe, ich gestehe es, nicht wirklich den Mut, eine Anfängerin zu sein. Doch auch das gehört zu den Dingen, die ich ändern möchte. Denn es ist ja angeblich nie zu spät, neu anzufangen …

Zum Nachlesen: Julia Cameron: Es ist nie zu spät, neu anzufangen. Der Weg des Künstlers ab 60. Droemer Knaur, München 2017

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Richtungsstreit

Ich wandere gerne, aber mit der Orientierung ist es so eine Sache: Kartenlesen zählt nicht zu meinen besonderen Stärken. Das liegt sicher auch daran, dass ich Probleme habe, rechts und links zu unterscheiden. Manchmal sage ich rechts, wenn ich links meine – und umgekehrt. Sicher bin ich, nebenbei bemerkt, nur, wenn ich den Daumen meiner rechten Hand sehe. Der ist aber manchmal verdeckt, wenn ich eine große Karte in der Hand halte.

Auch das optimale Kartenformat muss meiner Meinung nach noch erfunden werden. Einmal entfaltet, gelingt es mir nur selten, eine Karte wieder richtig zusammenzufalten. Viel genutzte Karten wie meine Harzwanderkarte lösen sich an den Faltstellen auf – natürlich mit Vorliebe dort, wo ich gerade etwas nachschauen möchte. Regen und der zugegebenerweise nicht immer pflegliche Transport in der Hosen- oder Seitentasche des Rucksacks beeinflussen die Les- und Nutzbarkeit von Wanderkarten zusätzlich.

Da liegt es natürlich nahe, auf Wanderapps zu vertrauen. Die sprechen mit mir und selbst wenn ich das Smartphone nicht in der Hand, sondern in der Tasche trage, sagt sie mir, wo ich hingehen muss, um mein Ziel zu erreichen: rechts, links, geradeaus. Oft sogar mit genauen Entfernungsangaben. In 300 Metern links abbiegen oder in fünf Metern geradeaus gehen. Entscheide ich mich aus Versehen für das andere rechts oder links, sagt mir die App, dass ich den rechten Weg verlassen habe und gefälligst umkehren soll. Dass ich für ein paar Euro in vielen Ländern Karten und fertige Routenvorschläge auf meinem Smartphone abrufen kann, ist ein weiterer Vorzug.

Eigentlich wäre die App also die ideale Begleiterin, doch wirklich beste Freundinnen werden wir wohl doch nie. Zum einen missfällt mir der leicht genervte Ton, in dem sie mich daran erinnert, dass ich mal wieder falsch abgebogen bin. Vor allem aber habe ich das Gefühl, dass ich mich nicht hundertprozentigauf sie verlassen kann. Manchmal lässt sie mich nämlich eine Zeit lang in die falsche Richtung gehen, ehe sie mich warnt: „Du hast die ursprüngliche Route verlassen. Wirf einen Blick in die Karte und kehre um.“ Und manchmal führt sie mich auf Wege, die gar keine (mehr) sind. Bei meiner letzten Harzwanderung zum Beispiel.

Eigentlich wollte ich, vom Elfenstein kommend, dem Wegweiser folgen und links in Richtung Bad Harzburg wandern. Doch weil die App quengelte, kehrte ich um und ging auf dem von ihr vorgeschlagenen oberen Herrenweg weiter. Ein Fehler, wie ich leider zu spät merkte. Nach etwa zwei Kilometern wurde der Weg schlechter, nach einem weiteren Kilometer war er durch frauhohe Gräser, Büsche und umgestürzte Bäume fast unpassierbar. Bei schlechterem Wetter wäre ich sicher umgekehrt, da es aber windstill war und die App versprach, dass ich nach 600 Metern auf einen anderen Weg einbiegen könnte, schlug ich mich durch das Gestrüpp – und erreichte etwas später als geplant und ein bisschen zerkratzt mein Ziel, das Café Winuwuk.

An anderen Tagen zeigt die App ausgewiesene, ausgeschilderte, auf der Karte verzeichnete und sehr gut begehbare Wege nicht an – und weigert sich auch beharrlich, meine Vorschläge anzunehmen. Auf Diskussionen lässt sie sich dann nicht ein – und ich auch nicht: Ich schalte sie dann ab und verlasse mich wie in Vor-App-Zeiten auf Wegweiser und Karte. Letztere nehme ich nämlich nach Möglichkeit mit – auch wenn Kartenlesen nicht zu meinen Stärken gehört.

Vom Loslassen

Die Pflanzen machen’s vor: Wenn der Winter kommt, lassen die meisten Bäume und Sträucher einfach ihre Blätter und Früchte fallen. Vielen Menschen – auch mir – fällt das Loslassen dagegen schwer. Und nicht immer finden wir den richtigen Zeitpunkt.

So hatte ich mir eigentlich fest vorgenommen, weniger zu arbeiten. Doch dann konnte ich nicht widerstehen und habe einen neuen Korrekturauftrag angenommen. Nicht nur – aber auch – weil der meine Rente aufbessert, deren Höhe ich noch nicht kenne. Die Zeitschrift, die ich ab jetzt wieder korrigieren werde, enthält oft interessante Artikel: Über KünstlerInnen aus der Region, in der ich lebe, beispielsweise oder auch Ausstellungs- und Veranstaltungstipps. Weil ich als Rentnerin mehr unternehmen möchte als bisher, kann ich so das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden. Und weil ich die Texte online lesen und korrigieren kann, lässt sich der neue Auftrag auch – hoffentlich – gut mit meinen Reiseplänen vereinbaren: Ich möchte, bevor ich „richtig“ alt bin, noch manches von der Welt oder zumindest von Europa und Deutschland sehen. Meinen Computer und mein Smartphone habe ich ohnehin immer dabei, Internetverbindungen gibt es inzwischen an den meisten Orten, und wenn das Netz irgendwo nicht ausreicht, fahren wir mit dem Wohnmobil einfach ein Stück weiter.

Das war noch Zukunftsmusik, als ich vor mehr als 20 Jahren die ersten Korrekturaufträge angenommen habe. Zum Arbeiten musste ich in den Verlag fahren, wir haben die Fehler auf Papierausdrucken markiert. Die Setzer haben dann die Korrekturen ausgeführt. Sie hatten in ihrer Ausbildung noch gelernt, Texte oder auch ganze Bücher aus einzelnen Buchstaben – oder wie es in der Urzeit des Buchdrucks hieß: aus beweglichen Lettern – zusammenzusetzen, waren aber längst auf den Computer „umgestiegen“. Nur sie durften mit dem noch relativ jungen Layoutprogramm arbeiten, das für alle anderen noch tabu war.

Zum Korrigieren bin ich damals eher zufällig gekommen. Ich hatte eine alte Dame kennengelernt, die als Rentnerin begonnen hatte, als Korrektorin zu arbeiten. Sie hatte erst als Rentnerin damit angefangen und ans Aufhören dachte sie, inzwischen fast 80 Jahre alt, noch nicht. Die Arbeit mache ihr Spaß, sagte sie, halte sie geistig fit. Weil sie aber etwas kürzertreten wollte, habe ich sie zuerst gelegentlich unterstützt, dann allmählich ihre Korrekturaufträge und später viele andere übernommen.

Denn eines haben Korrigieren und Reisen gemeinsam: Sie erweitern den Horizont. Man liest und erfährt viel Neues. Als Journalistin habe ich in vielen verschiedenen Branchen gearbeitet und Artikel über ganz verschiedene Themen geschrieben. Aber ich hatte außer in meiner kurzen Zeit als Lokaljournalistin veerschiedene Spezialgebiete, über die ich geschrieben habe. Beim Korrigieren diverser Fachzeitschriften habe ich Einblicke in Bereiche bekommen, die mir sonst sicher verschlossen geblieben wären. So habe beispielsweise manches über erneuerbare Energien erfahren – obwohl ich längst nicht alles verstanden habe, was ich gelesen und korrigiert habe.  

Anderes vergesse ich zugegebenerweise schnell, weil es mich nicht wirklich interessiert. Zum Beispiel welcher Promi in der niedersächsischen Landeshauptstadt welches Fest wann und mit wem besucht oder wie man Mastitis bei Schweinen erfolgreich bekämpft. Immerhin weiß ich jetzt, dass Mastitis bei Nutztieren wie Schweine und Kühen eine weit verbreitete Krankheit ist – und was ich darüber lese trägt mit dazu bei, dass ich meinen Lebensmittelkonsum überdenke und verändere.

Wahrscheinlich halte ich es mit den Korrekturaufträgen und der Arbeit wie die alte Dame : Ich mache weiter, solange es mir Spaß macht. Den richtigen Zeitpunkt zum Loslassen gibt es wahrscheinlich ohnehin nicht – und wenn, ist er sicher nicht für alle Menschen gleich: Mein Vater hat mit 60 Jahren aufgehört zu arbeiten und er hat seine Arbeit keine Sekunde vermisst. Meine Mutter hat noch mit 90 die Bücher für den Betrieb geführt, in dem sie mehr als 30 Jahre als Buchhalterin angestellt war – und sie hat es bis zum Schluss gern getan.

Selbst die Bäume haben offenbar ihren eigenen Rhythmus, wie das Foto der beiden Birken zeigt: Obwohl sie ganz dicht nebeneinander stehen, trägt die eine noch ihr leuchtend gelbes Blätterkleid, die andere hat längst alle Blätter abgeworfen.