In Memoriam: Orlando Orlandi Posti

In meinem Blogbeitrag über die Stadt der Tagebücher im Mai habe ich über die Briefe eines jungen Mannes geschrieben, die mich sehr beeindruckt und an Anne Franks Tagebuch erinnert haben (https://timetoflyblog.com/die-stadt-der-tagebuecher). Seinen Namen hatte ich mir leider nicht gemerkt – es waren wohl einfach zu viele Informationen und Eindrücke an diesem Vormittag. Inzwischen habe ich ihn von Silvia Gennaioli von der Fondazione Archivio Diaristico Nazionale in Pieve Santo Stefano, die mich Anfang Mai durch das Tagebuchmuseum führte, erfahren.

Orlando Orlandi Posti war Student, Mitbegründer der Italienischen Revolutionären Studentenvereinigung (ARSI) und eine der Geiseln, die im Zweiten Weltkrieg von deutschen Soldaten beim Massaker in den Ardeatinischen Höhlen ermordet wurden. Der 17-Jährige wurde Anfang Februar 1944 von der SS verhaftet, als er seine Freunde vor einer geplanten Razzia der deutschen Besatzer im Bezirk Monte Sacro warnen wollte. Während seiner fast zwei monatigen Gefangenschaft in der Via Tasso gelang es ihm, Briefe an seine Mutter zu schreiben und aus dem Gefängnis zu schmuggeln.

Über das Massaker in den Ardeatinischen Höhlen (Fosse Ardeatine) wissen die meisten Menschen in Deutschland wenig oder gar nichts. Ich gebe zu: Auch ich musste zuerst recherchieren, was dort geschehen war, bevor ich diesen Beitrag schreiben konnte. Dabei habe ich mich immer für Geschichte interessiert und das Fach – allerdings vor sehr langer Zeit – studiert.

Am 24. März 1944 ermordeten deutsche Soldaten 335 Menschen –  als Vergeltungsmaßnahme für den Tod von 33 Südtiroler Polizisten, die am Tag zuvor bei einem Bombenanschlag von italienischen Widerstandskämpfern in der Via Rasella ums Leben gekommen waren (https://de.wikipedia.org/wiki/Massaker_in_den_Ardeatinischen_Höhlen). Die Hinrichtungen dauerten einen ganzen Nachmittag; die jüngste ermordete Geisel war 15 Jahre alt, die älteste 74. Orlando Orlandi Posti starb ein paar Tage nach seinem 18. Geburtstag. Seine Träume, nach dem Krieg und der deutschen Besatzung Medizin zu studieren, zu reisen, in Freiheit zu leben, konnte er nicht verwirklichen.

Seine Mörder durften weiter leben, alt werden und in Freiheit sterben. Herbert Kappler, der Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD in Rom, der das Kriegsverbrechen organisierte und einige Geiseln selbst ermordete, wurde zwar 1948 zu lebenslanger Haft verurteilt. Aber er konnte vor seinem Tod im Februar 1978 aus dem Gefängnis fliehen (https://de.wikipedia.org/wiki/Herbert_Kappler). SS-Hauptsturmführer Erich Priebke, der die Erschießungen protokollierte und auch selbst Geiseln erschoss, tauchte nach dem Krieg unter und floh mit seiner Familie nach Südamerika – unterstützt von katholischen Geistlichen. Ein halbes Jahrhundert lebte der Kriegsverbrecher unbehelligt in Argentinien. Erst 1998 wurde er in Italien zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt, die jedoch wegen seines Alters in Hausarrest umgewandelt wurde.

„Im Prozess 1996 vor dem Militärgericht berief sich Priebke auf den Befehlsnotstand“, schrieb Malte Herwig in einem Artikel, der im Oktober 2013, kurz nach Priebkes 100. Geburtstag, im Magazin der Süddeutschen Zeitung erschien (https://sz-magazin.sueddeutsche.de/geschichte/der-letzte-fall-79973). Seine Beteiligung am Massaker bereute er auch kurz vor seinem Tod nicht, ein Fehler sei nur gewesen, dass „Leider Gottes … fünfe zu viel erschossen worden“ sind, nämlich 335 Menschen statt 330: für jeden getöteten Polizisten zehn unschuldige Geiseln. Er bemitleidete nur sich selbst und seine Mittäter. „Für uns war das ja furchtbar“, sagte Priebke, der sich selbst als gläubigen Christ bezeichnete. Mögen er und alle seine Helfer und Helfershelfer ewig in der Hölle schmoren.

Als ich den Artikel las, kam mir der Begriff von der „Banalität des Bösen“ in den Sinn, den die Philosophin Hannah Arendt 1963 beim Prozess gegen Adolf Eichmann prägte. Treffender kann man die „massive Gleichgültigkeit, mit der die Verbrechen begangen“ und die moralische Verantwortung dafür abgegeben wurde, wohl nicht beschreiben (https://www.deutschlandfunkkultur.de/outsourcing-moralischer-verantwortung-die-banalitaet-des-100.html).

2004, zum 60. Jahrestag des Massakers in den Adreatinischen Höhlen, wurden Orlando Orlandi Postis Briefe und Tagebuchnotizen aus dem Gefängnis veröffentlicht. Bislang gibt es das Buch* leider nur auf Italienisch. Aber vielleicht findet sich ja ein Verlag, der zum 80. Jahrestag im März 2024 die „Lettere dal carcere di via Tasso“ ins Deutsche übersetzen lässt und herausgibt. Damit sich künftig auch Menschen in Deutschland an das Kriegsverbrechen erinnern und Orlando Orlandi Posti und die anderen Opfer nie vergessen werden.

*Orlando Orlandi Posti: Roma ’44. Lettere dal carcere di via Tasso di un martire delle Fosse Ardeatine  Italienische Ausgabe, Rom, Donzelli 2004, 9,99 Euro

Quer durchs Land

Vor gut einem Monat sind wir von unserer Wohnmobiltour durch die Toskana zurückgekommen. Seitdem reise ich – viel umweltfreundlicher und auch preiswerter – mit dem 49-Euro-Ticket durchs Land.

Dass es das lang angekündigte Ticket nur als Abo gibt, stört mich nicht. Ein bisschen Verbindlichkeit – und Planungssicherheit für die Verkehrsbetriebe – darf’s für mich durchaus sein. Schwerer tue ich mich damit, dass es die Fahrkarte nur als digitale Version gibt. Ich gehöre nämlich zu denen, die gerne etwas in der Hand haben – schließlich habe ich früher mal gelernt, dass ich getrost nach Hause tragen kann, was ich schwarz auf weiß besitze. Und ich frage mich, warum das, was bei Fahrkarten und Bahnkarten problemlos funktioniert, nicht auch beim Deutschlandticket möglich sein soll. Aber was nicht ist, ist nicht. Und so gewöhne ich mich notgedrungen daran, statt meiner Fahrkarte mein Smartphone zu zeigen, wenn ich kontrolliert werde.

Wie oft ich das Ticket im Mai genutzt habe, kann ich nicht genau sagen. Aber ich war ziemlich viel unterwegs. Für meine Fahrten nach Hannover, zum Künstlerhof in Mehrum oder in die Nachbarorte hätte auch das preiswertere Seniorenticket für die Region Hannover ausgereicht. Aber die Mehrkosten für das 49-Euro-Ticket haben sich allein durch die die beiden Fahrten in den Harz zu meiner Kollegin Foe amortisiert.

Die Kosten sind ohnehin nur ein Aspekt. Mindestens ebenso wichtig – oder noch wichtiger – ist für mich die neu gewonnene „Bewegungsfreiheit“. Ohne das Ticket wären wir sicher nicht spontan an einem Samstagvormittag nach Lüneburg gefahren.

Und wahrscheinlich hätte ich mich bei der Suche nach einem „zeitnahen“ Termin bei einem Facharzt auf die ÄrztInnen der Region beschränkt. So habe ich in ganz Niedersachsen nach einem Radiologen gesucht – und ihn in Goslar gefunden. Und ganz nebenbei habe ich auf dem Weg zu der Praxis auch den Romanischen Garten entdeckt.

Bei meinem nächsten Abstecher in den Harz werde ich nicht auf direktem Weg nach Bad Harzburg fahren, sondern über Bad Gandersheim. Dort möchte ich nicht nur die Landesgartenschau besuchen, sondern auch auf den Spuren von Roswitha von Gandersheim wandeln. Sie gilt als erste deutsche Dichterin und hat um 950 in ihrem Epos: „Das Gedicht von dem Gandersheimischen Klosters“ über die Anfänge des Stifts und der Stiftskirche Gandersheim geschrieben.

Bis jetzt bin ich nur durch Niedersachsen gereist, aber die ersten Fahrten quer durchs Land sind geplant. So stehen Hamburg, Lübeck, Leipzig und Potsdam auf meiner Liste. Außerdem möchte ich endlich meine Museumstour durch Süddeutschland starten. Denn ich liebäugle schon lange mit dem Museums-PASS-Musées. Mit diesem Pass kann ich für 119 Euro ein Jahr lang mehr als 300 Museen, Schlösser und Gärten in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, Frankreich und der Schweiz besichtigen (https://www.museumspass.com/de) . Wenn ich meine Freundin in Süddeutschland besuche, sind viele Museumsorte mit Öffis gut zu erreichen. Es gibt also viel zu entdecken …

Kunst, Kloster, Gärten

Ich mag Kunst und ich mag schöne Gärten: Und so war der Tag der offenen Gartenpforte im Kunsthof Mehrum eine willkommene Gelegenheit, einen alten Landhausgarten und die Werke von drei Künstlern – Arne Stahl (Malerei), Lothar Feige (Metallskulpturen) und Bernd Rutkowski (Glasobjekte) – zu sehen.

Der Kunsthof stand schon lange auf meiner To-visit-Liste, aber bislang hatte mich die ziemlich lange Fahrt abgeschreckt. Denn Mehrum liegt am anderen Ende der Region Hannover, an der Grenze zu den Landkreisen Hildesheim und Peine. Mit Öffis braucht man für eine Strecke gut zwei Stunden und muss mindestens zweimal umsteigen.

Auf der Hinfahrt am Sonntagmorgen waren die Busse und die Straßenbahn glücklicherweise ziemlich leer; auf der Rückfahrt leider nicht, weil die Fans von Hannover 96 zum letzten Heimspiel ihrer Mannschaft fuhren. Hätten sie geahnt, was auf sie zukommt – eine 1:5-Klatsche gegen Holstein Kiel und eine laut Hannoverscher Allgemeiner Zeitung ziemlich unterirdische Leistung – wären einige sicher zu Hause geblieben.

Ich habe die Fahrt dagegen nicht bereut: In dem fast 3.000 Quadratmeter großen Garten des Kunsthofs gibt es neben Obst-, Gemüse-, Kräuter- und Blumenbeeten auch eine Streuobstwiese und andere naturbelassene Bereiche mit Sitzecken und einem Skulpturenpfad. Besonders gut haben mir die Glasarbeiten von Bernd Rutkowski gefallen; die eine oder andere würde sich sicher auch in unserem Garten gut machen. Außer vielen Anregungen und schönen Impressionen habe ich auch die Broschüren mit Informationen über die Offenen Gartenpforten in den Landkreisen Peine und Hildesheim mit nach Hause genommen. Und sicher werde ich auch einmal einen Blick in die Gärten der Nachbarregionen werfen.

Einen Garten am Harzrand hatte ich zwei Tage zuvor auf dem Weg zu einem Arzttermin eher durch Zufall entdeckt: An dem Romanischen Garten in Goslar bin ich bislang immer achtlos vorbeigegangen, obwohl er ganz in der Nähe des Bahnhofs auf dem Weg in die Altstadt liegt. Allerdings versteckt er sich wie die Neuwerkkirche hinter einer hohen Mauer. Die romanische Kirche gehörte früher zum Kloster „St. Maria in horto“, Maria im Garten. Es wurde im 12. Jahrhundert als Benediktinerinnenkloster gegründet, nach der Reformation im Jahr dann 1528 evangelisch und in ein Damenstift umgewandelt, in dem die unverheirateten Töchter wohlhabender Goslarer Familien lebten.

Die Klostergebäude und den Kreuzgang gibt es nicht mehr, in einem Teil des früheren Klostergartens wachsen allerdings heute wieder Pflanzen, die in den mittelalterlichen „Gartenbüchern“ verzeichnet sind – neben heute noch bekannten wie Pfingstrose oder Salbei auch fast vergessene Nutzpflanzen wie die afrikanische Kuhbohne. Schilder an den Beeten verraten nicht nur den deutschen Namen, sondern auch die botanische Bezeichnung und die Herkunft der Pflanzen, in normaler und in Brailleschrift.

Ich werde künftig sicher öfter hier Station machen. Und vielleicht wandere ich auch einmal auf dem Harzer Klosterweg, der an der Neuwerkkirche beginnt und unter anderem über die Klöster Wöltingerode, Ilsenburg und Himmelspforte bis zur Klosterkirche Sankt Marien in Quedlinburg führt.