Bücher, Bücher …
Zurück aus Leipzig, in diesem Jahr habe ich mir zwei Tage auf der Buchmesse gegönnt. Bücherfrühling stimmte in diesem Jahr, im wahrsten Sinne des Wortes. Es waren zwei wunderschöne Frühlingstage mit viel Sonne und strahlend blauem Himmel. Und weil die Messehallen rechts und links einer riesigen Glashalle liegen, bekommt man vom schönen Wetter sogar etwas mit, wenn man die meiste Zeit in den Hallen verbringt.
Leipzig liest
Wer fürchtet, dass nicht mehr gelesen wird, wird auf der Leipziger Buchmesse eines Besseren belehrt. Anders als bei der Buchmesse in Frankfurt dürfen die Privatbesucher in Leipzig an allen Tagen rein. Und sie kommen in Scharen. Knapp 208.000 Besucher waren es in diesem Jahr, ein neuer Besucherrekord. Zählt man das Lesefest „Leipzig liest“ mit, waren es sogar 285.000. Das heißt: Es war voll, sehr voll.
Das Publikum ist bunter, gemischter, jünger als in Frankfurt. Viele Familien mit Kindern waren unterwegs, aber auch sehr viele Jugendliche, meist mit ihren Freunden. Leipzig (und nicht nur Leipzig, sondern auch die Umgebung) liest – das ist mehr als ein Slogan. Und viele kaufen die Bücher, die ihnen gefallen, direkt auf der Messe – auch ist in Leipzig, anders als in Frankfurt, möglich.

Cosplay und Comics
Dass die Messe so viele jüngere Leute anlockt, liegt sicher auch an der Manga Comic Con, die in Halle 1 stattfindet, und an den vielen Cosplayern. Allen, die sich in diesem Bereich nicht so gut auskennen (zu denen zählte ich vor nicht allzu langer Zeit auch noch), sei‘s erklärt: Auf der Manga Comic Con treffen sich Fans von Comics, Mangas (japanische Comics), Animes (japanische Zeichentrickfilme) und eben Cosplayer. Cosplayer stellen Charaktere aus Mangas, Spielen, Büchern oder auch Filmen nach. Ihre aufwendigen Kostüme fertigen sie selbst – und möglichst originalgetreu.

Auf dem Messegelände findet man also nicht nur unzählige Bücher, sondern man begegnet auch ganz vielen Figuren aus Büchern und Filmen live – Harry Potters Lehrerin Minerva McGonigal beispielsweise, dem kleinen Vampir und Anna, seiner Schwester, oder Zwergen, Hobbits und Elben aus Tolkiens Büchern. Manchmal geraten die Bücher bei so viel bunten optischen Eindrücken fast in den Hintergrund.
Manche Cosplayer entwerfen und nähen nicht nur tolle Kostüme, sondern schreiben auch. Foe Rodens zum Beispiel: Foe alias Ambarussa traf in Leipzig nicht nur ihre Cosplayfamilie, also Elbengeschwister und ihre Mutter aus Tolkiens Simarillion, sondern informierte auch über ihr eigenes Buch „Der Fluch des Schlangenmenschen“. Es erscheint Anfang April; eine kostenlose Leseprobe gibt’s auf der Website www.foerodens.wordpress.com/der-fluch-des-schlangenmenschen.


Mekka für Indie-SchreiberInnen
Natürlich sind die großen und viele kleine Verlage sowie viele bekannte AutorInnen auf der Buchmesse vertreten. Aber Leipzig ist auch ein wichtiger Treffpunkt für Indie-AutorInnen, also für Autorinnen und Autoren, die ihre Bücher unabhängig (independent = indie) von den klassischen Verlagen veröffentlichen. Es gibt viele Angebote und Workshops rund ums Thema Selbstpublizieren, neudeutsch Selfpublishing. Und auch viele Blogger geben sich auf der Messe ein Stelldichein. Die Indie-JournalistInnen veröffentlichen ihre Texte ohne die klassischen Zeitungen und Zeitschriften – und haben dabei eine eigene essayistische Form des Schreibens etabliert.
Apropos Bloggen: Am Sonntag habe ich wieder an der Bloggerkonferenz teilgenommen – wahrscheinlich war ich die älteste Teilnehmerin, sozusagen die Bloggeroma. Aber es ist ja angeblich nie zu spät, etwas Neues zu lernen oder und Dinge besser zu machen. So gibt es in diesem Text Zwischenüberschriften, weil Google sie angeblich mag und meine Texte dann leichter findet. Vielleicht abonnieren dann künftig ganz viele Leute meinen Blog und folgen mir – zum Beispiel zur Buchmesse nach Leipzig. Im nächsten Jahr dann eher am ersten Tag, wenn das Gedrängel noch nicht ganz so groß ist.

Hidden Figures – mehr als ein Film
Im Kino: Sehr sehenswert: Hidden Figures oder auf Deutsch: Unerkannte Heldinnen. Der Film erzählt – nach einem Buch vorn Margot Lee Shetterly – die Geschichte von Katherine Johnson, Dorothy Vaughan und Mary Jackson. Die drei Mathematikerinnen arbeiteten für die NASA und hatten wesentlichen Anteil an den erfolgreichen Weltraum-Missionen der Amerikaner.
Katherine Johnson, Dorothy Vaughan und Mary Jackson und ihre afroamerikanischen Kolleginnen gab es wirklich. Als die Computer das Laufen gerade erst lernten, stellten „(human) computer“ – so hießen sie wirklich – die notwendigen Berechnungen an. Das hatte Tradition: Seit dem Kriegseintritt der USA im Jahr 1941 warb die US-Army systematisch Frauen mit College-Abschlüssen in Mathematik an. Sie berechneten vor allem Geschossbahnen. Bei Kriegsende arbeiteten rund 80 Frauen als Computer im Ballistic Research Laboratory. Übrigens: Auch in Deutschland waren die mathematischen Fähigkeiten der Frauen seit den 30er Jahren begehrt; etwa 70 Mathematikerinnen und „technische Rechnerinnen“ sollen im Zweiten Weltkrieg an Aufträgen der Luftfahrtindustrie und für das V2-Raketenprogramm gearbeitet haben.
Notiz nahm von den Leistungen der Frauen bei der NASA kaum jemand, den Ruhm heimsten die Männer ein – die Astronauten oder die männlichen Vorgesetzten. Afro-Amerikanerinnen hatten es in Zeiten der Apartheid besonders schwer. Katherine Johnson, Heldin des Films, schaffte als einzige schwarze Frau den Sprung von den human Computern in eine andere Abteilung; einfach weil sie so gut war. Ihre Abhandlung „Bestimmung des Azimutalwinkels beim Brennschluss, um einen Satelliten über einer ausgewählten Position der Erde zu platzieren (was immer das heißt und bedeutet)“ war grundlegend für die bemannte Raumfahrt. Dass John Glenn 1962 als erster Amerikaner die Erde in einem Raumschiff umkreiste und wieder heil landete, war auch ihr zu verdanken, ebenso wie später die Mondlandung und andere Weltraummissionen. Für ihre Leistungen als Pionierin der Raumfahrt erhielt Katherine Johnson 2015 von Präsident Barack Obama die Presidential Medal of Freedom, eine der höchsten zivilen Auszeichnungen der USA.
Hidden Figures erinnert nicht nur an die hervorragenden Leistungen der (schwarzen) Mathematikerinnen, sondern vor allem auch daran, wie sehr die Rassentrennung das Leben Anfang der 60er Jahre in den USA bestimmte. Farbige mussten in Bussen hinten sitzen, die schwarzen Mathematikerinnen mussten wegen der Rassengesetzte in separaten Büros und Einheiten arbeiten. Sie durften nicht einmal die Toiletten der weißen Frauen benutzen. Mary Jackson musste sich die Teilnahme an Abendkursen an der weißen Uni vor Gericht erstreiten und Dorothy Vaughan durfte zwar ihre Arbeitseinheit leiten, wurde aber lange nicht als „head computer“ bezahlt. Denn Führungspositionen waren für schwarze Frauen nicht vorgesehen. Es sind die kleinen Szenen, die den Film so eindrucksvoll machen: Wie die weißen Kollegen reagieren, als Katherine Johnson sich Kaffee aus ihrer Thermoskanne nimmt (sie trinken nicht mehr aus der Kanne) oder wie selbstverständlich Dorothy Vaughan von ihrer weißen „Vorgesetzten“ mit Vornamen angesprochen wird.
Dass die Rassentrennung in öffentlichen und öffentlich zugänglichen Einrichtungen in den USA erst 1964 aufgehoben wurde, hatte ich schon fast vergessen, obwohl ich es als Kind mitbekommen habe: Erst am 2. Juli 1964 – 99 Jahre, nachdem die Sklaverei in den Vereinigten Staaten abgeschafft worden war – unterzeichnete Präsident Johnson den Civil Rights Act, eines der wichtigsten Bürgerrechtsgesetz. Auch die Diskriminierung von Farbigen am Arbeitsplatz ist seitdem verboten. Die Wirklichkeit sieht allerdings anders aus. Polizeikontrollen – die Auftaktszene im Film – sind auch heute noch für Schwarze gefährlich. Und das Kabinett von Donald Trump ähnelt dem NASA-Team im Film: fast nur weiße Männer.
Selbst in der Kunst spielen Schwarze bislang meist nur eine Nebenrolle. So gibt es nur wenige schwarze Oscarpreisträger – die meisten der Wenigen haben die Auszeichnung für Nebenrollen erhalten. Der Film Hidden figueres ist für den Oscar, der in der Nacht zum Montag verliehen wird nominiert, außerdem Octavia Spencer, die die Computerexpertin Dorothy Vaughn spielt, als beste Nebendarstellerin. Verdient hätten es Film und Schauspielerin.
Vier auf einen Streich
Das nenne ich effektiv: Ich habe drei Fliegen mit einer Klappe geschlagen, sprich drei gute Vorsätze gleichzeitig erfüllt. Jetzt fühle ich mich fast wie eine Anfängerversion des tapferen Schneiderleins, das ja bekanntlich sieben auf einen Streich geschafft hat (Fliegen, nicht Vorsätze).
Gut, ich gebe zu, es war nicht wirklich geplant: Erst als es schon dunkel war, habe ich daran gedacht, dass ich eigentlich, weil ich noch nicht laufen kann, jeden Tag zumindest eine halbe Stunde gehen oder Radfahren wollte. Da war es schon zu spät für einen Spaziergang zum See und auch eine Runde mit dem Fahrrad war bei Schneefall und bei Dunkelheit keine wirklich kluge Option. Deshalb bin ich zu Fuß in die Stadt gegangen, die eigentlich ein Dorf ist. Weil ich auf dem Weg ohnehin am Briefkasten vorbeikomme, habe ich schnell noch den Fragebogen meiner Berufshaftpflichtversicherung ausgefüllt. Der ist wie in jedem Jahr kurz vor Weihnachten gekommen und meiner Meinung nach überflüssig wie ein Kropf (siehe https://timetoflyblog.com/2015/12/25/gut-versichert/). Denn ich habe auch im Jahr 2016 – wie in den vergangenen 30 Jahren – weder einen Gabelstapler noch einen Tankwagen angeschafft und gedenke es auch in diesem und den kommenden Jahren nicht zu tun. Bislang musste meine Versicherung immer bis zur Jahresmitte auf meine Antwort warten und mich mahnen; wahrscheinlich hat ein Sachbearbeiter schlaflose Nächte ob der potenziellen Gefahren erlebt. In diesem Jahr habe ich deshalb meine Pflicht, Auskunft über die versicherten Risiken zu erteilen, schon am ersten Werktag des Jahres erfüllt – und damit einen weiteren guten Vorsatz: Dinge nicht aufzuschieben.
Und auch mein persönliches Projekt „Fliegende Wörter“ habe ich gestartet bei meinem Spaziergang zum Briefkasten auf den Weg gebracht (dritter guter Vorsatz): Ich möchte in diesem Jahr jede Woche ein Gedicht verschicken (nein, kein selbst geschriebenes). Das ist dank des gleichnamigen, im Daedalus Verlag erschienenen Postkartenkalenders nicht so schwierig: Er enthält 53 „Qualitätsgedichte zum Verschreiben und Verbleiben“, eins also für jede Woche des Jahres. Ich habe den Kalender, der schon zum 23. Mal erscheint, erst kürzlich durch den Hinweis einer Mit-Bücherfrau entdeckt. Und ich finde, die Gedichte von Rilke, Ulla Hahn, Hilde Domin und Co sind viel zu schade, um in meiner Schreibtischschublade zu verbleiben. Ich verleihe ihnen zwar keine Flügel, sondern verpasse ihnen eine Briefmarke und helfe ihnen so zum Fliegen: Ich schicke sie im Lauf des Jahres an Freunde und Bekannte, auch an einige Abonnentinnen dieses Blogs. Die seien auf diesem Weg (vor)gewarnt: Nicht immer passt das Gedicht genau zum /zur Empfänger/in, auch wenn ich mir bei der Auswahl Mühe gebe.
Mit dem Schreiben dieses Beitrags gehe ich einen vierten guten Vorsatz an: regelmäßiger als im vergangenen Jahr Blogbeiträge zu schreiben und zu veröffentlichen. Wirklich effektiv.

Von Buchmenschen und Büchern
Als ich vor Jahren Ray Bradburys Fahrenheit 451 gelesen habe, haben mich vor allem die Buchmenschen fasziniert. Für alle, die das Buch nicht kennen: Es spielt in einem totalitären Staat, in dem Bücher – und damit auch selbstständig denken – verboten sind. Die Feuerwehr löscht keine Brände, sondern verbrennt Bücher, wenn welche entdeckt und die Besitzer verhaftet werden. Fahrenheit 451 ist die Temperatur, bei der Papier brennt. Die Buchmenschen sind aus dieser Gesellschaft geflohen und leben irgendwo versteckt im Wald. Um zu verhindern, dass mit den Büchern die Inhalte der Bücher unwiederbringlich vernichtet werden, lernt jede/r ein Buch auswendig.
(K)ein Ort für Bücher?
Bei unserer Reise nach Schweden habe ich jetzt den Ort entdeckt, wo die Buchmenschen leben. Nicht wirklich natürlich, aber so etwa habe ich mir ihren Zufluchtsort vorgestellt. Der Campingplatz, das Älvkarleby Fiske & Famil jecamping, liegt auf einer kleinen Insel, die Zelte, Wohnwagen und Wohnmobile stehen versteckt unter Bäumen, so, als gehörten sie irgendwie dahin. Die meisten wurden vermutlich seit Jahren nicht mehr bewegt und haben schon Wurzeln geschlagen, wie die Bäume, unter denen sie stehen.
In Wirklichkeit ist der Campingplatz natürlich keine Zuflucht für Buchmenschen, sondern – wie der Name schon sagt – ein Eldorado für Angler. Und wahrscheinlich waren wir die einzigen Gäste, die mehr Bücher als Angeln dabei hatten – Angeln: keine, ich für zwölf Tage zehn richtige Bücher und meinen Kindle, mein Mann nur seinen Kindle, er ist ein absoluter E-Book-Fan, aber das ist ein anderes Thema.
Lieblingsbuch gesucht
Seither überlege ich, welches Buch ich auswendig lernen würde, wenn ich mich denn für eins entscheiden müsste, dass ich vor dem Vergessenwerden retten wollte. Das Ergebnis: Ich weiß es nicht. Meine Lieblingsbücher wechseln. Eine Zeitlang wäre es wahrscheinlich „Nachtzug nach Lissabon“ gewesen, aber auch Siri Hustvedts „Was ich liebte“, „Hannas Töchter“, die Memoiren von Simone de Beauvoir, die Tagebücher von Victor Klemperer und natürlich das Tagebuch der Anne Frank stehen ganz oben auf der Shortlist. Es gibt so viele Bücher, das fällt die Auswahl schwer.
Apropos Shortlist. Die richtigen Büchermenschen treffen sich zurzeit in Frankfurt auf der Buchmesse. Ich fahre in diesem Jahr nicht hin, obwohl mich die Messe immer wieder fasziniert. Und zugegebenerweise ein bisschen erschlägt: So viele Bücher, wer kann, wer soll die alle lesen. Und es werden immer mehr. Denn immer mehr Menschen schreiben Bücher. Irgendwie hat Reither, der Ex-Verleger in Bodo Kirchhoffs Novelle Widerfahrnis, recht mit seiner Einschätzung, dass es allmählich mehr Schreibende als Lesende gibt.

Anne Frank
Das Tagebuch der Anne Frank. Großes Kino, wenig Publikum. Wieder ein typischer Frauenfilm: 16 Frauen, die meisten fast oder über 60 und ein Mann. Für mich ein Muss. Anne Frank führte das Tagebuch von seit ihrem 13. Geburtstag – von Juni 1942 bis zum 1. August 1944, drei Tage bevor sie verhaftet und deportiert wurde – zunächst ins niederländische Lager Westerbork, dann nach Auschwitz und schließlich nach Bergen-Belsen. Dort starben sie und ihre Schwester Margot Frühjahr 1945, kurz vor dem Kriegsende in Bergen-Belsen. Ihre Eltern hatten sich für das falsche Land entschieden, als sie 1934 mit den Kindern vor den Nazis aus Deutschland flüchteten. Als die Deutschen das Nachbarland besetzten, waren die Niederlande kein sicherer Ort mehr.
Von den acht Menschen, die im Hinterhaus untergetaucht waren, überlebte nur Annes Vater Otto Frank. Er veröffentlichte 1947 die Tagebücher seiner Tochter. Die erste Auflage, vom Juni 1947 mit 3.000 Exemplaren war schnell vergriffen, schon im Dezember erschien die zweite, im Februar 1948 dann die dritte Auflage – inzwischen mit 10.000 Exemplaren. In Deutschland erschien Anne Franks Tagebuch erstmals 1950. Inzwischen wurde das Buch in fast alle Sprachen übersetzt – es wurde mehrmals verfilmt und 2009 von der UNESCO in das Weltdokumentenerbe aufgenommen. Der Erfolg ihrer Tagebücher hätte Anne selbst sicher sehr überrascht.
„Ich nehme an, dass später weder ich noch jemand anders Interesse haben wird an den Herzensergüssen eines dreizehnjährigen Schulmädels“, schrieb sie am 20. Juni 1942, kurz nach ihrem Geburtstag. Wie sehr hat sie sich sehr geirrt.
Ich habe das Tagebuch 1973 gekauft und gelesen – damals war ich fast 17, und schon älter, als Anne geworden ist. Inzwischen habe ich drei verschiedene Ausgaben, aber die älteste, aus dem Jahr 1972, ist mir die liebste, obwohl es inzwischen sicher bessere, textkritischere Ausgaben gibt.
Die Blätter sind vergilbt, einige schon brüchig und einige Seiten lösen sich. Ich habe es mehrmals gelesene – und immer wieder wundere ich mich, wie erwachsen Anne war, mit gerade einmal 13, 14 oder 15. Aber wahrscheinlich musste sie sehr schnell erwachsen werden. Ständig in Lebensgefahr, eingesperrt mit Erwachsenen, die versuchten, sie zu erziehen, wie sie beklagte.
Schon bevor sie im Hinterhaus untertauchen musste, hatte Anne kein normales Leben. Vieles war verboten, weil sie Jüdin war – Schwimmen, Rad fahren, ins Kino gehen, leben. Sie hatte große Pläne für die Zeit danach:
Reisen wollte sie und studieren, Kunstgeschichte in Paris und London. Sie träumte davon, Journalistin und später eine berühmte Schriftstellerin zu werden. „Nach dem Krieg will ich auf jeden Fall ein Buch mit dem Titel ‚Das Hinterhaus‘ veröffentlichen, ob das gelingt, bleibt noch die Frage, aber mein Tagebuch wird dafür dienen können“, schrieb sie am 11. Mai 1944 in ihr Tagebuch. Sie überarbeite im Hinterhaus ihr Tagebuch, schrieb kurze Geschichten, die jetzt in von Reclam veröffentlicht wurden (Anne Frank: Denn schreiben will ich. Aus den Tagebüchern und anderen Werken. Reclam 2016)
Eins wollte Anne nicht: Sie wollte nicht leben wie ihre Mutter und viele andere Frauen, die „ihre Arbeit machen und später vergessen sind“. Anne Frank durfte gar nicht leben. Zumindest ein Wunsch hat sich erfüllt. „O ja, ich will nicht umsonst gelebt haben wie die meisten Menschen.“
Einfach losfahren
Ich habe es getan, ich habe einfach ein Niedersachsenticket gebucht und bin losgefahren. Einfach natürlich nicht, denn es fällt mir eher schwer, Dinge einfach nur so für mich tun, ohne dass es einen Grund gibt, oder an einem Werktag freizumachen, an dem ich eigentlich brav am Schreibtisch sitzen, mich in Indesign einarbeiten, Artikel schreiben oder doch zumindest recherchieren sollte. Doch dann fällt mein Blick auf eines meiner Lieblingsgedichte, das neben meinem Schreibtisch hängt: Wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte …
Es stammt offenbar nicht von Jorge Louis Borges, was aber nichts daran ändert, dass es mir sehr gut gefällt:
„… im nächsten Leben würde ich versuchen, mehr Fehler zu machen.
Ich würde nicht so perfekt sein wollen,
ich würde mich mehr entspannen …“
Mehr reisen würde „er“ (oder sie oder es, das lyrische ich) auch. Und weil mir für einen Auftrag noch wichtige Angaben und Unterlagen fehlen und die Korrekturen eines Buchs noch nicht bei mir angekommen sind, fahre ich los.
Obwohl ich seit fast 30 Jahren in der Nähe von Hannover lebe und es einen Zug gibt, der mich ohne Umsteigen von Bahnhof zu Bahnhof bringt, war ich noch nie in Göttingen. Vielleicht hat mich Heinrich Heines Urteil beeinflusst, der in seiner Harzreise schreibt: „Die Stadt selbst ist schön und gefällt einem am besten, wenn man sie mit dem Rücken ansieht“. Mein Mann fand immer, dass Göttingen nicht der Reise wert sei, doch auch er war wohl das letzte Mal als Student in Göttingen – also vor mehr als 40 Jahren. Und auch von meinen Bekannten, deren Kinder in Göttingen studiert haben, hat niemand wirklich von der Stadt geschwärmt. Es gab also immer lohnendere Ziele. Bis jetzt.
Auf dem Bahnhofsvorplatz erinnert ein leerer Denkmalsockel mit dem Schriftzug „Dem Landesvater seine Göttinger Sieben“ an die Professoren, die im November 1837 gegen die Aufhebung der (damals recht liberalen) Verfassung im Königreich Hannover protestierten und prompt von König Ernst August I entlassen wurden. Drei von ihnen, Friedrich Dahlmann, Jacob Grimm und Georg Gottfried Gervinus, wurden sogar verbannt.
Georg Christoph Lichtenberg hat den Protestbrief nicht unterzeichnet – er war zwar auch Professor in Göttingen, aber damals schon lange tot: Er starb 1799. Ich muss gestehen, dass ich nur seinen Namen kannte, bis ich ihn – in Bronze gegossen – vor einem Unigebäude sitzen sah. Lichtenberg war nicht nur der erste deutsche Professor für Experimentalphysik (nicht gerade mein Spezialgebiet), sondern er gilt auch als Begründer des deutschsprachigen Aphorismus (was ich eigentlich hätte wissen müssen, schließlich habe ich mal Germanistik studiert). Lichtenbergs „Sudelbücher“ mit naturwissenschaftlichen und anderen klugen Erkenntnissen wurden erst nach seinem Tod veröffentlicht.
Den Satz „Wenn ein Buch und ein Kopf zusammenstoßen und es klingt hohl, ist das allemal im Buch?“, kannte ich; ich wusste aber nicht, dass er von Lichtenberg stammt – ebenso wie die Erkenntnis „Ich kann freilich nicht sagen, ob es besser werden wird wenn es anders wird; aber so viel kann ich sagen, es muß anders werden, wenn es gut werden soll.“ Und: „Die gefährlichsten Unwahrheiten sind Wahrheiten, mäßig entstellt.“ In dem Buch, das aufgeschlagen vor Lichtenberg liegt, ist zu lesen: „Das viele Lesen hat uns eine gelehrte Barbarei zugezogen.“ Ich ziehe mir in Göttingen höchstens eine Erkältung zu, denn es ist, obwohl die Sonne gelegentlich scheint, doch noch ziemlich kalt. Zu kalt auf jeden Fall, um irgendwo in einem der kleinen Cafés und Restaurants zu sitzen, die sich in Höfen und Gassen verstecken.

Die Stadt – eine positive Überraschung: Viel Fachwerk, angenehm leer, obwohl es Freitag ist und es hier so viele Studenten gibt. Die Georg-August-Universität ist nicht nur die die älteste noch existierende Uni in Niedersachsen, sondern mit 30.600 Studierenden auch die größte. Aber erstens sind Semesterferien und zweitens sind die meisten Institute und Gebäude eben nicht mehr wie noch in Heines Zeiten in der Innenstadt. Viele kleine Läden, auch Buchläden. Ich finde in einem Schreibwarenladen meine geliebten Claire-Fontaine-Kladden in meiner Lieblingsfarbe, die ich künftig vielleicht nicht nur als Tage-, sondern auch als Sudelbuch benutze, entdecke ein wunderschönes Gartenbuch und in einem Antiquariat ein Buch, dessen Titel mich fasziniert (Und außerdem war es mein Leben) von einer Schriftstellerin, die ich bisher noch nicht kannte. Die Stadt gefällt und mittags ist klar: Mein erster Besuch in Göttingen wird nicht der letzte sein.
„Wohin mich mein Schicksal und mein Wagen führt“, schrieb Lichtenberg in einem seiner Sudelbücher. Mein Zug führt mich am späten Nachmittag noch gen Norden, zum Bahnhof nach Uelzen: Der wurde zur Weltausstellung EXPO 2000 zum Umwelt- und Kulturbahnhof nach den Vorgaben von Friedensreich Hundertwasser umgestaltet und zählt jetzt angeblich zu den (zehn) schönsten Bahnhöfen der Welt. Das kann ich nicht beurteilen, weil ich zu wenige Bahnhöfe in aller Welt kenne. Anders als „normale“ Bahnhöfe ist er mit den bunten Säulen, den Mosaiken, Kugeln und Rundungen auf jeden Fall, drinnen und draußen, Und auch hier steht fest: es hat sich gelohnt, einmal nicht nur von Zug zu Zug zu hetzen.

„Man sollte sich nicht schlafen legen, ohne sagen zu können, daß man an diesem Tag etwas gelernt hat,“ sagt Lichtenberg. Ich habe etwas gesehen und gelernt. Und ich bin sicher, dass ich es wieder tun werde – eine Fahrkarte buchen und einfach losfahren.
Carpe diem
Ich verdiene mein Geld teilweise als Korrektorin und Lektorin. Toll, meinen die meisten, wenn sie das hören. Aber wenn sie dann erfahren, was ich lektoriere und korrigiere, lässt die Begeisterung schnell nach. Keine spannenden Romane nämlich, sondern meist Fachbücher und Fachzeitschriften.
Dabei ist vieles gar nicht so trocken, wie es sich anhört. Für einen Informationsjunkie wie mich ist es genau genommen ein Traumjob. Denn ich erfahre bei der Arbeit Dinge, die ich sonst nie erfahren hätte, weil sie mich auf den ersten Blick gar nicht interessieren.
Zugegeben. Vieles brauche ich sicher nie im Leben und manches wird mir trotz mehrseitiger Erklärung immer ein Rätsel bleiben – beispielsweise wie man einen Zahnriemen wechselt. Aber jetzt weiß ich auch, dass man die Betreuung einer Katze als haushaltsnahe Dienstleistung von der Steuer absetzen kann (leider haben wir keine Katze, weil ich gegen Katzenhaare allergisch bin), was ein Suppenkoma ist (das Tief, das Menschen mittags durchleben) oder ein Beinbrecher. Letzteres habe ich – trotz Geschichtsstudium – erst jetzt erfahren, aus einem Buch, das ich zwischen den Jahren (ja, selbstständig sein bedeutet selbst und ständig arbeiten) korrigiert habe.
Beinbrecher sind Gruben, die nur mit Gittern oder Stäben abgedeckt sind. Damit haben die Menschen früher die Lücken in den Fried- bzw. Kirchhofsmauern geschützt, als es noch keine Friedhofstore gab. Das Vieh des Pfarrers und es Totengräbers, das auf dem Friedhof weiden durfte, konnte dank Beinbrechern nicht hinaus und das Vieh der übrigen Dorfbewohner konnte nicht hinein. Und auch für die Untoten und die Geister waren Beinbrecher ein unüberwindliches Hindernis: Sie mussten auf dem Friedhof bleiben.
Interessant war auch, welche Botschaften man den Lebenden oder auch den Toten mitgab. „Der Tod ist die Pforte zum Leben“ oder das klassische „Carpe diem“ sind die optimistischeren Varianten. Andere Mahnungen sind drastischer, wie die am Friedhof von Segnitz in Unterfranken. Sie stammt aus dem frühen 17. Jahrhundert, was die ungewöhnliche Rechtschreibung erklärt.
„All die ihr hier für über geht
Und Mein Schräcklich gestalt anseht
Lebt Gotts fürchtig und nembts zu sinn
Den ihr Müsst werden wie ich bin.
(Aus Reiner Sörries: Der Tod ist die Pforte zum Leben. Die Geschichte des Friedhofseingangs vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Wiesbaden 2016, S. 51)
Vielleicht hat mich das Buch auch deshalb so berührt, weil mir wieder mal bewusst geworden ist, wie schnell das Leben zu Ende sein kann. Ein ehemaliger Kollege meines Mannes ist an Weihnachten gestorben, er wäre im Mai 40 geworden. Eine Freundin hatte eine ischämische Attacke, kein Schlaganfall, aber eine mögliche Vorstufe, und einer anderen Freundin wurde vor genau einem Jahr ein Aneurysma im Gehirn entfernt. Sie hat die OP, die ihr vermutlich das Leben gerettet hat, unbeschadet überlebt.
Henning Mankell, einer meiner Lieblingsschriftsteller, ist im vergangenen Herbst gestorben, David Bowie und Maja Maranow – als Kommissarin Verena Berthold eine meiner Lieblingskommissarinnen im Fernsehen – erst vor ein paar Tagen. Sie war 54, fünf Jahre jünger als ich.
Das erinnert mich an meine guten Vorsätze fürs neue Jahr: mir Zeit zum Leben nehmen und es bunter machen. Ich habe mich also für den Malkurs angemeldet, den ich schon vor vier Jahren zum Geburtstag geschenkt bekommen habe. Und nächste Woche besuche ich zwei Freundinnen aus Studienzeiten, die ich schon lange, zu lange, nicht mehr gesehen habe. Carpe diem.
(Für alle, die es interessiert: Das Buch von Reiner Sörries ist im Februar 2016 im Reichert-Verlag in Wiesbaden erschienen).