Vier Seen-Tour

Eigentlich wollte ich am Wochenende wieder zum Wandern in den Harz fahren, doch dann bin ich, wie von Virologen und Politikern empfohlen, brav zu Hause – in meinem Wohnort – geblieben. Statt zur Oker- oder Eckertalsperre zu wandern, bin ich mit dem Rad zu mehreren kleinen Seen und Teichen in und um Burgwedel gefahren. Die sind zwar klein, haben aber meine Sehnsucht nach Wasser zumindest vorübergehend gestillt.

Der Würmsee, erste Station auf der Vier-Seen-Tour, gehört zu meinen Lieblingsorten in Burgwedel. Und obwohl ich schon so oft da war, entdecke ich immer wieder Neues. Die Schilder beispielsweise, die vor Jahren, vielleicht sogar vor Jahrzehnten, am Stamm eines Baumes aufgehängt und dann wohl vergessen wurden. Sie zeigen, wie achtlos wir mit der Natur umgehen, wie wir unsere Spuren – und Wunden – hinterlassen. Sie zeigen aber auch, dass es der Natur letztlich egal ist, was der Mensch macht – sie passt sich an und überlebt. Wir brauchen die Natur – sie uns nicht.

Auch die Aufschrift auf der Bank nehme ich zum ersten Mal wirklich wahr. Ist sie neu oder habe ich sie bislang immer übersehen, weil ich immer nur in eine Richtung – aufs Wasser – geschaut habe? Egal, sie passt gut zu dem, was mich beschäftigt und zu dem Rückzug, der uns zurzeit aufgezwungen wird. Der uns zum innehalten zwingt.

Gute Mischung: (Lebens)Kunst …

Was brauche ich für mein Leben? Ich nehme mir ein bisschen Zeit, darüber nachzudenken. Neben Reiher, Fuchs, Hase und Eisvogel sitzend, genieße ich die Sonne und den Blick auf den See, bis mich zwei noch ältere Damen vertreiben.

… und Idyll am Würmsee. Das Idyll ist gewachsen, die Kunst entworfen vom Atelier LandArt

Denn drei sind – das verkündet wenig später die Kanzlerin – ab sofort in der Öffentlichkeit eineR zu viel. Die beiden Damen kümmert’s nicht, doch sie sind die einzigen, die keinen Abstand halten – alle anderen Spaziergänger bleiben auf Distanz

Am Springhorstsee, See Nummer zwei, merkt man die Ausgangsbeschränkungen besonders deutlich: Hier ist normalerweise sonntags bei schönem Wetter viel los, doch an diesem Sonntag war ich fast allein. Campingplatz, Hotel und  Restaurant sind wegen Corona geschlossen; auf der Terrasse am See sitzt eine einzige Frau, genießt die Sonne – ohne Kaffee und Kuchen. Ich spaziere am See entlang bis zu der Badestelle am gegenüberliegenden Seeufer. Das Wasser ist noch empfindlich kalt, doch schon in zwei Monaten kann ich hoffentlich wieder im See schwimmen. Das werde ich in diesem Jahr öfter tun als im vergangenen, nehme ich mir fest vor.

Springhorstsee mit kleiner Insel …

… und Badeinsel

Das kalte Wasser stört die beiden, die ich am Pöttcherteich sehe, nicht. Sie sind abgehärteter als ich, haben keine Angst vor kalten Füßen. Die beiden Vorfluter am Ortsrand sind nach dem Regen der vergangenen Wochen gut gefüllt – und bieten offenbar genügend Nahrung für einen Reiher und ein Storch. Die beiden teilen sich das Revier – zuerst auf Distanz. Die Annäherungsversuche des Storchs sind dem Reiher nicht geheuer.

Bitte Distanz halten … Storch und Reiher am Pöttcherteich

Ungewöhnlich viel Betrieb herrscht am Angelteich zwischen Thönse und Wettmar. Noch nie habe ich hier so viele Angler gesehen. Ob das schöne Wetter sie hierher getrieben hat oder der Mangel an Freizeit-Alternativen? Denn die meisten (Freizeit)einrichtungen sind geschlossen – Fitnessstudios, Bäder, Museen und Kinos ebenso wie Freizeit- undTierparks, Sportanlagen und Spielplätze drinnen und draußen), Cafés, Restaurants und Biergärten, Spielbanken, Wettannahmestellen und Prostitutionsstätten. Angelteiche kommen dagegen in der „Allgemeinverfügung der Region Hannover zur Beschränkung von sozialen Kontakten im öffentlichen und nichtöffentlichen Bereich …“ nicht vor – aber das Infektionsrisiko ist bei diesem Hobby sicher gering.

Hexenküche und andere Felsen

In meinem Blog Chaosgärtnerinnen habe ich Ende Februar das Gedicht „Früh im Jahr“ von Georg Britting erwähnt (https://chaosgaertnerinnen.de/frueh-im-jahr). Für alle, die sich es nicht kennen: Eine alte Frau erzeugt darin in ihrer Küche tief unter der Erde einen Hauch von Frühling und die entsprechenden Gerüche, weil ihr ein Topf „mit Sud vom Gewürztem“ überkocht. Das ist, ich gebe es zu, nur eine verkürzte, sehr prosaische Version der letzten Strophe des Gedichts, das natürlich im Internet zu finden ist (http://britting.de/gedichte/4-135.html).

Gestern bin ich nun bei einer Wanderung im Harz an der Hexenküche vorbeigekommen – zumindest am oberirdischen Teil, einer Felsformation aus Granit. Ob Goethes Faust hier von Mephisto den Zaubertrank bekommen hat, der ihn verjüngte und für alle Frauen attraktiv machte, weiß ich nicht. Den Zugang zur unterirdischen Küche im felsigen Tief habe ich weder gesucht noch gefunden. Denn dunkle Erdhöhlen sind nicht so mein Ding, Felsen und Aussichtspunkte mag ich dagegen sehr. Und davon gab es auf unserer Wanderung von Bad Harzburg ins Okertal einige.

Die Hexenhüche

Die Kästeklippen ganz in der Nähe der Hexenküche zum Beispiel. Zu ihnen gehört auch eine Gesteinsformation, die an ein Gesicht erinnern soll und daher – passend zur alten Frau, die in der Hexenküche kocht – den Namen „Der Alte vom Berge“ trägt. Von der einen Seite der rund 600 Meter hohen Klippen hat man einen schönen Blick über das Okertal bis ins nördliche Harzvorland, von der anderen sieht man den Brocken. Und man bekommt eine Ahnung von den Schäden, die Borkenkäfer und Stürme in den letzten Jahren angerichtet haben.

Blick von den Kästeklippen übers Okertal …

Sie haben auch unsere Wanderung beeinflusst. Denn viele schmale Wanderwege sind von umgestürzten Bäumen blockiert: Teilweise mussten wir leider auf breiten Wirtschaftswegen statt auf naturbelassenen Pfaden wandern. Die Stiefmutterklippen waren gar nicht erreichbar und als wir versuchten, den steilen Naturweg von den Feigenbaumklippen Richtung Romkerhaller Wasserfall hinab zu steigen sind wir umgekehrt, weil der Pfad durch umgefallene Bäume unpassierbar war.

… und von den Feigenbaumklippen. Foto Foe Rodens

Den Wasserfall haben wir dann doch erreicht; ziemlich steil und naturbelassen war auch dieser Pfad entlang der Kleinen Romke. Der Bach speist den Romkerhaller Wasserfall, den höchsten Wasserfall im Harz: Über einen rund 350 Meter langen Kanal wird das Wasser zur Romkeklippe geleitet. Von dort stürzt es 64 Meter tief in ein großes Becken und fließt in die Oker.

Der Wasserfall wurde 1863 künstlich angelegt, um die kurz vorher gebaute Gaststätte, die damals noch „Restauration und Logirhaus“ hieß, attraktiver zu machen. Eine Attraktion ist der Wasserfall heute noch, zumindest wenn es so viel geregnet hat wie in den vergangenen Wochen. In trockenen Sommern wird die Kleine Romke dagegen oft zum Rinnsal – und der Wasserfall entsprechend klein und für viele Besucher eine Enttäuschung.

Viel Regen – viel Wasser

Das gilt auch für die Oker. Sie führt vor allem im Sommer mitunter nur wenig Wasser – nicht nur, aber auch weil die Okertalsperre den Wasserdurchfluss reguliert und reduziert.

Doch davon, dass der Bach mitunter nur still vor sich hinplätschert, darf man sich nicht täuschen lassen: Wenn im Wasserkraftwerk die Turbinen angeworfen werden, strömen nach Angaben der Harzwasserwerke rund 6,5 Kubikmeter pro Sekunde aus dem Wasserkraftwerk in die Oker und verwandeln sie in einen wilden Fluss – und in ein Eldorado für Wildwasserkanuten und -kajakfahrer. Das geschieht meist geplant zu bestimmten Zeiten – in der Regel morgens und abends – , aber gelegentlich auch außerplanmäßig.

Wir werden gewiss wiederkommen – um zu wandern, um noch mehr Klippen zu bewundern und um die Wildwasserfahrer auf der laut Harzwasserwerken anspruchsvollsten Wildwasserstrecke Norddeutschlands in Aktion zu sehen. 

Vom Gehen

Ich gehe. (Noch) nicht wirklich aus Überzeugung, sondern weil mein Knie es will.

Ich bin mein Leben lang gelaufen – alle möglichen Strecken von kurzen Sprints bis zu langen Ultraläufen, von 100 Meter bis 100 Kilometer. Laufen war für mich ein wichtiger Teil des Alltags und meines Lebens: Ich habe laufend Frust und Stress abgebaut, die Seele baumeln lassen, entspannt, die Natur genossen, über Gott und die Welt nachgedacht und mit meinen Mitläuferinnen und Mitläufern viele gute Gespräche geführt. So mancher Text ist teilweise beim Laufen entstanden – und für manches Problem habe ich laufend eine Lösung gefunden. Kein Wunder, dass es mir schwerfällt, das Laufen aufzugeben. Aber nach einem Sturz und einer Operation vor ein paar Jahren quittiert mein Knie jeden Laufversuch mit Schmerzen, zwingt mich, es langsamer angehen zu lassen, zu gehen statt zu laufen.

Eigentlich gehe ich ganz gerne: Ich will in diesem Jahr endlich einmal den Hexenstieg im Harz erwandern, außerdem ein Stück von Rhein- und Moselsteig. Und im Herbst möchte ich zum Wandern in die Alpen. Ich erkunde fremde Orte am liebsten zu Fuß und es käme mir auch nie in den Sinn, mit dem Auto ins Dorf einkaufen zu fahren. Ich fahre mit dem Fahrrad – oder ich gehe. Aber daran „nur“ spazieren zu gehen, muss ich mich erst gewöhnen.

Auf dem Moselsteig …

Vielleicht wirken da die langweiligen Sonntagsnachmittagsspaziergänge nach, die ich als Kind mit meinen Eltern und meinen Geschwistern unternehmen musste. Rennen, auf Baumstämmen oder Mäuerchen balancieren, mit den lackbeschuhten Füßen Steine wegzukicken oder der den vorgeschriebenen Weg zu verlassen, war nicht erlaubt. Höchste Zeit, diesen Erfahrungen Positives entgegenzusetzen.

„Es ist nie zu spät, neu anzufangen“, heißt das Buch von Julia Cameron, das ich gerade lese. Sie hält Gehen für eine der wertvollsten kreativen Techniken. Und sie ist bei Weitem nicht die erste und die einzige, die drauf schwört: „Nur wo du zu Fuß warst, bist du auch wirklich gewesen“, sagte einst Johann Wolfgang von Goethe. Und mehr noch: „Was ich nicht erlernt habe, das habe ich erwandert.“ Der Philosoph und Schriftsteller Søren Kierkegaard hat sich, so seine Worte, seine besten Gedanken ergangen und kennt „keinen Kummer, den man nicht weggehen kann“. Virginia Woolf liebte Spaziergänge nicht nur, aber auch in London. Sie nannte sie Street Haunting und verewigte in dem gleichnamigen Essay verewigte. Und für ihre Kollegin Elizabeth von Arnim war wandern „die vollkommenste Art der Fortbewegung, wenn man das wahre Leben entdecken will. Es ist der Weg in die Freiheit.“ Brauche ich noch mehr Gründe, es auch zu versuchen?

Im Stapel der ungelesenen Bücher entdecke ich ein Buch des Schweizer Schriftstellers Franz Hohler mit dem Titel Spaziergänge. Es ist ein Mängelexemplar – ich habe es wohl vor ein paar Jahren antiquarisch gekauft, als ich ahnte, dass ich wohl nicht mehr laufen kann, sondern eher gehen sollte. Jetzt schlage ich es auf und fange an zu lesen: Hohler beschloss vor ziemlich genau zehn Jahren, im März 2010, jede Woche irgendwohin zu gehen und darüber zu schreiben.

Vielleicht ist das ja gar keine schlechte Idee. Julia Cameron empfiehlt in ihrem Buch zwei Spaziergänge pro Woche – allein, ohne Begleitung. Nur meine Kamera, mein Notiz- und mein Tagebuch nehme ich mit – und mein Skizzenbuch. Denn ich will zeichnen lernen. Und es ist ja bekanntlich nie zu spät, neu anzufangen.

Beim Gehen immer dabei: Tagebuch, Skizzenbuch und Notizbuch

Winterwanderung

Den ersten und vermutlich auch den letzten Schnee dieses Winters habe ich am vergangenen Wochenende gesehen. Nicht hier, im norddeutschen Flachland, sondern im Harz. Schnee lag auch dort erst ab ungefähr 800 Meter. Nicht wirklich viel, aber genug für ein bisschen Winterfeeling.

Gemeinsam mit Foe Rodens bin ich an zwei Tagen ab Torfhaus, der Basisstation für Wanderer und Wintersportler, gewandert. Am Freitag ging‘s auf den Brocken, der uns als höchster Berg Norddeutschlands besonders schneesicher schien. In den vergangenen Jahren bin ich gut ein dutzend Mal dort hinauf gewandert – aber noch nie im Winter.

Mystisch: der Brocken im Winter und im Nebel

Die Wanderung im Schnee war ein besonderes Erlebnis – und besonders eindrucksvoll, weil irgendwann unterwegs die Sonne hervorkam und sich der Gipfel unter blauem Himmel präsentierte. Die Landschaft war teilweise im Nebel verschwunden, ich hatte das Gefühl, über den Wolken zu sein, wo die Freiheit ja angeblich grenzenlos ist. Und irgendwann stieg aus dem Nebel ein Heißluftballon hervor.

… und aus dem Nebel steiget …

Unser Wanderziel am Sonnabend hat Foe entdeckt. Zum Glück, denn ich hatte von der Wolfswarte bisher noch nichts gehört. Dabei liegt die Felsformation nur etwa dreieinhalb Kilometer von Torfhaus entfernt – und zählt bei Naturliebhabern zu Recht zu den schönsten Wanderzielen im Harz. Schöner als auf dem viel berühmteren Brocken ist es auf dem Nebengipfel des Bruchbergs allemal – und längst nicht so überlaufen.

Blick von der Wolfswarte über den Harz. Im Hintergrund Altenau

Von der Wolfswarte hat man einen herrlichen Panoramablick über den westlichen Oberharz, zum Beispiel auf Altenau und Teile des Okerstausees. Doch nicht nur wegen des Ausblicks lohnt die Wanderung: Schon der Weg dahin ist so, wie ich mir einen Wanderweg wünsche: schmal, naturbelassen, teilweise recht steinig und feucht und daher bei Temperaturen unter dem Gefrierpunkt recht glatt.

Der Weg ist das Ziel . Foto: Foe Rodens

Ich werde sicher wiederkommen – und vielleicht beim nächsten Mal von Altenau aus das Hochplateau erwandern. Dann werde ich auch den 927 Meter hohen Gipfel des Bruchbergs erklimmen und das Naturdenkmal Okerstein besuchen, ehe ich hoffentlich wieder bei Sonnenschein und höheren Temperaturen den Ausblick von der Wolfswarte genieße.

Zwischen den Jahren

Es ist wieder so weit: Heute endet das Jahr, morgen beginnt ein neues Jahr – und die Zwanziger Jahre. Das neue Jahrzehnt startet erst am 1. Januar 2021, weil die weltweit gültige Zeitrechnung kein Jahr 0 kennt, sondern mit dem Jahr 1 nach Christus anfängt, das der Mönch Dionysius Exiguus Anfang des 6. Jahrhunderts festgelegt hat.

Die Zeit zwischen den Jahren dauert noch bis zum 6. Januar. Diese Zwischenzeit hängt zum einen mit der unterschiedlichen Dauer von Mond und Sonnenjahr zusammen. Denn das Mondjahr mit zwölf durchschnittlich etwa 29,5 Tage langen Monaten ist zwölf Tage kürzer als das Sonnenjahr, das in der Regel 365 Tage dauert. Zum anderen endete das alte Jahr bis zur Neuzeit bereits am 24. Dezember, das neue Jahr begann dagegen bis zur Einführung des gregorianischen Kalenders erst am 6. Januar. Die zwölf Nächte zwischen dem Heiligen Abend und dem Fest der Erscheinung des Herrn (Epiphania oder heilige drei Könige) gelten laut Wikipedia seit dem Konzil von Tours im Jahr 567auch offiziell als besonders verehrungswürdig https://de.wikipedia.org/wiki/Zwischen_den_Jahren

Auch der Tag der Wintersonnenwende am 21. Dezember gehört seit alters her zu den besonderen, den heiligen Nächten in denen die Tore zu der anderen Welt offenstehen. So gelangen Dämonen, Geister und andere wilde (= raue) Gesellen in unsere Welt, ziehen als wilde Jagd durchs Land und treiben ihr Unwesen. Und weil die Grenze zwischen beiden Welten in dieser Zeit durchlässig ist, nutzen Menschen seit alters her die sogenannten Losnächte, um einen Blick in die Zukunft zu erhaschen. Selbst für diejenigen, die nicht abergläubisch sind, die weder an Geister, an andere Welten und die dazugehörenden Wesen glauben noch an die besondere Kraft der Raunächte, ist der bevorstehende Jahreswechsel Anlass, über das vergangene Jahr nachzudenken, Pläne zu schmieden und gute Vorsätze für das neue Jahr zu fassen.

Für mich war 2019 ein schwieriges Jahr. Anfang des Jahres ist mein Lieblingscousin gestorben, im Juli meine Mutter und Ende des Jahres auch noch ein Klassenkamerad, mit dem ich zusammen Abitur gemacht habe. Mein Mann ist schwer erkrankt, ein Freund hat einen Zusammenbruch nur mit viel Glück überlebt, eine gute Bekannte kämpft gegen den Krebs und um ihr Leben. Die Einschläge kommen näher, aber das ist wohl so, wenn man die 60 überschritten hat.

Lohnender Besuch: Bretten in Baden-Württemberg

Die meisten guten Vorsätze vom Jahresanfang habe ich leider nicht in die Tat umgesetzt. Ich habe es weder geschafft, jede Woche ein Buch zu lesen noch jede Woche einen Blogpost zu schreiben – aber mit rund 50 gelesenen Büchern und 40 Blogbeiträgen fällt die Bilanz besser aus als befürchtet. Aus den geplanten Reisen und Wanderungen ist nichts geworden. Ich war nicht in Amsterdam und nicht in Paris und ich habe auch nicht den gesamten Hexenstieg erwandert. Aber immerhin habe ich ein paar sehr hübsche Orte kennengelernt, die nicht auf meiner To-visit-Liste standen und die ich auch sicher nie besucht hätte, wenn meine Pläne nicht durchkreuzt worden wären. Bretten zum Beispiel, Baden-Baden oder Ratzeburg. Und ich weiß jetzt genau, wo ich ich nie leben möchte – doch die Namen der beiden Orte nenne ich an dieser Stelle nicht.

Dieses Jahr war sicher nicht das beste meines Lebens und ich bin irgendwie froh, dass es bald vorbei ist. Aber ich habe natürlich auch Positives erlebt. Ich konnte zwei große Belastungen hinter mir lassen; mein Mann ist nach zwei Operationen wieder auf dem Weg der Besserung. Ich habe ein neues Hobby entdeckt, das mein Leben im wahrsten Sinne des Wortes bunter macht, eine neue Freundin gefunden und einen alten Freund wiedergefunden. Und viele haben mich in diesem Jahr begleitet, getröstet und unterstützt. Ihnen allen vielen Dank. Es gibt also gute Gründe, positiv ins neue Jahr zu schauen, das am anderen Ende der Erde schon begonnen hat, während ich diese Zeilen schreibe.

Mein Leben wird bunter

Weil die Heiligen Nächte zwischen den Jahren noch andauern, möchte ich den Blog mit einem abgewandelten irischen Segenspruch beenden, der am Tag vor dem Heiligen Abend in meinem Adventskalender gestanden und der mich sehr beeindruckt hat: „In den Heiligen Nächten möge Frieden dein Gast sein und das Licht der Weihnachtskerzen weise dem Glück den Weg zu deinem Haus.“  Und mit einem Foto, das Foe Rodens am anderen Ende der Welt bei Auckland aufgenommen hat, dort, wo die Zwanziger Jahre schon begonnen haben.

Sonnenuntergang bei Auckland, fotografiert von Foe Rodens

Hildesheim: Kirchen, Kunst und Weltkulturerbe

Letzte Woche war ich in Hildesheim. Die Stadt stand schon lange auf meiner Da-will-ich-unbedingt-mal-hin-Liste – Neudeutsch: To-visit-Liste. Denn obwohl ich schon seit mehr als 30 Jahren bei Hannover lebe, war ich erst einmal in Hildesheim. Und ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich außer der Halle, in der meine damals zehnjährige Tochter Tennis gespielt hat, nichts von der Stadt gesehen habe.

Zuerst dachte ich, ich hätte nichts versäumt. Denn der Weg vom Bahnhof in die Innenstadt erinnerte mich ein bisschen an meinen Besuch in Bielefeld – und machte eher Lust aufs Umkehren: Ein Billigladen reiht sich an den anderen, die Leute in Eile, so als wollten sie nur eins – so schnell wie möglich weg. Vielleicht lag das auch am Wetter, das an diesem Novembertag zeitweise nicht sonderlich einladend war. Aber manchmal trügt der erste Eindruck eben doch. Nicht nur die Stadt, auch das Wetter wurde besser.

Schon der Marktplatz von Hildesheim ist eine Reise wert. Dass die  meisten Gebäude im Zweiten Weltkrieg zerstört wurden, sieht man nicht. Das Rathaus an der Ostseite des Marktplatzes wurde ebenso wieder aufgebaut wie das Tempelhaus mit dem Renaissance-Erker, das Wedekindsche Haus mit den allegorischen Darstellungen an der geschnitzten Fassade, das Rolandhaus mit dem stattlichen gotischen Staffelgiebel, in dem seit Ende des 18. Jahrhunderts die verarmten Töchter evangelischer Bürger leben konnten, und das Bäckeramtshaus mit dem offenen Arkadengang zur Rathausstraße und dem mit Backsteinen gefüllte Fachwerk.

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Wie alt: Der Marktplatz von Hildesheim mit dem Wollenwebergildehaus, Rokokohaus und dem Bäckeramtshaus (von rechts)

Auch die Michaeliskirche und der Mariendom sind nach dem Krieg auferstanden aus Ruinen – und zählen mit ihren sakralen Kunstwerken seit 1985 zum Unesco Weltkulturebe. Der Mariendom, ursprünglich Mitte des 9. Jahrhunderts gebaut, ist eine der ältesten Bischofskirchen Deutschlands. Mir gefällt die Schlichtheit – und natürlich der Kreuzgang mit dem angeblich 1.000 Jahre alten Rosenstock, dem Wahrzeichen der Stadt und des Bistums Hildesheim. Der ist im Übrigen keine Edel-, sondern eine gewöhnliche Heckenrose (Rosa canina L)

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Der Rosenstock, mit dem angeblich alles angefangen hat …

Der Sage nach soll Kaiser Ludwig der Fromme, Sohn und Nachfolger von Karl dem Großen, Anfang des 9. Jahrhunderts ein Reliqiengefäß in den Rosenstock gehängt haben. Als er es wieder an sich nehmen wollte, gelang ihm das nicht. Für Ludwig war das ein göttliches Zeichen – und Anlass, dort eine Kapelle zu errichten.

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… und der Dom, der kurz danach hier entstanden sein soll.

Im März 1945 verbrannte die Rose bei einem Bombenangriff und wurde verschüttet. Doch anders als der Dom überlebte die Rose ohne menschliche Hilfe: Aus ihr wuchsen noch im gleichen Jahr wieder neue Triebe. Womit bewiesen wäre (oder für alle unter meinen Leserinnen und Lesern, die Latein sprechen wie ihre Muttersprache J: Quod erat demonstrandum): Die Natur braucht uns Menschen nicht. Sie kommt auch ohne uns zurecht.

Außerdem war ich im Roemer und Pelizaeus Museum, das seinen Namen nicht den Römern verdankt, sondern seinen Begründern Hermann Roemer  und Wilhelm Pelizaeus. Besonders gut hat mir das Prunkstück, die Altägypten-Sammlung, gefallen; die Sonderausstellung Voodoo war dagegen definitiv nicht mein Ding.

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Sehenswert – außen wie innen: das Roemer und Pelizaeus-Museum

Zum Besuch der Michaeliskirche mit dem berühmten Deckengemälde aus dem 13. Jahrhundert haben meine Zeit bzw. meine Kunst- und Kirchenbegeisterung nicht mehr gereicht. Aber ich komme gewiss bald wieder. Denn ich habe mir die Museumskarte Hildesheim gekauft, mit der ich bis Ende nächsten Jahres auch das Dommuseum  das Dommuseum, das Stadtmuseum im Knochenhauer Amtshaus und das Besucherzentrum Welterbe Hildesheim besichtigen kann.

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Anlaufstelle für Touristen und Weltkulturerbe-Fans: das Tempelhaus

Wandern im Harz: Auf dem Brocken

Goethe war hier – und hat dem höchsten Berg Norddeutschland im Faust ein literarisches Denkmal gesetzt. Heinrich Heine hat den Brocken ebenfalls bestiegen – und danach die Harzreise verfasst. Ich nehme mir vor nach meiner Wanderung einen Blog zu schreiben (was ich hiermit getan habe).

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Der Brocken fasziniert mich immer wieder: Seit der Berg – zu DDR-Zeiten militärisches Sperrgebiet – im Dezember 1989 wieder geöffnet wurde, war ich sicher ein Dutzend Mal oben. Meist bin ich wie am Sonntag von Torfhaus aus gewandert. Weil ich recht früh unterwegs war, habe ich auf dem Goetheweg nur wenige Menschen getroffen. Und auch auf dem Gipfel war es noch sehr ruhig.

Der Brocken hat für mich eine besondere Bedeutung – nicht nur, weil ich Hexen mag. Ich war auf dem Berg, als mein Vater starb. Am Tag zuvor war ich noch bei ihm gewesen. Fast neun Jahre später nehme ich auf der Wanderung zum Brocken auch ein bisschen Abschied von meiner Mutter. Nein, sie ist nicht gestorben, sie verschwindet nur seit zwei Jahren immer mehr in ihrer Demenz. Es ist ein Abschied auf Raten. Anderthalb Jahre hat sie in einem Heim ganz in meiner Nähe gelebt. Sie hat sich – soweit die Demenz es erlaubt – gut eingelebt und sich wohl gefühlt. Aber meine  Schwestern meinen, dass sie in einem Heim in Norderstedt besser aufgehoben ist – als ich diese Zeilen schreibe, ist sie bereits umgezogen. Ich werde meine Mutter also künftig nicht mehr zwei- oder dreimal in der  Woche, sondern nur noch alle zwei oder drei Wochen einmal besuchen.

Mit dem Wetter habe ich bei all meinen Brockenwanderungen Glück: Das ist bei mehr als 306 Nebel- und mehr als 260 Regentagen keine Selbstverständlichkeit. Es ist mit 8 Grad eher frisch, wenn auch deutlich wärmer als im Jahresdurchschnitt, ziemlich windig und etwas diesig. So zeigt sich das ganze Ausmaß des Waldsterbens zumindest von oben nicht ganz so deutlich. Der tote Silberwald hebt sich nicht ganz so klar vom umgebenden Grün ab – oder umgekehrt.

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Auf dem Brocken: Hexentanzplatz

Auf dem Weg bergab zeigt sich dann, dass der Borkenkäfer ganze Arbeit geleistet hat. Auf dem Teufelsstieg in Richtung Schierke sind stellenweise nur noch wenige grüne Nadelbäume zu sehen.

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Und dennoch deprimiert mich der Anblick weniger als bei meiner Harzwanderung im vergangenen Jahr. Die riesigen grauen Steine und die toten Bäume im Eckerloch wirken fast mystisch – Sinfonie in Grau. Und wenn man genau hinschaut, sieht man, dass zwischen den toten Nadel- neue Laubbäume wachsen. Der Wald lebt – und ist, wenn man den Fachleuten und der Infotafel auf dem Goetheweg glauben darf, artenreicher und stabiler als zuvor. Irgendwann werden wir dem Borkenkäfer also dankbar sein, dass er der dem Tannen- und Fichteneinerlei den Garaus gemacht hat.

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Die Natur schafft das – hoffentlich

Bis wieder alles grün ist, werde ich allerdings nicht warten. Ich plane schon meine nächste Tour zum Brocken: Auf dem Teufelsstieg von Elend aus entlang der Bode über die Schnarcher- und Mauseklipppen und durch das Eckerloch. Dieser Weg soll dem Aufstieg von Mephisto und Faust nachempfunden sein. Und bergab will ich auf Heines Spuren wandern: durch das Tal der schönen Ilse nach Ilsenburg, angeblich der schönste Wanderweg vom und zum Brocken. Und auch in Thale am anderen Ende des Hexenstiegs will ich in diesem Sommer noch wandern: natürlich zum Hexentanzplatz.

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Kaffeepause auf dem Weg zum Tal der Hexen

Die gar nicht graue Stadt am Meer

Nein, es war keine Liebe auf den ersten Blick, auch nicht auf den zweiten oder dritten, eher eine Vernunftehe, aber die halten ja bekanntlich länger und sind auf Dauer manchmal glücklicher als manche Liebesheirat. Aber das ist ein anderes Thema.

Dass wir eine „kleine Auszeit zwischendurch“ gelegentlich in Cuxhaven verbringen, hat sicher auch sachliche Gründe. So dauert die Fahrt von Hannover nach Cuxhaven gerade mal zwei Stunden, bis zum Darß braucht man oft doppelt so lang. Denn man erspart sich den Dauerstau um Hamburg. Dass die Strände auf der Halbinsel Fischland-Darß-Zingst weiter und schöner sind und dass das Wasser an der Nordsee wegen der Gezeiten oft nicht da ist, wenn wir selbst gerade kommen, nehmen wir in Kauf.

Denn inzwischen mag ich Cuxhaven: Mir gefällt, dass ich in dort beides habe – das Meer und eine Stadt in der Nähe mit vielen kleinen Läden. Einen Schreibwarenladen mit so viel Stil und Atmosphäre wie Skribifax in der Deichstraße findet man nur selten – und eine Buchhandlung wie Oliva, in der man nicht nur neue, sondern auch gebrauchte Bücher kaufen kann, ebenfalls.

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Scribifax – Schreibwaren mit Stil

Mich überrascht immer wieder, wie viele schöne alte Gebäude es gibt – auch wenn man die vor allem im Lotsenviertel mitunter erst entdeckt, wenn man in die Höhe blickt. Dass manches originale Fenster im Erdgeschoss einem Schaufenster weichen musste, ist sicher bedauerlich, doch aus Sicht der Einzelhändler verständlich – und im Nachhinein ohnehin mehr zu ändern.

Cuxhaven ist zwar ein Seebad – aber, und auch das ist für in meinen Augen ein Plus, weniger vornehm als andere: eher etwas für die kleinen Leute, weniger für die feinen.

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Schön restaurierte Häuser hinterm Deich …

Hinterm Deich stehen historische Gebäude und moderne Apartementanlagen einträchtig nebeneinander: Denn für mehr als drei Millionen Übernachtungen im Jahr werden natürlich viele Unterkünfte benötigt. Wer sicher sein will, dass er von seinem Zimmer aus über den schützenden Deich blicken kann, sollte mindestens in die dritte Etage ziehen.

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… und davor eine Sinfonie in Blau und Grau. Auch das Watt hat wat.

Beim letzten Cuxhavenbesuch in der vergangenen Woche hatten wir von unserer Wohnung im siebten Stock einen schönen Blick aufs Meer und auf die Elbmündung – für mich die halbe Erholung. Strandfeeling gibt’s übrigens auch in Cuxhaven: gleich nebenan im Stadtteil Duhnen und – fast so schön wie auf dem Darß –  ein paar Kilometer weiter in Sahlenburg.

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Darß-Feeling in Sahlenburg

Dort lohnt auf jeden Fall ein Besuch in dem zwischen Strand und Heide gelegenen Wattenmeer-Besucherzentrum. Von außen ist das moderne Gebäude mit viel Holz und Glas ei echter Hingucker. Drinnen erfährt man viel über das Weltnaturerbe Wattenmeer – über Salzwiese oder Küstenheide, über Wattwürmer und andere kleine und große Tiere, über Umwelt- und Meeresverschmutzung.

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Anschauen lohnt – drinnen und draußen: das Besucherzentrum Wattenmeer

Hier wird auch erklärt, warum man sich keine Sorgen machen muss, wenn das Meer mal weg ist, wenn man selbst gerade ankommt.  Es kommt nämlich immer wieder, versprochen.

Von Städten und Bildern

Eigentlich wollte ich heute nach Tübingen fahren, weil ich die Universitätsstadt am Neckar schon immer mal gerne sehen wollte. Uhland und viele Romantiker haben hier gelebt und Hölderlin, von dem ich, ich gestehe es zu meiner Schande, außer ein paar Gedichten nichts gelesen habe. Hermann Hesse hat in Tübingen eine Buchhändlerlehre gemacht, Claus Kleber Jura studiert, Papst Benedikt Theologie gelehrt, Dietrich Bonhoeffer hat sie  praktiziert. Und Walter Jens war hier Rhetorikprofessor. Zudem soll die Stadt sehr hübsch sein. Gründe genug für einen Abstecher. Und von Bruchsal nach Tübingen ist es ja auch nur ein Katzensprung.

Ich hatte also Tübingen fest eingeplant, meinen Aufenthalt bei meiner Freundin um einen Tag verlängert, mich mit einem neuen Anorak gegen schlechtes Wetter gewappnet und mir Züge ausgesucht, mit denen ich fahren wollte: morgens um halb 9 hin, nachmittags gegen 15 Uhr zurück. Nicht viel Zeit, um eine Stadt kennen zu lernen, aber immerhin genug, um einen ersten Eindruck zu gewinnen – und zu entscheiden, ob es sich lohnt, wiederzukommen. Im Sommer, wenn das Wetter hoffentlich besser ist.

Ich wollte also eigentlich nach Tübingen fahren, doch dann zwang mich die Deutsche Bahn zu einer Planänderung. Denn als ich früh morgens noch einmal nachschauen wollte, wann ich genau abfahren und wo ich umsteigen muss, zeigte sich auf dem Bildschirm das gefürchtete rote Warndreieck

„Weichenstörung: Auf der Strecke Stuttgart Hbf – Tübingen Hbf zwischen Stuttgart Hbf und Esslingen(Neckar). Es kommt zu Verspätungen in beide Richtungen im Regionalverkehr der Deutschen Bahn.“

Weil mein Zeitfenster ohnehin eng war und für Verspätungen keine Zeit, disponierte ich um und blieb zu Hause. Zum Glück. Denn selbst nach 10 war noch keine Besserung in Sicht: „Die Weichenstörung in Stuttgart Hbf besteht leider weiterhin; Züge fahren langsamer. Bitte rechnen Sie mit Verspätungen und vereinzelten Zugausfällen. Die Störung dauert an. Ende noch nicht abschätzbar. Update folgt“, hieß es auf der Bahn-Website.

Mein Reiseupdate sieht statt Tübingen jetzt einen Besuch in Mannheim vor. Auf den ersten Blick vielleicht kein adäquater Ersatz, doch gerade gestern hat mich – meiner Freundin sei Dank – schon eine andere Stadt positiv überrascht. Baden-Baden stand überhaupt nicht auf meiner To-visit-Liste. Doch allein das Museum Frieder Burda ist eine Reise wert.

Das Museum ist schon architektonisch ein Highlight. Und dann war dort das Banskys „Girl with Balloon“ alias „Love is in the Bin“  zu sehen. Allen, die sich nicht (mehr) erinnern, sei die Geschichte kurz erzählt: Im vergangenen Herbst hatte eine Sammlerin das Werk des Street-Art-Künstlers bei einer Kunstauktion bei Sotheby’s gerade für schlappe 1,2 Millionen Euro ersteigert – also ein Schnäppchen –, als die untere Hälfte vor den Augen der Anwesenden zerschreddert wurde.

Die obere Hälfte ist jetzt heil im Rahmen zu bewundern, die zweite Hälfte hängt in Streifen geschnitten darunter. Mindestens so interessant wie das Bild selbst waren zwei Filme, die gezeigt wurden – einer über den Street-Art-Künstler und seine (anderen) Arbeiten, der zweite über die Auktion und die Schredderaktion. „Die Strategien des Kunstmarktes zu torpedieren – und gleichzeitig ihre Dynamik zu beflügeln“ – das ist Bansky sicher gelungen. Denn das kaputte Bild ist jetzt wohl viel mehr wert als bei der Auktion.

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Banksy:
Love is in the Bin
,
2018, Sprayfarbe und Acryl auf Leinwand, 142 x 78 x 18 cm,
Privatsammlung, Foto: Sotheby’s
,
© Banksy

Weil es schon spät war und das Museum schon um 18 Uhr seine Tore schloss, reichte es danach leider nur noch zu einem Schnelldurchgang durch die Brücke-Ausstellung. Wie gesagt: Der Besuch lohnt und auch der kurze Rundgang durch die Stadt machte Lust aufs Wiederkommen. Irgendwie hat Baden-Baden mehr Flair, als ich gedacht hatte. Und so bin ich gespannt auf Mannheim.

Übrigens: Banskys Bild „LOVE IS IN THE BIN“ ist noch bis 3. März  im Museum Frieder Burda in Baden-Baden zu sehen, die Ausstellung „Die Brücke“ noch bis zum 24. März.

Schreibort mit Meerblick

Ich gebe zu, ich habe meinen Mann beneidet. Während ich, noch zur arbeitenden Bevölkerung gehörend, nach einer Woche La Palma wieder zurück ins dezembergraue Deutschland geflogen bin, ist er umgezogen: aus unserem wunderschönen, ganz einsam gelegenen Ferienhaus nach Athos. Nein, nicht in die Mönchsrepublik in Griechenland, wo Frauen – also auch mir – der Zutritt ohnehin verwehrt wäre, sondern in ein gleichnamiges Astrocamp. Das liegt wie das griechische Kloster an einem Berg, wenn auch nicht auf einem heiligen, sondern am Roque de los Muchachos.

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Nicht nur für Männer: Hütte nicht am Berg, sondern im Camp Athos (alle Fotos: Utz Schmidtko)

In 900 Meter Höhe auf dem Weg zum Roque-de-los-Muchachos-Observatorium hat ein Astro-Fan aus Deutschland auf dem Gelände einer ehemaligen Finca das Centro Astronomico La Palma geschaffen. Er vermietet Hütten an Amateurastronomen – mit ausgezeichneten Sichtbedingungen und wenn gewünscht mit dem nötigen technischen Equipment, um nachts die Sterne und tagsüber die Sonne zu beobachten. Das tun meist Männer, deshalb passt der Name Athos prima.

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Ausgezeichnete Sichtbedingungen: Meer- und Himmelsblick.

Nicht nur der Blick ist wunderschön:  Wie fast überall auf La Palma kann man auch hier das Meer sehen. Das Ambiente hat mich ebenfalls begeistert. Die Hütten liegen in einer Art botanischem Garten mit vielen für uns Mitteleuropäer exotischen, auf La Palma aber heimischen Pflanzen. Es gibt einen kleinen Teich mit einem Wasserfall und die Orangerie hat ein ganz besonderes Flair. Hier kochen und essen die Gäste oder treffen sich, um zu fachsimpeln oder miteinander zu klönen.

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Die Orangerie von außen …

Und wieder mal kommen mir die Buchmenschen aus Ray Bradburys Roman Fahrenheit 451 in den Sinn: Sie sind aus der totalitären Gesellschaft, in der Bücher verboten sind und verbrannt werden, geflohen und leben gemeinsam, versteckt im Wald. Hier auf Athos wäre ein idealer Ort für sie. Vielleicht auch für mich. Denn manchmal möchte ich aus meinem Alltag fliehen – und: Ja, ich bin ein bisschen neidisch: Ich wünsche mir auch so ein Camp – mit einer Hütte zum Schreiben und der Möglichkeit, andere Schreibende zu treffen, mich mit ihnen austauschen oder auch mal gemeinsam zu schreiben. Eine Community of writers eben.

Athos Orangerie innen DSC06934-1 (Large)
… und von innen.

Die Amateur-Astronomen haben solche Orte, die Übersetzer auch – das Europäische Übersetzer-Kollegium in Straelen. In dem internationalen Arbeitszentrum finden literarische Übersetzer ideale Bedingungen für ihre Arbeit. 30 Appartements, Arbeitsräume und eine 125.000-bändige Spezialbibliothek, davon 25.000 Lexika in über 275 Sprachen und Dialekten. In der DDR gab es Häuser, in denen Schriftsteller arbeiten konnten, doch die sind, wie manches andere, der Wende zum Opfer gefallen. Uns Schreiberlingen, Journalisten wie Autoren, fehlt ein solcher Ort.

Eine Hütte mit Blick aufs Meer und die Orangerie als Treffpunkt – hier gibt es alles, was frau für eine Schreib(aus)zeit braucht. Vielleicht, träume ich, könnte man die bei Amateur-Astronomen unbeliebten Vollmond-Zeiten für ein Schreibcamp nutzen.

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Kurze Schreibsession vor dem Astro-Camp.

Der tiefe Blick in den Himmel hat so manchen Schreibenden beflügelt, zum Beispiel Joseph von Eichendorff zu einem meiner Lieblingsgedichte. Es heißt Mondnacht. Ich mag den Anfang, aber vor allem die letzte Strophe.

Und meine Seele spannte
Weit ihre Flügel aus,
Flog durch die stillen Lande,
Als flöge sie nach Haus.

https://de.wikipedia.org/wiki/Mondnacht_(Eichendorff)

Zeit zu fliegen, Zeit zu schreiben – time to fly, time to write