Wann habe ich eigentlich angefangen, jedes Jahr die Bücher zu zählen, die ich gelesen habe, und ihre Titel zu notieren? Die ersten (erhaltenen) Anfänge meiner Bücherlisten reichen ins Jahr 2015 zurück: Damals habe ich mir in Lissabon ein „Diário de leitura“, also ein Büchertagebuch, gekauft. Der erste Eintrag war im Februar 2015 Pascal Merciers „Nachtzug nach Lissabon“. Der Roman war lange Zeit eines meiner Lieblingsbücher und natürlich begleitete er mich auch bei unserem Kurzurlaub in Lissabon. Wahrscheinlich hatte ich mir das Reiseziel überhaupt nur oder hauptsächlich wegen dieses Buchs ausgesucht.
Natürlich war ich wie auch der Protagonist des Romans, der Lateinlehrer Raimund Gregorius, in der Livraria Bertrand, der ältesten durchgehend betriebenen Buchhandlung der Welt. Als ich dort das Büchertagebuch entdeckte, konnte ich nicht widerstehen. Regelmäßig habe ich allerdings erst seit 2020 die gelesenen Bücher eingetragen. Im vergangenen wie auch in diesem Jahr haben mich dann die Blogbeiträge von Christof Herrmann (https://www.einfachbewusst.de/2023/12/gelesen-buecher-2023/) animiert, meine eigene Leseliste zu veröffentlichen.
Ich lese etwa 50 bis 60 Bücher jährlich, im vergangenen Jahr waren es genau 60. Da ich die Listen nicht ganz zuverlässig führe, sind es möglicherweise sogar einige mehr. Außerdem fehlen Bücher, die ich noch nicht ganz zu Ende gelesen habe, im vergangenen Jahr zum Beispiel Siri Hustvedts Essayband „Mütter, Väter und Täter“.
Mein Ziel, jede Woche ein Buch zu lesen, habe ich also übertroffen. Ich habe mit Max Frisch meinen früheren Lieblingsautor wiederentdeckt. Die „Entwürfe zu einem Berliner Tagebuch“ haben mich so beeindruckt, dass ich auch „Die Entwürfe zu einem dritten Tagebuch“ angefangen und im neuen Jahr schon zu Ende gelesen habe. Außerdem liegt Montauk neben meinem Bett. Und ich habe einige AutorInnen neu entdeckt, die ich bislang nicht kannte. Besonders berührt haben mich die Bücher von Alba de Cespedes, Angelika Klüssendorf und Bernardine Evaristo.
Ich bin, ich habe es schon einmal geschrieben, eine unstrukturierte Leserin (https://timetoflyblog.com/die-unstrukturierte-leserin): Viele Bücher entdecke ich mehr oder weniger zufällig, zum Beispiel im Freihandbestand der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek in Hannover, in den Neuerwerbslisten und in den Regalen der Bücherei in Großburgwedel, in Buchhandlungen oder als Hinweis in anderen Büchern. Bestsellerlisten interessieren mich wenig, mehr als auf die Kritiken und Empfehlungen verschiedener Kulturseiten und -sendungen vertraue ich auf die Tipps meiner (Schreib)Freundinnen.
Apropos Rezensionen und Empfehlungen: Nicole Seifert stellte bei der Recherche für ihr Buch „Frauenliteratur: Abgewertet, vergessen, wiederentdeckt“* fest, dass im April 2018 auf den Literaturseiten von FAZ und Süddeutscher Zeitung jeden Monat 47 Bücher von Autoren, aber nur 16 von Autorinnen besprochen wurden (Nicole Seifert, S, 34f).
Die Studie #frauenzählen, bei der im März 2018 in Kooperation mit dem Institut für Medienforschung der Universität Rostock 2.036 Rezensionen und Literaturkritiken in 69 deutschen Medienformaten ausgewertet wurden, kam zu einem ähnlichen, repräsentativen Ergebnis: „Auf jedes besprochene Werk einer Autorin kommen zwei Werke eines Autors (…). Männer sind damit doppelt so häufig vertreten“ – und zwar quer durch alle Mediengattungen. „In Wochenzeitschriften werden Autoren noch etwas stärker präsentiert (70%); allein bei Frauenzeitschriften kehren sich die Verhältnisse um: 64% der rezensierten Werke sind von Autorinnen verfasst“ (Sichtbarkeit von Frauen in Medien und im Literaturbetrieb, Seite 8, http://www.frauenzählen.de/studie_downloads.html). Ob sich daran inzwischen etwas geändert hat? Ich glaube kaum. Denn der Fortschritt ist bekanntlich eine Schnecke – und manchmal geht es auch nach einem Schritt nach vorn zwei Schritte zurück.
So musste ich in Nicole Seiferts Buch lesen, „dass wir in der Schule praktisch ausschließlich männliche Autoren lasen“ und dass ihr „in acht Jahren Gymnasium inklusiver Deutsch-Leistungskurs in den späten Achtziger- und frühen NeunzigerJahren … mit Annette von Droste-Hülshoff nur eine einzige Autorin“ begegnete. Meine Tochter hat ein paar Jahre später das gleiche Gymnasium besucht. Vielleicht hätte ich mich doch mehr darum kümmern sollen, was sie gelesen und gelernt hat – oder besser gesagt was nicht.
Wie gut und fortschrittlich meine eigenen Deutsch- und GeschichtslehrerInnen an der Realschule in Neumagen und am Auguste-Viktoria-Gymnasium in Trier waren, wurde mir bei der Lektüre von Nicole Seiferts Buch wieder einmal bewusst: Ich selbst habe in dem Jahr Mittlere Reife gemacht, in dem Nicole Seifert geboren wurde. Und natürlich standen in den späten Sechziger- und frühen Siebzigerjahren vorwiegend Autoren auf dem Lehrplan. Aber wir haben im Unterricht neben der schon damals obligatorischen Judenbuche von Annette von Droste-Hülshoff auch Gedichte von Ina Seidel, Elisabeth Langgässer, Nelly Sachs, Marie Luise Kaschnitz und Ingeborg Bachmann gelesen. Und das „Tagebuch der Anne Frank“ und „Das siebte Kreuz“ von Anna Seghers waren wenn nicht Unterrichtslektüre so doch dringende Lektüreempfehlungen. Vielen Dank nachträglich an Hermann Erschens, Dr. Elisabeth Becker und Dieter Schulz. Sie haben sicher großen Anteil daran, dass ich immer noch eine leidenschaftliche, wenn auch unstrukturierte Leserin bin – mit einem Faible für von Büchern, die von Frauen geschrieben wurden, wie ein Blick auf die unten stehende Liste der gelesenen Bücher zeigt.
Übrigens: „Frauenliteratur: Abgewertet, vergessen, wiederentdeckt“ erscheint im Februar als Taschenbuch. Gespannt bin ich auch auf Nicole Seiferts neues Buch „Einige Herren sagten etwas dazu“, in dem sie die Geschichte der Gruppe 47 aus der Perspektive der Autorinnen erzählt. Es erscheint ebenfalls im Februar im Verlag Kiepenheuer & Witsch.
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Gelesene Bücher 2023
- Elke Heidenreich: Ihr glücklichen Augen
- Elizabeth Strout: O William
- Dörte Hansen: Zur See
- Linda Bostöm Knausgard: Oktoberkind
- Daniela Dröscher: Lügen über meine Mutter
- Felicitas Hoppe 17° fieber
- Alex Schulmann: Verbrenn all meine Briefe
- Monika Peetz: Sommerschwestern I
- Kristin Valla: Haus überm Fjord
- Bonnie Garmus Eine Frage der Chemie
- Auszeit Storys
- Renate Strobl: Ein Raum für mich
- Kerri Maher: Die Buchhändlerin von Paris
- Christine Schünemann: Schreiben
- Christiane Palm-Hoffmeister: FrauenZimmerSchreiben
- Tomas Tromströmer: Lebenserinnerungen
- Richard Ford: wie wir schreiben wollen Essays
- Virginia Woolf: Ein Zimmer für sich allein
- Isabel Allende: Violetta
- Dora Heldt: Drei Frauen und ein falsches Leben
- Helga Schubert: Der heutige Tag
- Anne Gesthuysen: Mädelsabend
- Anne Gesthuysen: Wir sind doch Schwestern
- Kirsten Hannah: Winterschwestern
- Barbara Bronnen: Stadt der Tagebücher
- Raynor Winn: Wilde Stille
- Marie Luise Kaschnitz: Steht noch dahin
- Bernardine Evaristo: Mädchen, Frau etc
- Bernardine Evaristo Manifesto
- Christoph Hein: Unterm Staub der Zeit
- Ewald Arenz: Die Liebe an miesen Tagen
- Donna Leon: Wie die Saat, so die Ernte
- Christiane Wünsche: Wir sehen uns zu Hause
- Deborah Levy: Ein eigenes Haus
- Monika Peetz, Sommerschwestern, teil 2
- Robert Seethaler: Café ohne Namen
- Bettina Storks: Die Poesie der Liebe
- Emily Pine: Botschaften an mich selbst
- Judith Herrmann: Wir hätten uns alles gesagt
- Judith Hermann: Letti Park
- Daniel Schreiber: Zuhause
- Nina George: Das Bücherschiff des Monsieur Perdu
- Heike Abidi: Scheißegal, ich mach das jetzt
- Cornwall Geschichten
- Merian Reiseführer Cornwall
- Anja Schreiber: Entfessle dein Selbst durch Journaling
- Meike Moshammer: Auszeit in Wanderstiefeln
- Susanna Tamaro: Ein denkendes Herz
- Ann Patchet: Aus Liebe zum Buch
- Susanna Tamaro: Geh wohin dein Herz dich trägt
- Volker Weidermann: Mann am Meer
- Sylvie Schenk: Maman
- Elke Vesper: Jetzt erst recht
- Max Frisch: Entwürfe zu einem Berliner Journal
- Thomas Mann: Tonio Kröger
- Alba de Cespedes: Das verbotene Notizbuch
- Angelika Klüssendorf: Risse
- Angelika Klüssendorf: Das Mädchen
- Susanna Tamaro: Die Demut im Blick
- Brigitte Giraud: Schnell leben