Wieder an der Mosel, in dem Ort, wo meine Mutter bis vor drei Monaten gelebt hat. Bei meinem letzten Besuch habe ich den Umzug meiner Mutter vorbereitet und sie am Ende einer anstrengenden Woche mit in ein Altenheim in meiner Nähe genommen. Jetzt bin ich zurückgekommen, um in Ruhe Abschied zu nehmen. Von dem Dorf, in dem ich geboren wurde, von dem Haus, das meine Eltern gebaut haben, das ihr und lange auch mein Zuhause war. Wir werden es verkaufen, weil die Rente meiner Mutter trotz Pflegeversicherung nicht ausreicht, um das Heim zu finanzieren.
Freunde holen mich vom Bahnhof ab, laden mich ein, am nächsten Tag mit ihnen essen zu gehen. Am Abend treffe ich eine Freundin aus der Schulzeit, die gekommen ist, um ihren Vater zu besuchen, am nächsten Vormittag besuche ich die Nachbarn gegenüber. Den Nachbarn ist es zu verdanken, dass meine Mutter so lange alleine leben konnte. Jetzt empfangen sie mich mit offenen Armen: Ich tauche ein in die Nachbarschaft, gehöre dazu, als sei ich nie weggewesen. Ich bin wieder zu Hause. Auf den ersten Blick ist alles ist wie immer, nur meine Mutter fehlt.
Nicht nur sie, sondern auch eine gute Bekannte, die in der gleichen Woche wie meine Mutter in ein Altersheim umgezogen ist. Die Nachbarschaft, das Dorf verändert sich: In den nächsten Jahren werden 80 Häuser verkauft, weil die Besitzer keine Kinder haben oder deren Kinder weit weg wohnen, rechnet ein Bekannter mir vor. Allein in unserer Straße sind es einige. Wenn die Nachbarn, die in den letzten Jahren nach meiner Mutter geschaut haben, in einigen Jahren so alt sind, dass sie Hilfe brauchen, wird es nur noch wenige junge Nachbarn geben, die helfen können – oder wollen. Und auch die Infrastruktur im Dorf wird schlechter: Viele Läden sind in den vergangenen Jahren verschwunden, noch gibt es zwei Bäcker, einen Metzger und einen kleinen Supermarkt. Doch wenn der geschlossen wird, braucht man ein Auto, um sich mit dem nötigsten zu versorgen. Und was, wenn man nicht mehr fahren kann? Schlechte Voraussetzungen, um alt zu werden. Und sicher auch ein Grund, warum ich nicht mehr an die Mosel zurückziehen will, obwohl ich die Landschaft mag.
Eine alte Tradition gibt es noch: Als ich am Morgen des 1. Mai laufe, höre ich Musik. Wie früher spielt der Musikverein von dem kleinen Aussichtsturm auf der gegenüberliegenden Moselseite „Der Mai ist gekommen“ und andere Frühlingslieder. Ich bin, so scheint es, fast die einzige, die das Konzert hört. So früh ist noch kaum jemand auf der Straße.
Die nächsten Tage vergehen wie im Flug: Ich arbeite im Garten, kümmere mich um Dinge im und rund ums Haus, die erledigt werden müssen, miste mein Zimmer aus, in dem noch Bücher aus meinen Studienzeiten stehen. Und immer wieder beantworte ich die Frage, wie es meiner Mutter geht, immer mit einem Kloß im Hals. Viele kannten meine Mutter; dass sie ab und zu aus dem Heim weggeht, wundert niemand: Sie war auch hier fast bis zuletzt viel mit ihrem Rollator unterwegs – bei Wind und Wetter: zum Friedhof, zum Einkaufen, manchmal auch bis zur Kirche. Dass ich meine Mutter dank GPS-Tracker schnell orten kann, wenn sie mal nicht mehr zurück ins Heim findet, finden alle gut.
Außerdem unternehme ich Dinge, für die bei meinen Aufenthalten in den vergangenen Jahren keine Zeit blieb: Ich fahre nach Metz und Luxemburg, wandere zur Konstantinhöhe und zur Märtyrerkapelle: Bis kurz vor Neumagen war der Legende nach angeblich die Mosel rot vom Blut der auf dem Marsfeld in Trier ermordeten Soldaten der Thebäischen Legion. Sie wurden hingerichtet, weil sie dem Christentum abschwören wollten. Und natürlich gehe ich zum Türmchen: Von dort habe ich einen guten Blick aufs Dorf, sehe unser Haus und sogar mein Zimmer.
Mit der Mosel ist es wie mit meiner Mutter: Es ist ein Abschied auf Raten. Ich werde auf jeden Fall wiederkommen, irgendwann im Sommer. Und dann werde ich auch den Besuch in Trier nachholen, für den ich jetzt doch noch keine Zeit hatte.