Jahresrückblog 2024

Und noch einmal Reinhard Mey. Sein Lied „Einundsiebzigeinhalb“ passt nicht nur zur Halbzeitbilanz, sondern auch zum Jahresrückblog am Ende des Jahres. „Was ist aus all dem geworden, was ich mir am Neujahrsmorgen, ganz fest vorgenommen hab?“ Oder, um den König aus Hermann van Veens Musical die Ente Kwak zu zitieren: „Ist es schon wieder so weit?“

Ja, wieder Silvester: Zeit, Bilanz zu ziehen, zurück, aber auch ein wenig nach vorne zu schauen. Zu diesem Jahresrückblog hat mich Judith Peters gleichnamige Aktion inspiriert – allerdings habe ich ihre Vor- und Ratschläge meinen Bedürfnissen entsprechend modifiziert. So habe ich den Beitrag nicht wie die anderen Teilnehmerinnen am 20. Dezember veröffentlicht. Zum einen, weil ich am Morgen dieses Tages zu einer Untersuchung im Krankenhaus war. Zum anderen nutze ich meinen Blog nicht beruflich, er ist rein privat. Und weil ich zwischen den Jahren weder Urlaub noch eine Auszeit vom Bloggen mache, stelle ich diesen Beitrag am letzten Tag des Jahres online.

Leben

Im vergangenen Jahr hat sich für mich einiges geändert. Ich bin seit Ende 2022 Rentnerin, seit Mitte 2023 nehme ich keine Schreibaufträge mehr an. 40 Jahre Lohnschreiberei sind genug. Ich habe gerne und viel gearbeitet – zeitweise wahrscheinlich zu viel. Und oft habe ich es nicht geschafft, das Leben zu genießen. Zu groß war mein Perfektionismus, zu groß die Angst, Aufträge dauerhaft zu verlieren, wenn ich einmal nein sage. Aber jetzt ist Zeit für das Leben nach der Arbeit – und für die Dinge, die ich gerne tue. Wann, wenn nicht jetzt? Denn wer weiß, wie viel Zeit noch bleibt.

Schreiben und lesen

Ich schreibe gerne, und natürlich werde ich weiter schreiben. Blogbeiträge zum Beispiel. In diesem Jahr habe ich nur 51 veröffentlicht, im nächsten Jahr sollen es ein paar mehr werden. Außerdem möchte ich Essays schreiben und mich an Gedichte wagen. Noch beschränke ich mich meist darauf, Letztere zu lesen – vor dem Einschlafen schlage ich oft den Conrady auf, der neben meinem Bett steht. Oder ich lese mich mit dem lyrischen Kalender durchs Jahr.

Apropos lesen: Ein Leben ohne Bücher kann ich mir nicht vorstellen. 60 habe ich in diesem Jahr gelesen – mehr als eins jede Woche. Die Liste der gelesenen Bücher werde ich in den nächsten Tagen in einem Extra-Beitrag posten.

Kunst

Ich liebe Bücher, seit ich lesen kann. Und ich schreibe, seit ich vor fast 50 Jahren Anne Franks Tagebuch zum ersten Mal gelesen habe. Gezeichnet habe ich dagegen nie. Doch jetzt möchte ich es endlich lernen, möchte mehr Farbe in mein Leben bringen. Deshalb habe ich im November mit einem privaten Zeichenkurs angefangen – und ich habe mir wieder einmal fest vorgenommen, im nächsten Jahr mehr zu zeichnen. Vielleicht klappt es ja in meinem neu eingerichteten Schreib-/Malzimmer, in dem ich nicht nur viel Platz, sondern auch viel Licht habe.

Zu der vorläufig letzten Umräumaktion in unserem Haus haben mich die verschiedenen Atelierspaziergänge angeregt, an denen ich in diesem Jahr teilgenommen habe. Ich bin eine Kunstbanausin, aber ich liebe es, Blicke hinter die Kulissen zu werfen und zu sehen, wie und in welcher Umgebung Kunst entsteht.

Außerdem habe ich viele Museen, Ausstellungen und Galerien besucht. Ein Highlight war sicher das Tate in Saint Ives, nicht nur wegen der Bilder im Museum, sondern auch wegen des tollen Blicks aus dem Museum aufs Meer. Sehr gut gefallen haben mir auch die Ausstellungen von Ilon Wikland und Volker Kriegel im Museum Wilhelm Busch. Und die Ausstellung „Nach Italien“ im Landesmuseum hat dazu geführt, dass wir unsere Reisepläne geändert haben und im Frühjahr statt nach Portugal in die Toskana gefahren sind.

Ganz stolz bin ich auf die erste Ausstellung meiner Tochter: Noch bis April sind im Unternehmerinnenzentrum in Hannover Tier-, Natur- und Landschaftsfotos von ihren Reisen und Wanderungen zu sehen.

Reisen

Gereist bin ich im zu Ende gehenden Jahr viel, nicht nur, aber auch dank des 49-Euro-Tickets. Dass es später kam als angekündigt, habe ich den PolitikerInnen längst verziehen, zumindest solange sie es nicht wieder abschaffen. Und auch daran, dass ich bei Kontrollen keine Karte, sondern mein Smartphone vorzeigen muss, habe ich mich inzwischen gewöhnt.

Durch das Ticket bin ich viel mobiler geworden. Ich kann einfach irgendwohin fahren, umweltfreundlich und preiswert. Auf diese Weise habe ich verschiedene Städte erkundet, die schon lange auf meiner To-visit-Liste standen, Wolfenbüttel zum Beispiel, Bad Gandersheim oder Lübeck. Außerdem bin ich jetzt oft in Hannover – gehe ins Museum, in die Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek, in die Herrenhäuser Gärten oder an den Maschsee. Und manchmal wandere ich ziellos durch die Straßen und lerne die Stadt kennen, in deren Nähe ich seit mehr als drei Jahrzehnten lebe.

Neben den kurzen Fahrten gab es natürlich auch die großen und kleinen Reisen mit dem Wohnmobil. Anders als geplant sind wir nicht nach Portugal und Skandinavien gefahren, sondern nach Italien und England. Aber das ist ja der Vorteil dieser Art des Reisens: Man kann spontan entscheiden, wohin die Reise geht. Man kann bleiben, wo es einem gefällt, und weiterziehen, wenn man oder frau mag. Und oft ist der Weg das Ziel.

Wann immer es geht, schaue ich mir unterwegs Gärten an, nicht selten sind sie besondere Highlights auf den Reisen. So waren der Giardino Bardini und der Giardino delle Roses meine Lieblingsorte in Florenz. In Saint Ives hat mir der Skulpturengarten von Barbara Hepworth sehr gut gefallen und nach Saint Austell sind wir nur wegen der Lost Gardens of Heligan gefahren.

Gewandert bin ich auch, wenn auch nicht so viel, wie ich eigentlich wollte. Immerhin bin ich auf den Calmont bei Ediger-Eller gestiegen, bin zum ersten Mal in den Alpen und auf dem South West Coast Path in Cornwall gewandert. Beides schmeckt nach mehr. Den Hexenstieg habe ich leider auch in diesem Jahr nicht geschafft. Aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Der Harz liegt ja quasi vor der Tür und ist zudem auch eine ideale Übungsstrecke für Wanderungen aller Art  

Dank meines Fitnesstrackers weiß ich übrigens genau, wie viel ich in diesem Jahr gegangen bin: Es waren durchschnittlich 9.852 Schritte am Tag, also 3.595.980 insgesamt. Das Ziel 10.000 Schritte täglich habe ich also verfehlt, wenn auch nur knapp verfehlt.  

Omas gegen rechts

Seit einiger Zeit beteilige ich mich an Aktionen der Omas gegen rechts. Denn in Zeiten wie diesen genügt es meiner Meinung nach nicht mehr, gegen Antisemitismus und rechtsradikale Parteien zu sein, die unsere Demokratie gefährden – man muss es auch zeigen.

Dass Jüdinnen und Juden in Deutschland wieder bedroht werden, dass sie Angst haben müssen, mit einer Kippa auf die Straße zu gehen oder in der Öffentlichkeit Hebräisch zu sprechen, macht mich nicht nur wütend, sondern erfüllt mich mit Scham. Und die politische Entwicklung in Deutschland, Europa und der Welt macht mir zunehmend Angst. Immer öfter denke ich an Martin Niemöllers Worte (https://martin-niemoeller-stiftung.de/martin-niemoeller/als-sie-die-kommunisten-holten):

„Als die Nazis die Kommunisten holten,
habe ich geschwiegen,
ich war ja kein Kommunist.

Als sie die Sozialdemokraten einsperrten,
habe ich geschwiegen,
ich war ja kein Sozialdemokrat.

Als sie die Gewerkschafter holten,
habe ich geschwiegen,
ich war ja kein Gewerkschafter.

Als sie mich holten,
gab es keinen mehr,
der protestieren konnte.“

Von 1937 bis 1945 war Niemöller in Gefängnissen und Konzentrationslagern eingesperrt. Sein Schicksal sollte uns mahnen, rechtzeitig aufzustehen und zu verhindern, dass hierzulande die Höckes, Chrupallas und Weidels an die Macht kommen, unsere Freiheit aushöhlen oder gar abschaffen.

Lieblings-Posts

Nennt eure „drei liebsten eigenen Blogartikel des Jahres“, empfiehlt Judith Peters den TeilnehmerInnen des Jahresrückblogs. Ich musste nicht lange nachdenken. Den Beitrag „Nie wieder ist jetzt“ habe ich nach einer Mahnwache vor dem Holocaust Mahnmal auf dem Opernplatz in Hannover geschrieben. Wir wollten am 9. November, am 85. Jahrestag der Pogromnacht von 1938, nicht nur an die Holocaust-Opfer, sondern auch an die Opfer des Massakers der Hamas in Israel erinnern. Und wir wollten ein Zeichen setzen – gegen den wachsenden Antisemitismus in Deutschland und in vielen anderen Ländern (https://timetoflyblog.com/nie-wieder-ist-jetzt).

Die beiden anderen Beiträge gehören eng zusammen: der Text über die Stadt der Tagebücher (https://timetoflyblog.com/die-stadt-der-tagebuecher) und der Beitrag über Orlando Orlandi Posti. Der junge Italiener, dessen Briefe aus dem Gefängnis im Tagebucharchiv von Pieve Santo Stefano aufbewahrt werden, wurde 1944 von den Nazis in den Adreatinischen Höhlen ermordet (https://timetoflyblog.com/in-memorian-orlando-orlandi-posti).

So etwas darf nie wieder passieren. Nie wieder ist jetzt.

Fliegende Wörter

Ja, ich gebe es zu. Neu ist die Idee nicht. Vor drei Jahren gehörte das Vorhaben schon einmal zu meinen guten Vorsätzen fürs neue Jahr (https://timetoflyblog.com/vier-auf-einen-streich). Und damals, ich gestehe es, habe ich es nur ein paar Wochen durchgehalten. Aber weil mir die Idee nach wie vor gefällt, starte ich jetzt einen zweiten Versuch: Ich möchte in (fast) jeder Woche ein Gedicht versenden. Immer noch kein selbst geschriebenes, sondern eines aus dem im Daedalus Verlag in Münster erschienenen Postkartenkalender: Fliegende Wörter. Der Kalender enthält 53 „Gedichte zum Verschreiben und Verbleiben“ – nicht nur aus Deutschland, sondern u. a. auch aus Norwegen, den Niederlanden, Polen, Japan, Italien, Frankreich, Persien und sogar aus dem alten Ägypten.

Ich habe den Kalender Anfang Dezember bei Annabee, meiner Lieblingsbuchhandlung in Hannover, gekauft und lange überlegt, ob ich ihn zu Weihnachten verschenken oder selbst behalten soll. Ich habe mich fürs Behalten und Verschenken auf Raten entschieden – sprich fürs Versenden an FreundInnen und Bekannte. Denn zum Versenden sind Postkarten schließlich da. Und geteilte Freude ist ja bekanntlich doppelte Freude.

Auch einige AbonnentInnen dieses Blogs werden im Lauf des Jahres ein Postkartengedicht bekommen. Sie warne ich auf diesem Weg vor und bitte um Nachsicht: Auch wenn ich mir bei der Auswahl Mühe gebe, passt das Gedicht nicht immer genau zum Empfänger oder zur Empfängerin. Und einige Gedichte werde ich vielleicht gar nicht verschicken, wenn mir gar kein/e passende/r Adressat/in einfällt.

Ein wenig tröstet es mich, dass auch den Kalender-Herausgeberinnen Andrea Grewe, Hiltrud Herbst und Doris Mendlewitsch die Auswahl der Gedichte nicht immer leicht gefallen ist. „Manchmal ist es schwierig, angemessene Gedichte zu finden“, zitiert Greta Rüter Hiltrud Herbst in ihrem Artikel „Zwei Tage ohne Poesie kommen nicht in Frage“ (erschienen am 30. Juli 2018 in der Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 174, S. 26,  https://www.fazschule.net/project/jugendschreibt/2879 ).

Für Hiltrud Herbst war die 26. leider die letzte Ausgabe des Lyrik-Kalenders: Die BücherFrau ist Anfang November gestorben.