Stolpersteine gegen das Vergessen

Am 9. November vor 87 Jahren brannten überall in Deutschland Synagogen. Mit den Novemberpogromen begann die systematische und gewaltsame Verfolgung und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung durch das NS-Regime, die seit 1933 durch Diskriminierung und Ausgrenzung vorbereitet worden war.

Zwischen dem 7. und 13. November 1938 wurden laut Wikipedia rund 1.400 Synagogen, Betstuben, Versammlungsräume und tausende Geschäfte und Wohnungen von Jüdinnen und Juden gestürmt und zerstört; jüdische Friedhöfe wurden geschändet, mehrere hundert Menschen wurden ermordet. Mindestens 30.000 Menschen wurden ab dem 10. November verhaftet, interniert oder in Konzentrationslager deportiert. „Hunderte starben an den Folgen der mörderischen Haftbedingungen oder wurden hingerichtet.“

Die Scham ist nie vorbei

Dafür, dass in meinem Heimatort auch meine drei Onkel bei den Novemberpogromen mitmachten, schäme ich mich noch heute – auch wenn dies lange vor meiner Geburt geschah. Damals drangen nicht nur SA-Leute in die Synagoge und in die Wohnungen der Juden ein, die noch in Neumagen lebten, „Sie zerschlugen alles, was ihnen in die Hände fiel. Altes Porzellan, Schränke u.w; die Synagoge ist im Innern vollständig zertrümmert“, beschreibt die Neumagener Chronik die Verbrechen dieser Nacht.

Der jüngste Onkel war damals erst 13 und er hatte, wie Jorge Semprun in seinem Buch „Die große Reise“ schreibt, eigentlich keine Chance, kein Nazi zu werden. Er war sieben, als Hitler an die Macht kam und die Indoktrination in Schule, Gesellschaft und Familie begann. Meine Tante hat ihrem ältesten Bruder, der als einziger der drei den Krieg überlebte, ihr Leben lang vorgeworfen, er habe den jüngsten in den braunen Sumpf hineingezogen. „Mama hätte ihn alleine nie gehen lassen“, sagte sie immer wieder.

Was würden wohl meine Onkel sagen, wenn sie wüssten, dass ich mich am 9. November mit anderen Omas gegen rechts traf, um den Stolperstein für Dr. Albert David zu putzen, mit Blumen zu schmücken und so an ihn und all diejenigen zu erinnern, die von den Nationalsozialisten diskriminiert, deportiert, gequält und ermordet wurden?

In Erinnerung an Dr. Albert David …

Dr. Albert David lebte und praktizierte mehr als 40 Jahre als Allgemeinarzt in Burgwedel. Er soll ein angesehener Arzt und freundlicher Mensch gewesen sein: So ließ er sich auch in Naturalien bezahlen und schenkte armen Patienten Lebensmittel.

Doch das schützte ihn nicht vor Repressalien und Ausgrenzung, als die Nazis an die Macht kamen. Und ich frage mich, wie viele BurgwedelerInnen, denen er geholfen oder gar das Leben gerettet hatte, ihm seines nach 1933 schwergemacht und in den Tod getrieben haben.

Im September 1938 wurde Dr. Albert David die Approbation als Arzt entzogen, weil er Jude war. Er musste seine Praxis schließen, sein Vermögen wurde eingezogen. Als am 19. Mai 1940 vermutlich zwei Gestapo-Männer ihn in seinem Haus aufsuchten, vergiftete er sich in einem Nebenraum.

… und an 28 ermordete Kinder

Der Stolperstein zur Erinnerung an Dr. Albert David wurde im Juni 2015 verlegt. Seit November 2019 gibt es im Ort 28 weitere Stolpersteine. Sie erinnern an 28 Babys und Kleinkinder, die im Winter 1944/1945 im sogenannten Polenheim verhungerten oder durch Vernachlässigung starben.

Ihre Mütter, Zwangsarbeiterinnen aus Osteuropa, mussten auf Bauernhöfen in der Nähe arbeiten. Ihre Kinder wurden ihnen kurz nach der Geburt weggenommen; sie durften sie in dem Heim, das offiziell „Ausländerkinder-Pflegestätte“ hieß, nicht einmal besuchen. Gepflegt wurden die Kinder in der „Pflegestätte“ nicht: Sie lebten dort unter erbärmlichen Bedingungen und überlebten im Durchschnitt ohne Muttermilch und Zuwendung lediglich zwei Monate. Manche wurden nur wenige Wochen alt, das älteste ein halbes Jahr. Die Kinder wurden auf dem Friedhof an der Thönser Straße an begraben – wo, ist nicht bekannt. Vier von ihnen hatten nicht einmal einen Namen.

Wir Omas haben auch an ihren Stolpersteinen in der Nähe der Grundschule eine Kerze und ein paar Blumen hingelegt und an ihr Schicksal gedacht. Unsere „Omas-gegen-rechts-Westen“ durften wir dabei – so die Vorgabe der Verwaltung – nicht tragen.

An die Anweisung, die Stolpersteine für die ermordeten Kinder nicht zu reinigen, habe ich mich dagegen gerne gehalten. Denn das übernehmen in dieser Woche die Schülerinnen und Schüler der Grundschule Kleinburgwedel. Eine wirklich gute Idee in einer Zeit, in der Antisemitismus, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Hetze gegen Menschen, die (angeblich) anders sind, hierzulande leider auch an Schulen rapide zunehmen. Wohin das führen kann, haben unsere Eltern und Großeltern in den 30er-Jahren des vergangenen Jahrunderts erlebt – und Millionen Menschen nicht überlebt.

NaNoWriMo

Heute, am 1. November, beginnt der „National Novel Writing Month” („Nationaler Monat des Roman-Schreibens”), kurz der NaNoWriMo – und ich habe beschlossen, in diesem Jahr bei dem Schreibprojekt mitzumachen. Ich will zwar keinen Roman schreiben und auch das offizielle Ziel des Projekts – in nur 30 Tagen ein Buch von mindestens 50.000 Wörten zu schreiben – ist für mich, bekennende Langsamschreiberin, völlig utopisch: Ich bin schon zufrieden, wenn ich bei in einem Monat 50.000 Zeichen aufs Papier oder in die Datei bringe.

Denn ich gehöre – zumindest bei meinen „privaten“ Schreibprojekten – zu denen, für die der Amerikaner Chris Baty das Projekt vor mehr als 30 Jahren eigentlich erfunden hat: Ich komme bei Blogs, Geschichten und Co oft nur langsam voran, weil mein innerer Zensor gerne mit am Schreibtisch oder am Computer sitzt und an allem, was ich schreibe, herummäkelt. Leider gelingt es mir nicht immer, ihn – oder genauer gesagt sie – zum Schweigen zu bringen. Und so überarbeite ich schon während ich schreibe, das Geschriebene immer, immer wieder.

Natürlich weiß ich, dass das kontraproduktiv ist – und ich bewundere wirklich alle, die in einem Monat 50.000 Wörter schreiben können. Im Jahr 2009 schafften das laut Wikipedia immerhin mehr als 30.000 der mehr als 165.000 AutorInnen, die sich offiziell am NaNoWriMo beteiligen. Das Schreibprojekte wird übrigens immer beliebter: Im ersten Jahr waren es gerade mal 21 MitschreiberInnen, im vergangenen Jahr haben laut Neobooks-Newsletter mehr als 400.000 teilgenommen, darunter 17.600 aus Deutschland.

Ich zähle nicht dazu, denn ich habe mich nicht offiziell zum NaNoWriMo angemeldet: Ich bin zu alt – oder vielleicht auch zu klug –, unerreichbaren Zielen hinterherzuhecheln. Weil mir aber die Idee gefällt, veranstalte ich meinen eigenen, privaten Schreibmonat und setze mir Ziele, die zu mir passen: So habe ich mir vorgenommen, jeden Tag mindestens eine Stunde zu schreiben – und im November an jedem zweiten Tag einen Blogbeitrag zu veröffentlichen. Auf diese Weise bessere ich meine Blogbilanz auf. Was ich mir am Neujahrsmorgen vorgenommen habe – zwei Blogbeiträge pro Woche – schaffe ich in diesem Jahr wohl nicht mehr; aber vielleicht gelingt es mir ja mindestens, mehr Beiträge als im vergangenen Jahr zu veröffentlichen.

Alle, die jetzt der Schreibehrgeiz gepackt hat, können sich auf der offiziellen Website informieren und registrieren (https://nanowrimo.org/). Infos auf Deutsch gibt es natürlich bei Wikipedia (https://de.wikipedia.org/wiki/NaNoWriMo) oder auch im Epubli-Blog (https://www.epubli.de/blog/nanowrimo).

Notabene: 50.000 Worte in 30 Tagen – das sind etwa 1.650 Wörter täglich. Dieser Blogbeitrag hatte bis zu diesem Nachsatz etwa 420 Wörter. Um das NaNoWriMo-Tagessoll zu erreichen, müsste ich fast viermal so viel schreiben – jeden Tag, auch am Wochenende.

Gedichte und Gedanken

„Dies ist ein Herbsttag, wie ich keinen sah!
Die Luft ist still, als atmete man kaum …“

Die ersten beiden Zeilen des Gedichts spukten bei meinem Spaziergang durch die Herrenhäuser Gärten ständig in meinem Kopf. Wer es geschrieben hat (Christian Friedrich Hebbel) habe zugegebenerweise im Internet recherchiert, als ich wieder zu Hause war, genauso wie den Titel (Herbstbild) und den Rest des Gedichts: Denn ab der dritten Zeile hatte mein Gedächtnis Lücken. Immerhin stimmte der Anfang und passte gut zu diesem Tag, der zwar frostig begonnen, aber sonnig warm weitergegangen ist. Ein Novembertag eben, wie er schöner nicht sein konnte

Herrenhausen war an diesem sonnigen Herbsttag eine gute Wahl – vor allem der Berggarten fasziniert mich jedes Mal aufs Neue. Bei jedem Besuch sieht der Garten anders aus – und ich bedaure wirklich, dass ich kein Gedächtnis für Pflanzen habe.

Daran, dass wir im Unterricht parallel zu dem eher fröhlichen Herbstgedicht auch Hebbels melancholisches Gedicht „Sommerbild“ behandelten, erinnere ich mich dagegen noch auch nach mehr als einem halben Jahrhundert noch. Es ist auch heute noch eines meiner Lieblingsgedichte. Ein Foto zu diesem Gedicht – „des Sommers letzte Rose“ – habe ich vor einem Monat im Garten meines Elternhauses aufgenommen: „Sie war, als ob sie bluten könne, rot“.

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Die letzte Rose in Neumagen …

Zum Abschied von meinem Elternhaus passend handelt auch „Sommerbild“ – für ein Sommergedicht eher ungewöhnlich, von Verfall und Abschied. Die Rose in Neumagen erwies sich allerdings als widerstandsfähiger als Hebbels Rose. Sie hat die Prozedur unbeschadet überstanden und blüht vielleicht heute noch.

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… und die wohl wirklich letzte Rose des Sommers heute in unserem Garten.

Meinem Deutschlehrer verdanke ich übrigens noch ein weiteres Lieblingsgedicht – es ist, passend zum gestrigen 9. November – die Todesfuge von Paul Celan. Denn am 9 November (1989) fiel nicht nur die Mauer und es wurde nicht nur die erste deutsche Republik ausgerufen (1918) – ja, wir können auch Demokratie und Revolution. Am 9. November brannten Synagogen, Wohnungen und Läden von Juden. Es starben Menschen und die Menschlichkeit. Die systematische Verfolgung der Juden begann. Der Tod wurde, wie es in Celans Gedicht heißt, ein Meister aus Deutschland.

Dass es Anfang der siebziger Jahre nicht selbstverständlich war, im Unterricht solche Gedichte zu lesen oder Filme wie „Bei Nacht und Nebel“, einen Dokumentarfilm über die NS-Vernichtungslager und den Holocaust zu sehen, habe ich erst später gemerkt (Danke H. E.). Bei Bekannten, die wie ich damals zur Schule gegangen sind, kam die Zeit des Nationalismus in der Schule gar nicht oder kaum vor. Die Novemberpogrome 1938 wurden lange verharmlosend als Reichskristallnacht bezeichnet. Vieles wurde damals totgeschwiegen, unter den Teppich der Geschichte gekehrt.

Und heute melden sie sich wieder lautstark zu Wort, die Verharmloser, die Verniedlicher, die alten und die neuen Nazis. Die „mit den Schlangen“ spielen und wollen, dass der Tod wieder „ein Meister aus Deutschland“ wird. Antisemitismus, Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit werden wieder gesellschaftsfähig. Viele haben, so scheint es, aus der Geschichte nichts gelernt. Ob da Gedichte helfen?

Zum Nachlesen

http://www.literaturwelt.com/werke/hebbel/herbstbild.html

http://www.literaturknoten.de/literatur/h/hebbel/poem/ichsahdes.html

https://www.lyrikline.org/de/gedichte/todesfuge-66