Auf Lessings Spuren

Eigentlich wollte ich ja am Samstag auf den Brocken wandern, aber weil mein Knie mal wieder nicht so wollte wie ich, schien mir eine Wanderung auf den höchsten Berg Norddeutschlands keine allzu gute Idee. Denn wer hinaufgeht, muss auch wieder zu Fuß hinab – von der Wohnung, in der ich am Wochenende die Katze gehütet habe, bis nach Torfhaus sind das gut 24 Kilometer und zahlreiche Höhenmeter. Außerdem ist der Brocken samstags – noch dazu an einem langen Herbstwochenende mit strahlend schönem Wetter – ein beliebtes Ausflugsziel und daher ziemlich überlaufen. Das Gleiche gilt auch für die Teufelsmauer bei Blankenburg. Also musste ein Alternativziel her.

Wolfenbüttel ist von Bad Harzburg aus mit der Bahn und meinem 49-Euro-Ticket bequem und schnell zu erreichen – im Stundentakt und in weniger als einer Dreiviertelstunde. Kennenlernen wollte ich die Stadt schon lange mal: Schließlich galt die 1570 gegründete „Bibliotheca Augusta“, die heutige Herzog August Bibliothek, einst als achtes Weltwunder (https://www.lessingstadt-wolfenbuettel.de/). Noch heute werden in ihr einzigartige Bücher bewahrt und gezeigt, unter anderem das Evangeliar Heinrichs des Löwen.

Zumindest zwei Bibliothekare, die dort arbeiteten, waren noch berühmter als die Bibliothek: 1621 übernahm der Universalgelehrte Gottfried Wilhelm Leibniz die Leitung der Bibliotheca Augusta – und entwickelte in dieser Zeit „nebenbei“ das binäre System, die Grundlage der heutigen IT-Technik. 150 Jahre später, im Jahr 1770, wurde Gotthold Ephraim Lessing dort Bibliotheksleiter – wohl mehr aus Not, denn aus Überzeugung. Denn obwohl Lessing damals schon ein bekannter Schriftsteller war, plagten ihn finanzielle Sorgen – offenbar war es schon damals schwer bis unmöglich, nur vom Schreiben zu leben. Der Job als Bibliothekar brachte ihm „sechs hundert Thaler Gehalt, nebst freyer Wohnung und Holz auf dem fürstl. Schloße“. Seine Pflichten hielten sich in Grenzen: „Eigentliche Amtsgeschäfte habe ich keine andere als die ich mir selbst machen will. … Ich darf mich rühmen, dass der Erbprinz mehr darauf gesehen, dass ich die Bibliothek als dass ich der Bibliothek nutzen soll“, schrieb Lessing am 27. Juli 1770 seinem Vater. So blieb ihm viel Zeit zu reisen und zu schreiben: In Wolfenbüttel entstanden unter anderem Emilia Galotti, sein wohl bekanntestes Werk Nathan der Weise und sein religionsphilosophisches Hauptwerk „Die Erziehung des Menschengeschlechts“ (1780).

Im Lessinghaus wohnte und arbeitete Lessing nach seiner Heirat mit Eva König im Jahr 1777. Heute ist das Haus teilweise ein Museum, und natürlich habe ich es besucht: eine wahrlich hübsche Dienstwohnung. Von der direkt daneben liegenden Bibliothek konnte ich leider nur die neoklassizistische Fassade betrachten. Denn „die musealen Räume der Bibliothek sind für den Publikumsverkehr auf unbestimmte Zeit geschlossen“, heißt es auf der Bibliotheks-Website. Schade. Ich hätte mir die Büchersammlung allzu gerne angesehen. Aber so habe ich einen Grund wiederzukommen, wenn die Sanierungsarbeiten abgeschlossen sind.

Auf die Schlossbesichtigung habe ich dagegen bewusst verzichtet und bin lieber durch die Stadt gebummelt. Sie hat mit rund tausend meist schön restaurierten Fachwerkhäusern und vielen kleinen Läden wirklich ein besonderes Flair.

Ich mag Städte am Wasser. Wolfenbüttel liegt an der Oker, wird von einem Stadtgraben umschlossen und von zahlreichen Kanälen durchzogen. Sie wurden ab 1542 in der Regierungszeit Herzog Julius‘ angelegt, um die sumpfige Okeraue zu entwässern und die Stadt umbauen und erweitern zu können. Fluss und Grachten waren wichtige Lebensadern der Stadt, sie dienten früher als Transportwege, trieben Mühlen an und leider wurden in ihnen auch Abfälle und Abwasser entsorgt. Die Folge: Oker und Grachten waren damals Kloaken, die zum Himmel stanken: „Im Jahr 1899 werden 168 Tonnen Kot, 7.800 Tonnen Urin, 1.700 Tonnen Kehrricht und 480.000 Tonnen sonstiges Abwasser in die Oker geleitet“, erfahre ich auf dem Audio-Rundgang „Wasserwege Wolfenbüttel“ (www.wasserwege-wf.de), die mich zu fünf Stationen leitet. Die Wasserqualität hat sich glücklicherweise erheblich verbessert. Aber leider wurden große Teile der Wasserwege, die einst das Stadtbild prägten, inzwischen unter die Erde verbannt. Dass beispielsweise unter der Straße Krambuden ein Seitenarm der Oker hindurchfließt, merkt man nicht, wenn man durch die Stadt schlendert. In Klein Venedig ist dagegen noch ein kleines Stück des Großen Kanals zu sehen.

Klein Venedig oder Klein Amsterdam in Norddeutschland

Bedeutende Kirchen gibt es in Wolfenbüttel natürlich auch: Die Trinitatiskirche zählt laut Wikipedia zu den  bedeutendsten Kirchen im Barockstil in Deutschland https://de.wikipedia.org/wiki/St.-Trinitatis-Kirche_(Wolfenbüttel). Nur die Außenmauern wurden aus Stein gemauert, im Inneren wurde Holz verbaut. Dass die Säulen aus je vier verschalten Tannenstämmen bestehen, sieht man ihnen nicht an. Die Hauptkirche Beatae Mariae Virginis, angeblich der erste bedeutende protestantische Großkirchenbau der Welt https://de.wikipedia.org/wiki/Marienkirche_(Wolfenbüttel), war leider über Mittag geschlossen.

Und so bin ich stattdessen in eine Buchhandlung und ein Antiquariat gegangen, die beide schräg gegenüber der Hauptkirche am Kornmarkt liegen. Eigentlich ein passender Abschluss für den Besuch in einer Stadt, die vor allem wegen eines Schriftstellers, der einst dort lebte und arbeitete,  und ihrer besonderen Bibliothek bekannt ist.

Blick in mein Art-Journal. Das Copyright für die eingeklebte Zitatkarte liegt beim ars vivendi Verlag, die Fotos unten rechts wurden aus dem Museumsführer Kultur erleben der Lessingstadt Wolfenbüttel ausgeschnitten und eingeklebt.

Hexenküche und andere Felsen

In meinem Blog Chaosgärtnerinnen habe ich Ende Februar das Gedicht „Früh im Jahr“ von Georg Britting erwähnt (https://chaosgaertnerinnen.de/frueh-im-jahr). Für alle, die sich es nicht kennen: Eine alte Frau erzeugt darin in ihrer Küche tief unter der Erde einen Hauch von Frühling und die entsprechenden Gerüche, weil ihr ein Topf „mit Sud vom Gewürztem“ überkocht. Das ist, ich gebe es zu, nur eine verkürzte, sehr prosaische Version der letzten Strophe des Gedichts, das natürlich im Internet zu finden ist (http://britting.de/gedichte/4-135.html).

Gestern bin ich nun bei einer Wanderung im Harz an der Hexenküche vorbeigekommen – zumindest am oberirdischen Teil, einer Felsformation aus Granit. Ob Goethes Faust hier von Mephisto den Zaubertrank bekommen hat, der ihn verjüngte und für alle Frauen attraktiv machte, weiß ich nicht. Den Zugang zur unterirdischen Küche im felsigen Tief habe ich weder gesucht noch gefunden. Denn dunkle Erdhöhlen sind nicht so mein Ding, Felsen und Aussichtspunkte mag ich dagegen sehr. Und davon gab es auf unserer Wanderung von Bad Harzburg ins Okertal einige.

Die Hexenhüche

Die Kästeklippen ganz in der Nähe der Hexenküche zum Beispiel. Zu ihnen gehört auch eine Gesteinsformation, die an ein Gesicht erinnern soll und daher – passend zur alten Frau, die in der Hexenküche kocht – den Namen „Der Alte vom Berge“ trägt. Von der einen Seite der rund 600 Meter hohen Klippen hat man einen schönen Blick über das Okertal bis ins nördliche Harzvorland, von der anderen sieht man den Brocken. Und man bekommt eine Ahnung von den Schäden, die Borkenkäfer und Stürme in den letzten Jahren angerichtet haben.

Blick von den Kästeklippen übers Okertal …

Sie haben auch unsere Wanderung beeinflusst. Denn viele schmale Wanderwege sind von umgestürzten Bäumen blockiert: Teilweise mussten wir leider auf breiten Wirtschaftswegen statt auf naturbelassenen Pfaden wandern. Die Stiefmutterklippen waren gar nicht erreichbar und als wir versuchten, den steilen Naturweg von den Feigenbaumklippen Richtung Romkerhaller Wasserfall hinab zu steigen sind wir umgekehrt, weil der Pfad durch umgefallene Bäume unpassierbar war.

… und von den Feigenbaumklippen. Foto Foe Rodens

Den Wasserfall haben wir dann doch erreicht; ziemlich steil und naturbelassen war auch dieser Pfad entlang der Kleinen Romke. Der Bach speist den Romkerhaller Wasserfall, den höchsten Wasserfall im Harz: Über einen rund 350 Meter langen Kanal wird das Wasser zur Romkeklippe geleitet. Von dort stürzt es 64 Meter tief in ein großes Becken und fließt in die Oker.

Der Wasserfall wurde 1863 künstlich angelegt, um die kurz vorher gebaute Gaststätte, die damals noch „Restauration und Logirhaus“ hieß, attraktiver zu machen. Eine Attraktion ist der Wasserfall heute noch, zumindest wenn es so viel geregnet hat wie in den vergangenen Wochen. In trockenen Sommern wird die Kleine Romke dagegen oft zum Rinnsal – und der Wasserfall entsprechend klein und für viele Besucher eine Enttäuschung.

Viel Regen – viel Wasser

Das gilt auch für die Oker. Sie führt vor allem im Sommer mitunter nur wenig Wasser – nicht nur, aber auch weil die Okertalsperre den Wasserdurchfluss reguliert und reduziert.

Doch davon, dass der Bach mitunter nur still vor sich hinplätschert, darf man sich nicht täuschen lassen: Wenn im Wasserkraftwerk die Turbinen angeworfen werden, strömen nach Angaben der Harzwasserwerke rund 6,5 Kubikmeter pro Sekunde aus dem Wasserkraftwerk in die Oker und verwandeln sie in einen wilden Fluss – und in ein Eldorado für Wildwasserkanuten und -kajakfahrer. Das geschieht meist geplant zu bestimmten Zeiten – in der Regel morgens und abends – , aber gelegentlich auch außerplanmäßig.

Wir werden gewiss wiederkommen – um zu wandern, um noch mehr Klippen zu bewundern und um die Wildwasserfahrer auf der laut Harzwasserwerken anspruchsvollsten Wildwasserstrecke Norddeutschlands in Aktion zu sehen.