Monatsrückblick Juli 2024

Der erste Monat der zweiten Jahreshälfte ist vorbei, die Tage werden schon wieder kürzer. Das merke ich vor allem, wenn ich morgens auf der Empore meine Morgenseiten schreibe – jetzt fast immer, bevor die Sonne aufgeht.

Unterwegs

Zum ersten Mal seit ewigen Zeiten war ein Monat komplett auftragsfrei – gar nicht zu arbeiten ist für mich irgendwie immer noch ungewohnt, obwohl ich inzwischen seit fast zwei Jahre Rentnerin bin. Und so war ich im Juli recht viel unterwegs: Ich war an der Ostsee (https://timetoflyblog.com/ostsee-statt-normandie), im Harz (https://timetoflyblog.com/auf-dem-hexenstieg), in Thüringen (https://timetoflyblog.com/auf-nach-thueringen) und in Schwerin.

Die Landeshauptstadt von Meck-Pomm wollte schon lange besuchen. Zwei Tage nachdem das UNESCO Welterbekomitee das Residenzensemble Schwerin in die Liste der Weltkulturerbe aufgenommen hatte, war es dann endlich so weit.

Zum Residenzensemble Schwerin gehören neben dem Schweriner Schloss, laut Wikipedia das Musterbeispiel eines historistischen Residenzschlosses, weitere 37 Gebäude (https://de.wikipedia.org/wiki/Residenzensemble_Schwerin). Wie viele ich davon gesehen habe, weiß ich nicht. Denn ich habe mich durch die Stadt und den Tag treiben lassen – ohne Plan und bestimmte Ziele. Repräsentative Gebäude begegnen einem dort auf Schritt und Tritt. Selbst der Bahnhof, auf dem ich angekommen und abgefahren bin, ist Teil des Residenzensembles Schwerin und damit UNESCO-Welterbe.

Natürlich war ich am Schloss, einst Wohnsitz der Herzöge, später Museum und seit der Wiedervereinigung auch Sitz des Landtags von Mecklenburg-Vorpommern. Ich habe unter anderem das Theater, das Museum, den Marstall, das Alte Rathaus, das Kollegiengebäude, heute Sitz der Staatskanzlei des Landes Mecklenburg-Vorpommern, und die wunderschönen alten Villen an der Werderstraße bewundert. Und vom Turm des Doms habe ich den Blick auf die Stadt und die Umgebung genossen, während im Turm die Mittagsglocken läuteten.

Wer wie ich gerne am Wasser ist, hat dazu in Schwerin reichlich Gelegenheit. Ich bin am Unteren Ostorfer See, am Pfaffenteich, am Ziegelsee, am Burgsee und am Schweriner See entlangspaziert. Besonders gut gefallen hat es mir im Burggarten, der das Schloss umgibt. Dort habe ich auch meine beiden Lieblingsplätze gefunden: den Pavillon zwischen den Rosenbeeten und die Orangerie, beide mit Blick auf den Schweriner See. Hier wäre ich gerne geblieben – und ich werde gewiss wiederkommen. Spätestens im Dezember, denn der Weihnachtsmarkt in der Altstadt soll sehr schön sein.   

Am Würmsee

Einer meiner Lieblingsorte in Burgwedel ist der Würmsee – und immer, wenn ich dort bin, frage ich mich, warum ich mir nicht öfter die Zeit nehme, die paar Kilometer zu radeln, um am Ufer zu sitzen oder eine Runde um den See zu spazieren.

In den vergangenen Sommern war der Teich fast verlandet, weil das Grundwasser, das ihn speist, stark gesunken war. Doch nach den regenreichen Monaten ist der Wasserspiegel noch immer hoch, der See reicht fast bis an meine Lieblingsbank heran. Dort sitzen Fuchs, Reiher, Eisvogel und Kröte friedlich zusammen und stellen allen, die vorbeikommen, die gleiche Frage: „Was brauchst du für dein Leben?“

Den vieren machen die vielen Stechmücken offenbar ebenso wenig aus wie den Gänsen, die den immer noch halb überfluteten Steg zum Boot besetzt haben. Auf mich stürzten sich die stechenden Plagegeister, sobald ich stehen blieb. Nur den Steg mit den Badenden hatten sie offenbar noch nicht entdeckt – und so konnte ich auf der hölzernen Liege zumindest eine kurze Schreib-, Denk- und Kaffeepause einlegen.

Klassik in der Altstadt

Manchmal frage ich mich, warum ich etwas bislang nicht wahrgenommen hat. Zum Beispiel das Festival „Klassik in der Altstadt“, das sich längst über Hannover hinaus einen Namen gemacht hat. Schon zum 21. Mal organisierte Ariane Jablonka, Inhaberin der Agentur AJ Classic und des Musikhauses Döll, in diesem Jahr die Konzertreihe mit Nachwuchsmusikerinnen und -musikern, die an der Musikhochschule Hannover oder am Institut zur Früh-Förderung musikalisch Hochbegabter (IFF) studieren. Die Konzerte auf dem Alten Marktplatz und in der Kreuzkirche dauern etwa eine halbe Stunde. Der Eintritt ist frei, die Atmosphäre viel lockerer als bei „normalen“ klassischen Konzerten und das Publikum gemischter. Etwa 10.000 Menschen kamen in diesem Jahr zu den insgesamt 20 Konzerten an drei Samstagnachmittagen.

Mich haben besonders begeistert die Konzerte der Frühstudierende des IFF begeistert. Im ersten zeigten Jannes Wald (Saxofon), Finja Händel (Flöte) und Nepheli Elsas (Klavier) zunächst solo, dann gemeinsam ihr Können. Noch jünger als die drei ist Charlotte Melkonian, die danach auftrat. Die erst elfjährige Cellistin, die noch die Vorklasse des IFF besucht, avancierte zum Publikumsliebling und gewann den Publikumspreis. Vielleicht löst sie ja in ein paar Jahren Sol Gabetta als meine Lieblingscellistin ab.

Nach meiner Premiere stand fest: Im nächsten Jahr bin ich wieder dabei, vielleicht dann mit meinen musikalischen Enkeltöchtern.

Olympische Augenringe

Alle vier Jahre läuft bei uns zwei Wochen lang der Fernseher heiß: Während der Olympischen Spiele schaue ich mir Sportsendungen an, wann immer ich Zeit habe. Mich interessieren – von wenigen Ausnahmen wie Boxen, Ringen, Gewichtheben und Schießen abgesehen – fast alle Sportarten.  Und auch die Eröffnungs- und Abschlussfeier sind eigentlich nicht mein Ding. Eigentlich. Denn die Eröffnungsfeier der 33. Olympischen Spiele am Abend des 26. Juli in Paris hat mich begeistert. Sie fand nämlich nicht wie (fast) alle Eröffnungsfeiern vor ihr in einem Stadion statt, sondern mitten in Paris und auf der Seine. Und sie war eine spannende Reise durch die französische Geschichte und Kultur. Besonders gut gefallen haben mir die Skulpturen der für die Frauenbewegung bedeutenden Frauen. Unter anderem Christine de Pizan, Olympe de Gouges, Simone Veil und Simone de Beauvoir schwimmen jetzt in der Seine. Ob sie auch nach dem Ende der Spiele bleiben dürfen? Ich bin gespannt.

Weiteres Highlight war Jeanne d’Arc, die auf einem Pferd aus Metall auf der Seine von der Pont d’Austerlitz bis zum Place du Trocadéro ritt und die Olympische Fahne überbrachte. Und auch für die Olympische Flamme haben sich die Organisatoren etwas Besonderes einfallen lassen. Sie schwebt in einem Gasballon bis zum Ende der Spiele heute Abend über dem Jardin des Tuileries am Louvre. Und vielleicht sehe ich nach der gelungenen Eröffnung heute Abend auch zu, wie die Olympischen Spiele enden und die Flamme erlöscht.

Wie viel Zeit bleibt

Vor fünf Jahren, am 31. Juli 2019, starb meine Mutter. Sie war 95 Jahre alt, ihre Kräfte und ihr Lebenswillen hatten in den letzten Wochen immer mehr nachgelassen. Seit ihrem Tod sind viele andere Menschen aus meinem Bekannten- und Freundeskreis gestorben. Fast alle waren viel jünger als meine Mutter, einige sogar jünger als ich. Die beiden Freundinnen beispielsweise, die ich schon sehr lange kannte – dass wir uns erst einige Jahre vor ihrem Tod angefreundet haben, bedaure ich sehr. Von der einen konnte ich mich verabschieden, von der anderen nicht. Bei unserem letzten Treffen ahnten wir beide nicht, dass wir uns nicht wiedersehen würden.

Seit ich von ihrem Tod erfahren habe, frage ich mich immer wieder, wie viel Zeit mir noch bleibt – und wie ich sie gestalten möchte. Und ich nehme mir vor, das Leben mehr zu genießen, öfter in den Tag hineinzuleben, wie an manchen Tagen im Juli. Carpe diem.

Ach Paula oder „Ich werde noch was“

Paula Modersohn-Becker gehört nicht zu meinen LieblingsmalerInnen, oder soll ich sagen, gehörte. Denn natürlich habe ich mir die Ausstellung ihrer Bilder im Landesmuseum in Hannover angesehen. Schließlich zählt Paula-Modersohn Becker zu den bedeutendsten Künstlerinnen der Zeit um 1900 – sie war eine der ersten ExpressionistInnen in Deutschland, wenn nicht die erste überhaupt. Und mich beeindruckt die Zielstrebigkeit, ja Besessenheit, mit der sie ihren Weg ging, an sich und ihr Talent glaubte – zu einer Zeit, in der Kunst vorwiegend Männersache war.

Frauen durften um die Jahrhundertwende noch nicht an Kunstakademien studieren. Wie viele andere Malerinnen, despektierlich Malweiber genannt, nahm auch Paula Becker privaten Malunterricht und besuchte nach ihrer Lehrerinnenausbildung die Zeichen- und Malschule des Vereins der Berliner Künstlerinnen. An der „Damenakademie“ hatte vor Paula Becker auch Käthe Kollwitz ihre Ausbildung begonnen und später unterrichtet.

Worpswede besuchte die junge Malerin erstmals im Sommer 1897 mit ihren Eltern , ein Jahr später zog sie zunächst vorübergehend, später dauerhaft in die Künstlerkolonie. Sie nahm Zeichenunterricht bei Fritz Mackensen, lernte ihre Freundin Clare Rilke-Westhoff und auch den elf Jahre älteren  Maler Otto Modersohn kennen, den sie 1901 heiratete. Modersohn erkannte ihr Talent, schätzte den Austausch mit ihr und unterstützte sie auch finanziell.

„Wundervoll ist dies wechselseitige Geben und Nehmen; ich fühle, wie ich lerne an ihr und mit ihr. Unser Verhältnis ist zu schön, schöner als ich je gedacht, ich bin wahrhaft glücklich, sie ist eine echte Künstlerin, wie es wenige gibt in der Welt, sie hat etwas ganz Seltenes. […] Keiner kennt sie, keiner schätzt sie – das wird anders werden“, schrieb er am 15. Juni 1902 in sein Tagebuch.

Anders wurde das leider erst nach ihrem Tod im November 1907. Zu ihren Lebzeiten konnte Paula Modersohn-Becker gerade mal eine Handvoll Bilder verkaufen, für die meisten ihrer Worpsweder Malerkollegen war sie nur die Frau von Otto Modersohn. Doch davon ließ sie sich ebenso wenig dauerhaft entmutigen wie von den teilweise vernichtenden Kritiken. Mutig setzte sie sich über viele Konventionen hinweg – künstlerisch und gesellschaftlich.

„Sie haßt das Conventionelle und fällt nun in den Fehler alles lieber eckig, häßlich, bizarr, hölzern zu machen. Die Farbe ist famos, aber die Form? Der Ausdruck! Hände wie Löffel, Nasen wie Kolben, Münder wie Wunden, Ausdruck wie Cretins. Sie ladet sich zuviel auf.“, notierte Otto Modersohn im September 1903 in seinem Tagebuch und fügt hinzu „Rath kann man ihr schwer ertheilen, wie meistens“(zitiert nach https://de.wikipedia.org/wiki/Paula_Modersohn-Becker).

„Daß ich mich verheirate, soll kein Grund sein, daß ich nichts werde“ schrieb Paula im November 1900 an ihre Mutter, die ihre künstlerische Ausbildung förderte und ihre Tochter bestärkte, die Kunst nicht aufzugeben. Auch nach der Heirat malte Paula weiter, sie behielt ihr eigenes Atelier, reiste und lebte mehrere Monate allein in Paris. Inder französischen Hauptstadtentdeckte sie unter anderem die Werke von Paul Cézanne und Paul Gauguin, besuchte Kurse an privaten Akademien, unter anderem Anatomie- und Aktkurse in der École des Beaux-Arts – und malte als erste Künstlerin Selbstakte, unter anderem das »Selbstbildnis mit rotem Blütenkranz.

„Ich werde noch etwas. Wie groß oder wie klein, dies kann ich selbst nicht sagen, aber es wird etwas in sich Geschlossenes“, schrieb Paula im Januar 1906 aus Paris an ihre Mutter. Sie sollte recht behalten: Als sie mit 31 Jahren im November 1907 kurz nach der Geburt ihrer Tochter starb, hinterließ sie rund 800 Gemälde und 2.500 Zeichnungen.

„Es ist nicht auszudenken, was noch alles entstanden wäre, wenn sie noch länger gelebt hätte. Sie träumte in den letzten Monaten viel von Italien, das sie nie gesehen, von Akten im Freien, von großfigurigen Bildern. Man kann nur ahnen, was sie der Welt noch geschenkt hätte“, schrieb Otto Modersohn (Ein Buch der Freundschaft, 1932, zitiert nach https://de.wikipedia.org/wiki/Paula_Modersohn-Becker).

Nach Paulas Tod organisierten er und Heinrich Vogeler mehrere Ausstellungen, durch die einige Sammler auf sie aufmerksam wurden und ihre Bilder kauften. Unter anderen auch der hannoversche Keksfabrikant, Mäzen und Kunstsammler Hermann Bahlsen. Er schenkte dem Landesmuseum 1910 zwei Bilder von Paula Modersohn-Becker: Das „Stillleben mit Schellfisch“ (das ich persönlich überhaupt nicht mag) und seine ursprüngliche Rück- oder Vorderseite „Rotes Haus mit Birke“. Sie bildeten den Grundstein der Sammlung, die derzeit 39 Gemälde von Paula Modersohn-Becker umfasst und damit laut Landesmuseum die „weltweit größte Sammlung außerhalb Bremens“ ist.

„Die Hannoveraner Modersohn-Becker-Sammlung besticht durch internationale bekannte Hauptwerke wie das »Selbstbildnis mit Hand am Kinn«, aber auch durch eine beeindruckende Themenvielfalt. Sie umfasst Werke aus dem gesamten Schaffensprozess der Künstlerin: Von Landschaftsbildern über Stillleben und Darstellungen von Frauen und Kindern ist alles vertreten“, heißt es in der Pressemitteilung des Museums zu Ausstellung.

Mir hat die Ausstellung gefallen. So gut, dass ich sicher noch mal hingehen werde, bevor sie Ende Februar schließt. Denn manches Bild erschließt sich erst auf den zweiten Blick. Und Paula Modersohns Weg als Künstlerin verdient die Aufmerksamkeit allemal. Oder um Falko Mohrs, den Niedersächsischen Minister für Wissenschaft und Kultur, zu zitieren: „Paula Modersohn-Becker war eine mutige Künstlerin, die sich gegen gesellschaftliche Konventionen stellte und als Frau an der Spitze der Entwicklung der Moderne in Deutschland stand. … Mit ihrer ungeheuren Schaffenskraft und inneren Stärke kann Paula Modersohn-Becker uns allen als Vorbild dienen.“ Dem ist eigentlich nichts mehr hinzuzufügen.

Die Ausstellung im Landesmuseum ist noch bis zum 25. Februar zu sehen.