Die Stadt der Tagebücher

Überschwemmungen in Italien, viele Dörfer und Städte stehen unter Wasser. Besonders betroffen ist die Emilia Romagna, die Region, durch die wir auf unserer Rückreise aus der Toskana gefahren sind. Auch an jenem Tag regnete es ohne Unterlass – zum ersten Mal, seit wir drei Wochen zuvor den Brenner überquert haben. Der Regen setzte am Nachmittag des Vortags ein, gerade als wir Pieve Santo Stefano, den letzten Ort auf meiner To-visit-Liste, verlassen hatten.

Natürlich frage ich mich, wie es dort aussehen mag. Schließlich liegt Pieve Santo Stefano direkt am Tiber – und schon einmal, im Jahr 1855, hat eine Überschwemmung in dem kleinen toskanischen Ort an der Grenze zur Emilia Romagna große Schäden angerichtet. Damals wurden viele Gebäude und Kunstwerke beschädigt und zerstört, ebenso bei den beiden Erdbeben im April 1917 und im Juni 1919.

Der Tiber fließt durch Pieve Santo Stefano, Anfang Mai ruhig und mit wenig Wasser.

Weit schlimmer aber waren die Zerstörungen durch die deutschen Soldaten im Zweiten Weltkrieg. Seit 1943 fanden in der Region schwere Kämpfe statt, Ende August 1944 verminten die Deutschen auf ihrem Rückzug den Ort und sprengten fast alle Gebäude. Nur der Palazzo del Comune und die Kirche blieben erhalten. Fast 99 Prozent der Gebäude und über 100 Kilometer Straßen waren laut Wikipedia zerstört (https://de.wikipedia.org/wiki/Pieve_Santo_Stefano). Als die Bewohner zurückkehrten und ihr Dorf wieder aufbauten, wurden die alten Gebäude im Renaissance-Stil durch moderne Häuser ersetzt.

So schön wie viele andere toskanische Städte ist Pieve Santo Stefano daher nicht. Und vielleicht ist der Ort in Deutschland deshalb fast unbekannt. Doch für mich steht seit 1996 fest, dass ich irgendwann nach Pieve Santo Stefano muss. Damals habe ich, begeisterte Tagebuchschreiberin, Barbara Bronnens Buch* „Die Stadt der Tagebücher. Vom Festhalten des Lebens durch das Schreiben“ gelesen: Die Erzählerin besucht mit ihrer Freundin Eva das Fest der Tagebücher, das alljährlich im September in Pieve Santo Stefano stattfindet. Seit 1984 gibt es in der Stadt der Tagebücher (Città del Diario) das nationale Tagebucharchiv (Archivio Diaristico Nazionale), in dem inzwischen mehrere tausend Tagebücher und andere zeitgeschichtliche Dokumente aufbewahrt werden.

Die Idee, autobiografische Schriften – Tagebücher, Briefwechsel und persönliche Lebenserinnerungen – ganz „normaler“ Menschen zu sammeln und Interessierten zugänglich zu machen, hatte der italienische Journalist Saverio Tutino.. „Das Archiv will nicht nur, wie ein Museum, die persönlichen Texte aufbewahren sondern ihren inneren Reichtum auf verschiedenste Weisen fruchtbar machen“, schreibt er (http://www.archiviodiari.org/index.php/archivio/423-das-tagebucharchiv-von-pievesanto-stefano). Ziel sei es, bislang verborgene Texte zu neuem Leben und neues Interesse an autobiografischen Texten zu wecken. Das ist gelungen: Der Tag der Tagebücher im September ist inzwischen Tradition; alljährlich werden Tagebücher prämiert und von Verlagen veröffentlicht. Und auch in anderen Ländern sind inzwischen Tagebucharchive entstanden, in Deutschland in Emmendingen.  

Meine Italienischkenntnisse reichen leider für einen Besuch im Tagebucharchiv nicht aus, doch zum Glück gibt es seit fast zehn Jahren – seit dem 7. Dezember 2013 – das „piccolo museo del diario“ im ersten Stock des Palazzo Pretorio, einem der wenigen von den deutschen Soldaten nicht zerstörten Gebäude.

Das Museum ist wirklich klein, es besteht nur aus vier Räumen. Original-Tagebücher und -Dokumente gibt es hier leider nur wenige – die meisten im zweiten Raum, in dem eine Ecke an Saverio Tutino, den Gründer des Archivs der Tagebücher, erinnert. Aber man kann mithilfe von Multimedia-Tools die Tagebücher und Briefe aus drei Jahrhunderten ansehen und anhören. Bekannte Schauspieler lesen Auszüge aus den Dokumenten vor.

Im ersten Raum verstecken sich die virtuellen Dokumente – wie manche echte Tagebücher – in Schränken und Schubladen. Öffnet man sie, werden sie lebendig und geben ihre Geheimnisse preis. Besonders beeindruckt haben mich die Auszüge aus Tagebüchern und Briefen, die ein junger Mann geschrieben hat, der im Zweiten Weltkrieg von den deutschen Besatzern gefangen genommen wurde. Er träumte von einem Leben nach dem Krieg, wollte reisen, studieren – wie Anne Frank. Doch wie sie konnte er seine Wünsche nicht verwirklichen. Auch er wurde ermordet. Aber das Tagebucharchiv und das Tagebuchmuseum verhindern, dass das, was er in der Zeit vor seinem Tod gefühlt, gedacht und gehofft hat, in Vergessenheit gerät.

Sein Landsmann Vincenzo Rabito, geboren 1899, hat den Krieg überlebt, sich das Schreiben selbst beigebracht – und seit Ende der 60er-Jahre bis zu seinem Tod im Jahr 1981 seine Erinnerungen und die Geschichte des Jahrhunderts aufgeschrieben. Entdeckt wurden die Aufzeichnungen erst nach Rabitos Tod durch das Nationale Tagebucharchiv; 2007 wurden sie unter dem Titel „Terra Matta“ teilweise veröffentlicht und mit dem Literaturpreis Racalmare Leonardo Sciascia ausgezeichnet. Fotos aus dem Leben des Autors und von Manuskriptseiten werden im dritten Raum des kleinen Museums an die Wand projiziert, Auszüge aus dem mehr als tausendseitigen Text sind zu hören.

Im letzten Raum ist schließlich das größte und wohl ungewöhnlichste „Tagebuch“ der Sammlung zu sehen. Nach dem Tod ihres Mannes schrieb die Bäuerin Clelia Marchi ihre Erinnerung an das Leben mit ihm nieder – zuerst auf Papier, dann, als sie kein Papier mehr hatte, auf einem Betttuch. Ein Abdruck des Tuchs ziert auch das Cover des Buches von Barbara Bronnen, das leider vergriffen ist. Aber mein Exemplar hat mich auf unserer Reise durch die Toskana natürlich begleitet.

Besichtigungen des kleinen Museums sind nur mit Führung möglich. Weil ich an diesem Morgen die einzige Nicht-Italienerin war, führte mich Silvia Gennaioli durch die Räume, erklärte mir alles und beantwortete meine Fragen auf Englisch. Die gesprochenen Tagebuch-Texte konnte ich auf einem Audio-Guide auf Englisch hören. Ganz herzlichen Dank noch einmal dafür.

Das piccolo museo del diario ist täglich geöffnet. Wer es besuchen möchte, sollte sein Ticket vorher buchen, weil die Zahl der TeilnehmerInnen an den Führungen begrenzt ist. Es lohnt sich wirklich. Mehr Informationen und Tickets unter

www.piccolomuseodeldiario.it 

*Dieser Beitrag enthält unbezahlte Werbung

Barbara Bronnen: Die Stadt der Tagebücher. Vom Festhalten des Lebens durch Schreiben. Krüger Verlag, 1996

Italienische Reise, Teil I

Wir sind wieder da. Zurück aus Italien, genau drei Wochen, nachdem wir – später als eigentlich geplant – losgefahren sind. Und auch die Tourplanung hat sich unterwegs geändert. Ich habe Venedig von der Liste der Etappenziele gestrichen. Nicht nur, weil wir nach drei Wochen wieder zu Hause sein mussten. Sondern auch, weil mir in Florenz klar wurde, dass ich die Stadt nur richtig genießen kann, wenn ich dort übernachte und sie besichtigen kann, bevor morgens Tausende Touristen von außen hineinströmen und nachdem sie abends wieder verschwinden. Aber das ist ja der Vorteil vom Reisen mit dem Wohnmobil: Man muss, zumindest wenn man wie wir nicht in der Hauptsaison verreist, nichts lange im voraus buchen. Man kann an einem Ort länger bleiben oder eben auch früher wieder abreisen. Oder eben (vorerst) gar nicht hinfahren.

Fast 3.200 Kilometer sind wir in drei Wochen gefahren, die meisten – jeweils rund 500 Kilometer – an den insgesamt vier An- und Abreisetagen nach Italien und wieder zurück nach Deutschland. Die meisten Etappen unserer Rundreise durch die Toskana waren vergleichsweise kurz: Neben Florenz standen Lucca, Pisa, Siena, Arezzo und Pieve Santo Stefano auf meinem Programm. Am Anfang und zwischendurch gab‘s auch ein paar „Erholungstage“ am Wasser: Auf der Hinfahrt waren wir drei Tage am Gardasee, zwischendrin drei Tage am Meer, in Vada, einem kleinen Ort bei Livorno an der Maremma-Küste. 

Beim Reisen mit dem Wohnmobil entdeckt frau manche Orte, die sie sonst nie kennenlernen würde. Greding zum Beispiel, das mein Mann eigentlich nur wegen des Stellplatzes direkt an der Autobahn ausgesucht hatte. Wie hübsch der Ort ist, habe ich erst auf der Rückfahrt entdeckt. Laut Wikipedia gibt es in der mittelfränkischen Stadt 154 Baudenkmäler (https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Baudenkmäler_in_Greding#Stadtbefestigung), zum Beispiel die noch fast vollständig erhaltene ehemalige Stadtmauer mit zahlreichen kleinen Wehrtürmen. Oder den Marktplatz mit dem Rathaus und vielen anderen gut restaurierten Gebäuden aus dem 17. bis 19. Jahrhundert.

Auch in Vada sind wir wegen des Campingplatzes gelandet. Der liegt nämlich – anders als viele andere Campingplätze in der Gegend – direkt am Meer. Und für unser Wohnmobil gab es einen Platz in der ersten Reihe, nur durch eine Düne vom Strand getrennt. Der Strand mit dem sehr hellen Sand gilt als einer der schönsten in der Toskana und soll aussehen wie die Strände in der Karibik – was ich nicht bestätigen kann, weil ich noch nie in der Karibik war.

Dass die Abwässer einer Sodafabrik, die früher wohl auch Schwermetalle wie Quecksilber und Arsen enthalten haben, den Sand ausgebleicht haben sollen, wusste ich nicht. (https://www.reisereporter.de/reiseziele/europa/italien/toskana/italien-weisser-traumstrand-in-vada-industrieabfall-ist-schuld-Z5CEJ2PA7WJLZ33264IV4FEOT4.html). Angeblich soll der abgelassene Schlamm jetzt unbedenklich sein. Doch im Nachhinein bin ich froh, dass ich nicht im Meer gebadet habe, sondern nur durch das Wasser gewatet bin. Meine Füße werden es wohl verkraften. Die vielen Kiter und Windsurfer, die stundenlang übers Wasser jagten und auch manches Mal hineinfielen, scheinen sich über die Wasserqualität keine Gedanken zu machen – oder sie sind genauso ahnungslos, wie ich es war, bevor ich diesen Blogbeitrag geschrieben habe.

Gefährlich bleich – der weiße Strand bei Vada?

Im Gardasee sollen die „nach strengen Richtlinien der EU untersuchten Wasserproben … auch in diesem Jahr eine hervorragende Qualität“ aufweisen (https://www.gardasee.de/news/wasserqualitaet). Aber obwohl es südlich der Alpen schon frühlingshaft warm war, habe ich mich – zugegebenerweise – auch hier mit dem Blick aufs Wasser begnügt: bei Spaziergängen am Seeufer zwischen Bardolino und Garda, bei meiner ersten Fahrt mit einem Riesenrad oder auch beim Yoga auf dem Steg.

In den nächsten Tagen folgen weitere Beiträge und Fotos von unserer italienischen Reise.