Dann geh doch nach drüben

Ich hätte nie gedacht, dass ich diesen Satz je sagen würde: „Dann geh doch nach drüben.“ Als ich jung war, haben (fast) alle diesen Satz gehört, die politisch links standen oder auch nur linkere Ansichten hatten als ihr Gegenüber. Das war, als Birne Kohl noch Ministerpräsident in meinem Heimatland Rheinland-Pfalz war, wahrlich keine Kunst.

Den Jüngeren, die den leicht abgewandelten Satz nur aus der Werbung kennen, sei es gesagt: Mit „drüben“ war nicht der Discounter auf der gegenüberliegenden Straßenseite gemeint, sondern die Staaten östlich des sogenannten Eisernen Vorhangs. Der Grenze, die Deutschland, Europa und die Welt damals in zwei Blöcke teilte:  in die Staaten des Ostblocks unter Führung des großen Bruders UdSSR und in die Nato-Staaten und ihre Freunde und Verbündeten im Westen.

Die DDR und die UdSSR, wohin uns die Konservativen schicken wollten, gibt es nicht mehr; Russland ist für linke, kritische Geister gewiss kein Traumland. Die Hoffnung, dass demokratischer Wandel durch Handel und Dialog möglich sei, wurde durch den russischen Überfall auf die Ukraine jäh zerstört. Selbst viele PolitikerInnen der Linken, die lange viel Verständnis für Putin und seine Politik hatten, distanzieren sich inzwischen von der russischen Politik und verurteilen den verbrecherischen, völkerrechtswidrigen  Angriffskrieg gegen die Ukraine sowie den  massiven Demokratieabbau in Russland.  

Putins neue Freunde und Unterstützer kommen vorwiegend aus dem extrem rechten Lager. „Ob Marine Le Pen, Matteo Salvini, die AfD oder Viktor Orban: Wladimir Putin hat sich in Europa ein ganzes Netzwerk an rechten Cheerleadern aufgebaut. Sie alle eint, dass sie die EU torpedieren und europäische Zusammenarbeit ablehnen“, sagte Daniel Freund, Europaabgeordneter der Grünen,  im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND), nachzulesen in der heutigen Ausgabe der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung. Sie verbreiten überall in Europa „den Hass und die Falschnachrichten aus dem Kreml in ihren Netzwerken“ (https://epaper.haz.de/webreader-v3/index.html#/939264/6).

Außerhalb der EU zählen unter anderen der syrische Diktator Assad, der brasilianische Präsident Bolsonaro oder Donald Trump zu Putins Kumpanen. Was passiert wäre, wenn die russische Armee in seiner Amtszeit die Ukraine überfallen hätte, mag ich mir gar nicht ausmalen. Trump hätte, anders als die amerikanische Regierung unter Joe Biden, die Ukraine gewiss nicht gegen seinen Freund Wladimir unterstützt. 

Putins rechte Freunde und alle Leerdenker sind der Grund, warum ich jetzt den alten Satz wieder ausgrabe und sage: „Dann geht doch nach drüben.“ Geht zu eurem Freund Wladimir und bleibt dort. Wir vermissen euch nicht.

Alle Tage

Bei der Suche nach einem „fliegenden“ Gedicht (https://timetoflyblog.com/noch-ein-Versuch-fliegende-Gedichte) bin ich Anfang letzter Woche auf ein Gedicht von Ingeborg Bachmann gestoßen, das ich wohl in der achten oder neunten Klasse gelernt  habe: „Alle Tage“ ist ein Antikriegsgedicht; trotzdem – oder gerade deshalb – passt es meiner Meinung nach gut in diese Zeit. Es wurde Anfang der 50er-Jahre erstmals veröffentlicht und beginnt mit den Worten

„Der Krieg wird nicht mehr erklärt,
sondern fortgesetzt. Das Unerhörte
ist alltäglich geworden.“

Als Ingeborg Bachmann das Gedicht schrieb, standen sich die Westmächte unter Führung der Vereinigten Staaten von Amerika und der sogenannte Ostblock unter Führung der Sowjetunion feindlich gegenüber. Viereinhalb Jahrzehnte dauerten die Feindseligkeiten und das Wettrüsten; nach dem Ende des kalten Krieges war ich wie viele meiner Generation überzeugt, dass es nie wieder Krieg mehr in Europa geben würde. Wir wurden durch den russischen Überfall auf die Ukraine eines Schlechteren belehrt.

Meine Überzeugung, dass man Frieden ohne Waffen schaffen kann, erweist sich als Illusion, seit Putin die Ukraine überfallen hat. Er tritt das Völkerrecht mit Füßen, lässt seine Armee Tod, Angst und Schrecken verbreiten. Ich bewundere den Mut der UkrainerInnen, die zu den Waffen greifen, um ihre Heimat und ihre Freiheit gegen die übermächtigen russischen Aggressoren zu verteidigen. Aufgeben ist für sie – auch zu unserem Glück – keine Option.

Aber die Lage in ihrem Land ist katastrophal. Wohn- und Krankenhäuser, Kindergärten und AKWs werden angegriffen. Städte wie Mariupol, Lwiw, Kiew werden belagert, zerbombt und zerstört. Lebensmittel, Medikamente, Energie sind knapp. Immer mehr Menschen sterben oder werden verletzt. „Der Schwache ist“, um Ingeborg Bachmann zu zitieren, „in die Feuerzonen gerückt“. Und die kommenden Tage werden in der Ukraine „wahrscheinlich noch größere Not bringen“, befürchtet Nato-Generalsekretär Stoltenberg (https://www.tagesschau.de/newsticker/liveblog-ukraine-sonntag-105.html). Eigentlich bleibt nur die Hoffnung, dass die UkrainerInnen weiter Stand halten – und dass auch in Russland selbst der Widerstand gegen diesen sinnlosen, gegen das Völkerrecht verstoßenden Krieg wächst: unter der Bevölkerung, aber auch im Militär, bei den einfachen Soldaten und ihren Befehlshabern.

Der Krieg wird nicht nur mit Waffen geführt, sondern auch mit Worten. Dass Putin die Presse- und Meinungsfreiheit in Russland noch mehr einschränkt als bisher, zeigt, wie sehr er die Macht der Worte und die Wahrheit fürchtet. Wer den Krieg gegen die Ukraine Krieg nennt, riskiert in Russland 15 Jahre Haft.

Vielleicht sollte man der plumpen Propaganda der russischen Machthaber die wohl subtilste Form der Sprache entgegenstellen: die Lyrik. Die hat, glaubt man dem Slawisten und Kulturwissenschaftler Rolf Dieter Kluge, in Russland einen hohen Stellenwert.

 „Rußland lebt mit dem Gedicht. Es gibt wohl kaum ein anderes Land, in dem der Dichter populär ist wie ein Filmstar oder Volkstribun, wo sich Tausende versammeln, um Verse zu hören, wo einfache Menschen in gehobener Stimmung nicht nur Lieder singen, sondern Gedichte deklamieren, wo ein durchschnittlich Gebildeter Hunderte und mehr Verse auswendig weiß“, schrieb Kluge vor einigen Jahren in einem Vorwort zu einer Anthologie russischer Lyrik. „In Moskaus Fußgängerzone, auf dem Arbat, bilden sich um gänzlich unbekannte Poeten und Laiendichter, die dort ihre Gedichte rezitieren, engagiert teilnehmende und diskutierende Zuhörergruppen.“ http://www.planetlyrik.de/russische-lyrik-im-20-jahrhundert/2019/01/

Man sollte vielleicht Ingeborg Bachmanns Gedicht ins Russische übersetzen und im Land verteilen: an Menschen, die Literatur lieben, an die Mütter und Väter, deren Söhne in den Krieg geschickt werden, und an die Soldaten selbst, die oft gar nicht wissen, wo und gegen wen sie kämpfen.

Die Auszeichnung, heißt es in der letzten Strophe , verdienen sie

„für die Flucht von den Fahnen,
für die Tapferkeit vor dem Freund,
für den Verrat unwürdiger Geheimnisse
und die Nichtachtung
jeglichen Befehls.“

Sie retten damit nicht nur ihr eigenes Leben.

Das ganze Gedicht ist nachzulesen unter

https://www.lyrikline.org/de/gedichte/alle-tage-265

Sprachlos

Ja, es hat mir die Sprache verschlagen. Und ich habe lange überlegt, ob ich weiterschreiben kann wie bisher. Als wäre nicht das geschehen, was die meisten für unmöglich gehalten haben: Dass es wieder Krieg gibt in Europa, direkt vor unserer Haustür. Und dass die Gefahr eines Welt- oder Atomkriegs größer ist denn je – oder zumindest seit der Kubakrise vor 60 Jahren. Aber 1962  war  Kuba unendlich weit weg und  ich war mit fünf Jahren noch zu klein, um die Gefahr zu realisieren.

20 Jahre später, Anfang der 80er-Jahre, habe ich gegen den Nato-Doppelbeschluss und die Stationierung der Pershing-II-Raketen in Deutschland demonstriert. Als die Sowjetunion unter Michail Gorbatschow dem Westen seit Mitte der 80er Jahre die atomare Abrüstung anbot, der sogenannte Eiserne Vorhang sich öffnete und die Blöcke sich auflösten, schien die Kriegsgefahr in Europa endgültig gebannt. Und obwohl sein Nachfolger Wladimir Putin die Krim annektierte, rechte Milizen in der Ostukraine unterstützte und immer mehr Truppen an der ukrainischen Grenze aufmarschieren ließ, habe ich mit dem Überfall auf die Ukraine nicht gerechnet. Ich habe mich getäuscht. Dass ich nicht die einzige bin, macht es nicht besser.

„Wir sind in einer anderen Welt aufgewacht“, sagte Annalena Baerbock am Morgen nach dem Einmarsch der russischen Truppen in die Ukraine. Seither kommen täglich neue Schreckensmeldungen. Und trotzdem lebe ich, leben wir, fast weiter wie bisher, während die Menschen in der Ukraine um ihr Land und ihre Freiheit kämpfen – und dafür sterben. Wir schauen zu – mit mulmigem Gefühl, weil Putin unberechenbar scheint und vor nichts zurückschreckt. Und viele auch mit schlechtem Gewissen. Weil wir so lange weggeschaut haben. Und weil jetzt auch unsere Freiheit, um einen Satz des früheren Verteidigungsministers Peter Struck abzuwandeln, in der Ukraine verteidigt wird. Wir können wenig tun, außer spenden, unsere Solidarität erklären, die Sanktionen befürworten, die Heizung herunterdrehen und die UkrainerInnen, die geflohen sind, unterstützen.

Farbe bekennen

Ich bewundere die Menschen in der Ukraine für ihren Mut – Prominente wie den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj beispielsweise oder die Klitschko-Brüder, aber auch und vielleicht noch mehr die vielen Namenlosen. Die Geschichte von Anna Strishkowa, die ich heute Morgen in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung gelesen habe, hat mich besonders berührt. Die alte Dame lebt in Kiew, in der Nähe des Präsidentenpalasts. Als kleines Kind kam sie ins Konzentrationslager Auschwitz, befreit wurde sie von der Roten Armee, dem Vorläufer eben dieser Armee, die jetzt ihr Land in Schutt und Asche legt. Lenin würde sich sicher im Grabe umdrehen, wenn er wüsste, dass die russischen Soldaten in diesem Krieg oft nicht einmal wissen, wo sie sind, gegen wen sie kämpfen und wofür sie sterben müssen.

Anna Strishkowa will die Ukraine nicht verlassen, obwohl ein Freund ihr eine Wohnung in Deutschland besorgt und den Umzug organisiert hat. „Wenn ich Hitler überlebt habe, warum sollte ich dann nicht auch Putin widerstehen? Ich bleibe“, sagt sie. So viel Mut verschlägt mir die Sprache.

Wer den Artikel von Thoralf Cleven in der HAZ vom 9. März nachlesen möchte, findet ihn unter

https://epaper.haz.de/webreader-v3/index.html#/935754/6