Los geht’s: Start in die Gartensaison

Vorgestern, Ostersamstag, der erste richtige Frühlingstag. Wir eröffnen die Gartensaison. Wo geht das besser als in den Herrenhäuser Gärten, die angeblich zu den schönsten Parkanlagen Deutschlands gehören. Das kann ich nicht beurteilen, weil ich zu wenige Parkanlagen kenne. Aber die Herrenhäuser Gärten sind wirklich toll. Ich mag vor allem den Berggarten, mit dem Großen Garten kann ich wenig anfangen, zu akkurat, wie mit dem Lineal gezogen, die Pflanzen, von den Menschen zurechtgestutzt und zurechtgebogen. Einmal saßen etwa zehn Gärtner nebeneinander in einem Bett, schnitten winzige Pflanzen – wenn ich mich recht erinnere, war es Buchs – in Form. Dass ich keine Kamera dabei hatte, bedaure ich noch heute.

Im Berggarten dürfen die Pflanzen zwar nicht wachsen, wie sie wollen, aber man hat das Gefühl, dass sie es dürfen. Und der Garten sieht jedes Mal, wenn ich dort bin, anders aus.

Das Tropenhaus ist zurzeit gesperrt, schade, kein Besuch bei den Wasserschildkröten. Wenn ich Zeit habe, sitze ich gerne unter riesigen Pflanzen an den beiden Becken und bilde mir ein, irgendwo in den Tropen zu sein. Warm genug ist es selbst im Winter, und hier, in Hannover, muss ich keine Angst vor Schlangen, Spinnen und anderen Tieren haben. Kurzbesuch im Orchideenhaus: Ich mag Orchideen nicht besonders und würde mir keine auf die Fensterbank stellen. Aber hier, wo sie üppig wuchern, faszinieren sie mich doch. Vor allem gefällt mir der Duft – jedes Mal anders, jedes Mal aufs Neue schön. oder vielleicht besser – betörend?

Orchidee HH Gärten
Wie ein Star-Trek-Symbol, behauptet meine Tochter: Orchidee in den Herrenhäuser Gärten.

Draußen blüht noch nicht wirklich viel, es war bis jetzt vor allem nachts einfach zu kalt. Tulpen, Osterglocken, Narzissen, Schneeglöcken und natürlich Scilia, vor allem auf der Wiese am Mausoleum. Der Moorweiher ist noch ziemlich karg und ruhig, in ein paar Wochen sitzen hier hunderte Frösche dicht an dicht und quaken um die Wette.

Blog Tulpen HH Gärten DSC_6413
Wieso hier und nicht bei mir: Tulpen im Berggarten

Im Staudengrund, einem meiner Lieblingsplätze, fließt zwar schon Wasser, aber auch hier trauen sich noch keine Pflanzen heraus. In ein paar Wochen wird der künstliche  Bach fast unter dem Grün verschwunden sein. Und ich werde wieder Fotos machen, um sie zu Hause, in unserem Garten, diversen Pflanzen zu zeigen, die ihr Eigenleben führen und nicht wollen, wie ich will: Seht ihr, so solltet ihr eigentlich aussehen. Genutzt hat es bislang noch nicht, aber man soll die Hoffnung ja nicht aufgeben.

Zum Schluss zur Grotte im Großen Garten: Die wurde zwar schon 1676 erbaut, doch nachdem die Muscheln, Kristalle. Glas und Mineralien, die sie ursprünglich schmückten, entfernt worden waren, diente die Grotte nur noch als Lagerraum. Erst zur Expo 2000 wurde sie restauriert – und dann nach den Plänen von Niki Saint Phalle neu gestaltet.

Die Nanas am Leineufer mag ich nicht besonders, aber die Grotte – vor allem die blaue – zählt zu meinen Lieblingsplätzen in Hannover. Immer wieder ist das Licht anders, immer wieder schimmert das Blau anders, und immer wieder entdecke ich etwas Neues.

HH Gärten Blaue Grotte DSC_6454.jpg
Blaue Grotte – immer in anderem Licht

Danach keine Lust mehr auf Kino, Colonia Dignidad muss auf einen weniger schönen Tag warten. Im eigenen Garten wird der Unterschied zwischen wild wachsen (bei uns) und aussehen, als ob es wild wächst, deutlich. In meinen Beeten wächst vor allem Gras (nein, nicht nur aber auch), entlang des Zauns vermehrt sich der Giersch unter dem kleingehäckselten Baumschnitt ganz vorzüglich: Die grünen Blättchen zeigen sich tückischerweise erst, wenn sie schon recht kräftig sind und sich vernetzt haben. Bliebe er am Rand des Gartens unter den Büschen, ließe ich ihn gewähren: Aber der Giersch ist ein Eroberer und macht sich wieder im ganzen Garten breit. Ihm macht der Winter offenbar nichts aus, anders als Minze, Salbei, Lavendel, Zitronenmelisse, Rosmarin und alle meine Kräuter, die nach dem Winter nicht mehr sehr ansehnlich. Und auch das Blaukissen tut sich in diesem Jahr schwer – mein Zwerg sitzt, unbeeindruckt lesend, in einer noch recht kahlen Umgebung.

Lesezwerg
Lesezwerg, noch ohne blaues Kissen

Ich habe zum Lesen keine Zeit. Just do it: Ich fange an, fühle mich ein bisschen wie Sysiphos, nur dass ich keinen Stein rolle, sondern gefühlte Stunden Gras und (Un)kraut rupfe und zupfe. Manches erkenne ich inzwischen (vor allem Giersch), aber oft frage ich mich auch, ob ich nicht das, was ich gerade herausreiße, im letzten Jahr gepflanzt habe. Beim Sauerampfer weiß ich es genau. Den habe ich letztes Jahr gesetzt – jetzt wuchert er im ganzen Beet, sodass für die anderen Kräuter zu wenig Platz bleibt. Ich grabe ihn aus, strafversetze ihn unter die Sträucher am Zaun.  Dort kann er  Giersch und Efeu Konkurrenz machen und mit ihnen um die Wette wuchern. Es wird, hoffe ich, ein spannendes Rennen und vielleicht landen sie demnächst gemeinsam bei uns auf dem Tisch.

Im letzten Sommer hat mich eine Freundin zum Wildkräutermenü mit sechs oder sieben Gängen eingeladen: Vieles, was dort serviert und von ihr teuer bezahlt wurde, gedeiht in unserem Garten vorzüglich: neben Giersch und Sauerampfer auch Gänseblümchen, Löwenzahn, Brennnesseln und Waldmeister. Vielleicht sollte ich künftig statt zu bloggen oder Korrektur zu lesen Kräuter-Spezialitäten auf dem Wochenmarkt verkaufen. Oder versuchen, die Gourmet-Restaurants in Niedersachsen zu beliefern. Möglicherweise ergeben sich hier ganz neue Perspektiven.

Manchmal hilft wünschen doch

Wünschen hilft, behaupten manche Coachs und Mental-Trainer. Wenn wir uns etwas nur genug wünschen, geht es in Erfüllung. Wir müssen nur fest daran glauben, behaupten sie. Ich bin da zugegebenerweise eher skeptisch, aber es schadet ja nicht, es gelegentlich mal auszuprobieren.

Als ich irgendwann im Februar eine Fahrkarte buchen wollte, hatten mein Computer und/oder die Website der Bahn offenbar keinen guten Tag: Sie behaupteten, dass es am frühen Sonntagmorgen – anders als an Werktagen – keine direkte Verbindung zwischen Hannover und Leipzig gibt. Stattdessen schlugen sie mir vor, zunächst nach Berlin zu fahren und dort in einen Zug nach Leipzig umzusteigen. Um rechtzeitig zu meinem Termin um 11 Uhr in Leipzig zu sein, willigte ich ein – allerdings mit einem mulmigen Gefühl, denn knapp zehn Minuten Zeit zum Umsteigen sind nicht gerade großzügig bemessen.

Drei Tage vor der Fahrt entdeckte ich dann beim Warten auf einen anderen Zug – ganz klassisch auf dem gelben Aushangfahrplan auf dem Bahnhof – eine weitaus bessere Alternative: zwar mit einem langsameren IC, dafür aber ohne Umsteigen, ohne Umweg und deshalb sogar ein paar Minuten schneller.

Doch leider war es zu spät: Der Umtausch hätte mich nicht nur die übliche Gebühr von 15 Euro gekostet, sondern wäre wesentlich teurer geworden: Weil ich Hin- und Rückfahrt gleichzeitig gebucht hatte, hätte ich auch die Rückfahrkarte zurückgeben und neu kaufen müssen. Also beschloss ich, den Umweg in Kauf zu nehmen. Aber ich hoffte natürlich, dass der Zug nach Berlin sich schon in Hannover verspäten würde – und ich einen Anlass hätte, einen anderen Zug zu nehmen.

Ganz funktionierte es nicht: Der Zug stand pünktlich abfahrbereit auf dem Gleis, als ich ankam. Allerdings war der Halt im Hauptbahnhof in Berlin gestrichen – und damit auch die Möglichkeit, dort den Anschlusszug nach Leipzig  zu erreichen. An der Auskunft – pardon, am Service Point – erfreulicherweise diesmal keine Schlange, die Mitarbeiterin war nicht nur ausnahmsweise freundlich, sondern hatte auch ein Einsehen: Warum der Halt in Berlin  gestrichen worden war, wusste sie auch nicht, aber sie hob ohne Zögern die Zugbindung auf – ich konnte wie gewünscht in den IC nach Leipzig steigen. Der stand schon mit vielen leeren Plätzen am Bahnsteig gegenüber und brachte mich pünktlich zu meinem Termin. Manchmal hilft wünschen offenbar doch, und vielleicht versuche ich es gelegentlich auch mit größeren Zielen.

Einfach losfahren

Ich habe es getan, ich habe einfach ein Niedersachsenticket gebucht und bin losgefahren. Einfach natürlich nicht, denn es fällt mir eher schwer, Dinge einfach nur so für mich tun, ohne dass es einen Grund gibt, oder an einem Werktag freizumachen, an dem ich eigentlich brav am Schreibtisch sitzen, mich in Indesign einarbeiten, Artikel schreiben oder doch zumindest recherchieren sollte. Doch dann fällt mein Blick auf eines meiner Lieblingsgedichte, das neben meinem Schreibtisch hängt: Wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte …

Es stammt offenbar nicht von Jorge Louis Borges, was aber nichts daran ändert, dass es mir sehr gut gefällt:
„… im nächsten Leben würde ich versuchen, mehr Fehler zu machen.
Ich würde nicht so perfekt sein wollen,
ich würde mich mehr entspannen …“

Mehr reisen würde „er“ (oder sie oder es, das lyrische ich) auch. Und weil mir für einen Auftrag noch wichtige Angaben und Unterlagen fehlen und die Korrekturen eines Buchs noch nicht bei mir angekommen sind, fahre ich los.

Obwohl ich seit fast 30 Jahren in der Nähe von Hannover lebe und es einen Zug gibt, der mich ohne Umsteigen von Bahnhof zu Bahnhof bringt, war ich noch nie in Göttingen. Vielleicht hat mich Heinrich Heines Urteil beeinflusst, der in seiner Harzreise schreibt: „Die Stadt selbst ist schön und gefällt einem am besten, wenn man sie mit dem Rücken ansieht“. Mein Mann fand immer, dass Göttingen nicht der Reise wert sei, doch auch er war wohl das letzte Mal als Student in Göttingen – also vor mehr als 40 Jahren. Und auch von meinen Bekannten, deren Kinder in Göttingen studiert haben, hat niemand wirklich von der Stadt geschwärmt. Es gab also immer lohnendere Ziele. Bis jetzt.

Auf dem Bahnhofsvorplatz erinnert ein leerer Denkmalsockel mit dem Schriftzug „Dem Landesvater seine Göttinger Sieben“ an die Professoren, die im November 1837 gegen die Aufhebung der (damals recht liberalen) Verfassung im Königreich Hannover protestierten und prompt von König Ernst August I entlassen wurden. Drei von ihnen, Friedrich Dahlmann, Jacob Grimm und Georg Gottfried Gervinus, wurden sogar verbannt.

Denkmal Göttinger Sieben

Georg Christoph Lichtenberg hat den Protestbrief nicht unterzeichnet – er war zwar auch Professor in Göttingen, aber damals schon lange tot: Er starb 1799. Ich muss gestehen, dass ich nur seinen Namen kannte, bis ich ihn – in Bronze gegossen – vor einem  Unigebäude sitzen sah. Lichtenberg war nicht nur der erste deutsche Professor für Experimentalphysik (nicht gerade mein Spezialgebiet), sondern er gilt auch als Begründer des deutschsprachigen Aphorismus (was ich eigentlich hätte wissen müssen, schließlich habe ich mal Germanistik studiert). Lichtenbergs „Sudelbücher“ mit naturwissenschaftlichen und anderen klugen Erkenntnissen wurden erst nach seinem Tod veröffentlicht.

Den Satz „Wenn ein Buch und ein Kopf zusammenstoßen und es klingt hohl, ist das allemal im Buch?“, kannte ich; ich wusste aber nicht, dass er von  Lichtenberg stammt – ebenso wie die Erkenntnis „Ich kann freilich nicht sagen, ob es besser werden wird wenn es anders wird; aber so viel kann ich sagen, es muß anders werden, wenn es gut werden soll.“ Und: „Die gefährlichsten Unwahrheiten sind Wahrheiten, mäßig entstellt.“ In dem Buch, das aufgeschlagen vor Lichtenberg liegt, ist zu lesen: „Das viele Lesen hat uns eine gelehrte Barbarei zugezogen.“ Ich ziehe mir in Göttingen höchstens eine Erkältung zu, denn es ist, obwohl die Sonne gelegentlich scheint, doch noch ziemlich kalt. Zu kalt auf jeden Fall, um irgendwo in einem der kleinen Cafés und Restaurants zu sitzen, die sich in Höfen und Gassen verstecken.

Lichtenberg  DSC_6225
Lichtenberg – Ein kluger Kopf und ein kluges Buch

Die Stadt – eine positive Überraschung: Viel Fachwerk, angenehm leer, obwohl es Freitag ist und es hier so viele Studenten gibt. Die Georg-August-Universität ist nicht nur die die älteste noch existierende Uni in Niedersachsen, sondern mit 30.600 Studierenden auch die größte. Aber erstens sind Semesterferien und zweitens sind die meisten Institute und Gebäude eben nicht mehr wie noch in Heines Zeiten in der Innenstadt. Viele kleine Läden, auch Buchläden. Ich finde in einem Schreibwarenladen meine geliebten Claire-Fontaine-Kladden in meiner Lieblingsfarbe, die ich künftig vielleicht nicht nur als Tage-, sondern auch als Sudelbuch benutze, entdecke ein wunderschönes Gartenbuch und in einem Antiquariat ein Buch, dessen Titel mich fasziniert (Und außerdem war es mein Leben) von einer Schriftstellerin, die ich bisher noch nicht kannte. Die Stadt gefällt und mittags ist klar: Mein erster Besuch in Göttingen wird nicht der letzte sein.

„Wohin mich mein Schicksal und mein Wagen führt“, schrieb Lichtenberg in einem seiner Sudelbücher. Mein Zug führt mich am späten Nachmittag noch gen Norden, zum Bahnhof nach Uelzen: Der wurde zur Weltausstellung EXPO 2000 zum Umwelt- und Kulturbahnhof nach den Vorgaben von Friedensreich Hundertwasser umgestaltet und zählt jetzt angeblich zu den (zehn) schönsten Bahnhöfen der Welt. Das kann ich nicht beurteilen, weil ich zu wenige Bahnhöfe in aller Welt kenne. Anders als „normale“ Bahnhöfe ist er mit den bunten Säulen, den Mosaiken, Kugeln und Rundungen auf jeden Fall, drinnen und draußen, Und auch hier steht fest: es hat sich gelohnt, einmal nicht nur von Zug zu Zug zu hetzen.

Hundertwasser DSC_6313
Hundertwasserbahnhof in Uelzen

„Man sollte sich nicht schlafen legen, ohne sagen zu können, daß man an diesem Tag etwas gelernt hat,“ sagt Lichtenberg. Ich habe etwas gesehen und gelernt. Und ich bin sicher, dass ich es wieder tun werde – eine Fahrkarte buchen und einfach losfahren.