Märchenhaftes Celle

Ich mag Gärten und ich mag Licht. Das richtige Licht verleiht auch eher langweiligen Gärten einen besonderen Reiz. Illuminiert, mit effektvoll angestrahlten Hecken, Skulpturen, Teiche, Brunnen und Fontänen, gefällt mir sogar der Große Garten in Herrenhausen, der mich bei Tageslicht nicht begeistert (https://chaosgaertnerinnen.de/ein-sonntag-drei-gaerten). Und so war ich natürlich einverstanden, als mein Mann vorschlug, zur Illumination des Französischen Gartens nach Celle zu fahren.

Seit dem 19. Februar erhellen die Winter-Lichter zwischen 18 und 22 Uhr den Park am Rande der Celler Altstadt und verwandeln ihn in einen wahrhaft märchenhaften Ort.

Ich habe dort alte Bekannte wie Hänsel, Gretel und die Hexe, das tapfere Schneiderlein, Max und Moritz, die Bremer Stadtmusikanten, den Froschkönig und den gestiefelten Kater getroffen, aber auch Figuren aus der Fabelwelt wie Einhörner, Drachen, Elfen und Kentauren.

Die ursprünglich geplante Veranstaltung mit unterschiedlichen Illuminationen und künstlerischen Darbietungen um das Celler Schloss musste coronabedingt ausfallen, doch Spaziergänge durch den illuminierten Park sind noch bis zum 26. Februar möglich. Der Eintritt ist frei, ein Besuch lohnt sich.

Vorfrühling in den Herrenhäuser Gärten

Die Sturmtiefs mit Orkanböen, die in den letzten Tagen übers Land gebraust sind,  haben natürlich auch vor den Herrenhäuser Gärten nicht Halt gemacht. Der Berggarten und der Große Garten waren von Donnerstag bis Montag geschlossen, weil der Aufenthalt dort zu gefährlich war. Nur der Georgengarten, ein öffentlicher Park, konnte auf eigene Gefahr betreten werden.  Ich war vor den Stürmen dort, bei gutem Wetter – zum ersten Mal in diesem Jahr.

Ein Besuch im Berggarten zu jeder Jahreszeit, auch wenn die Schauhäuser leider seit Dezember  wegen Corona  gesperrt sind. Draußen wagen sich erst wenige Arten hervor, doch die legen sich mächtig ins Zeug: Schneeglöckchen, Winterlinge und Krokusse blühen überall und bilden teilweise weiße, gelbe und lila Blütenteppiche. Willkommene Abwechslung im sonst eher noch tristen Wintergrau und -braun.

Im Staudengrund fließt noch kein Wasser; der kleine Bachlauf wird erst in den nächsten Wochen geflutet. Ich liebe es, am plätschernden Bach entlang zu schlendern oder mich an einen der kleinen Teiche zu setzen, zu lesen, zu schreiben oder einfach nur die Ruhe zu genießen.  Noch sind die Ufer kahl, doch schon bald werden hier Wildstauden blühen.

Im Staudengrund steht auch mein Lieblingsbaum, die mächtige Süntelbuche Buche (Fagus sylvatica ‚Tortuosa‘). Was aussieht wie ein kleines Gehölz ist ein einziger Baum. Der Hauptstamm wurde 1880 gepflanzt; durch Absenker sind neue Stämme entstanden. Sie bilden im Sommer eine mehr als 750 Quadratmeter große dichte Krone. Der Weg auf der anderen Seite wird dann zu einem grünen Tunnel.

Die Süntelbuche im Berggarten ist eine der größten Süntelbuchen Niedersachsens; eine ganze Süntelbuchenallee gibt es im Kurpark von Bad Nenndorf. Dem Süntel, einem zum Weserbergland gehörenden Höhenzug zwischen der Kurstadt und Hameln, verdankt der zur Familie der Rotbuchen gehörende Baum seinen Namen. Dort wuchs früher der größte Süntelbuchenwald Europas.

Doch anders als ihre Verwandten wachsen Süntelbuchen nicht brav in die Höhe, sondern in die Breite. Ihre Stämme sind nicht gerade, sondern kurz und verdreht, die Äste miteinander verwachsen.  Deshalb galten sie  als verwunschen, vom Teufel oder von Hexen verdorben. Und weil sie sich weder gut zur Möbelfertigung noch als Brennholz eignen, wurde letzte Süntelbuchenwald vor mehr als hundert Jahren gerodet, das Hexen- oder Teufelsholz wurde verbrannt.

Bei Instagram werde ich jeden Monat ein Foto von „meiner“ Süntelbuche posten, wer mag, findet die Fotos unter chaosgaertnerinnen oder unter #12telblick2022.

Ecriture Automatique, E-Mails und Erinnerungen

Ich liebe diese Stunde am Morgen, bevor der Tag erwacht. Es ist meine Stunde, die Stunde, die mir allein gehört. Wenn ich meine Yogaübungen und gleichzeitig die erste Tasse Kaffee gemacht habe, zünde ich eine Kerze an, schreibe meine Morgenseiten und anschließend meine private Texte, zum Beispiel Blogbeiträge. Manchmal geht beides fließend ineinander über. Aber das ist ja der Sinn der Morgenseiten oder ihres Vorläufers, der Écriture automatique. Die Surrealisten um André Breton und Philippe Soupault haben diese Methode des Schreibens in den 1920er-Jahren bekannt gemacht. Beim Automatischen Schreiben werden „Bilder, Gefühle und Ausdrücke (möglichst) unzensiert und ohne Eingreifen des kritischen Ichs wiedergegeben“ (https://de.wikipedia.org/wiki/%C3%89criture_automatique).  Mein kritisches Ich beim Schreiben außen vor zu lassen, gelingt mir leider nicht immer, aber manchmal fließen die Gedanken und bin überrascht, wohin sie mich treiben.

Meine Brotarbeit muss und kann am frühen Morgen meist noch ein bisschen warten. Das ist im Vergleich zu früher ein Luxus, den ich wirklich genieße. Das frühe Aufstehen habe ich mir nämlich angewöhnt, als meine Tochter ganz klein war und ich für die Lokalredaktion der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung gearbeitet habe. Meine Artikel habe ich damals zwar schon auf dem Computer geschrieben, aber noch ausgedruckt; die Zeitungsfotos waren schwarzweiß und noch analog. Die Filme hat mein Mann abends entwickelt, wenn ich von den Terminen nach Hause kam – vielen Dank nochmal dafür.

Damit sie am nächsten Tag in der Zeitung abgedruckt werden konnten, musste ich Artikel und Fotos bis sieben Uhr morgens beim stellvertretenden Leiter der Bezirksredaktion abgeben. Der wohnte im Ort und nahm sie freundlicherweise mit ins Verlagshaus nach Hannover. Wurde ich nicht rechtzeitig fertig, musste ich sie selbst nach Hannover fahren. Heute ist das alles viel einfacher. Fotos sind längst digital, ich verschicke sie ebenso wie meine Artikel per E-Mail oder gebe sie direkt ins Redaktionssystem der Verlage ein, für die ich arbeite. Von jedem Ort, zu jeder Zeit.

E-Mails gab es übrigens Ende der 1980er/Anfang der 1990er Jahre schon: Sie wurden vor mehr als 50 Jahren – lange vor dem Internet – erfunden, und zwar vom amerikanischen Informatiker Ray Tomlinson. Der führte das @-Zeichen ein und verschickte im November 1971 die erste E-Mail, ohne das Potenzial seiner Erfindung zu erkennen. „Sag das niemandem! Das ist nicht das, woran wir arbeiten sollen“, soll er seinem Kollegen geschrieben haben (https://praxistipps.chip.de/seit-wann-gibt-es-e-mails-enstehungsgeschichte-im-ueberblick_100733).

Und so dauerte es noch einige Zeit, bis sich diese Form der Kommunikation durchsetzte. In Deutschland kam die erste E-Mail am 3. August 1984 an. Empfänger war Michael Rotert von der Universität Karlsruhe. Abgeschickt hatte sie Laura Breeden von der amerikanischen Universität Cambridge schon am 2. August. Doch weil sich Rotert nur alle zwei bis drei Stunden bei der Post einwählte und die Mails quasi „von Hand abholte“, dauerte die Zustellung so lange (https://www.faz.net/aktuell/technik-motor/digital/vor-25-jahren-als-die-e-mail-nach-deutschland-kam-1826773.html).

Heute nutzen laut Statista rund 85 Prozent der Deutschen das Internet, um E-Mails zu versenden und zu empfangen, in Dänemark sind es sogar 94 Prozent der Bevölkerung (https://de.statista.com/themen/2249/e-mail-nutzung/#topicHeader__wrapper). 2018 wurden in Deutschland 848 Milliarden E-Mails versendet – außerdem geschätzt 150 Millionen Spam-Mails täglich. Und noch ein paar Zahlen: Weltweit werden in diesem Jahr wahrscheinlich 333,2 Milliarden E-Mails täglich verschickt und empfangen; 2025 sollen es dann bereits 376,4 E-Mails an jedem Tag sein. Laut einer Bitkom-Studie erhalten Erwerbstätige in Deutschland durchschnittlich 26 berufliche E-Mails pro Tag – mir hätte es vor 30 Jahren schon gereicht, ein oder zwei verschicken zu können. So ändern sich die Zeiten (https://www.bitkom.org/Presse/Presseinformation/E-Mail-wird-50-Jahre-alt).

Der Redakteur, der jahrelang meine Artikel mit nach Hannover genommen hat, ist vor zwei Monaten gestorben, vor einem Monat wurde er beerdigt. Ich habe seine Beisetzung leider verpasst und widme ihm diesen Blogbeitrag – zur Erinnerung.

Winterlinge

Wir haben vor einer Woche die Gartensaison eröffnet – obwohl noch kein wirklich gutes Gartenwetter ist: meist ist es kalt und regnerisch. Trotzdem habe wir  losgelegt: Wir haben kiloweise altes Laub und abgestorbene Staudenblätter von den Beeten entfernt und dabei Schneeglöckchen, Krokusse, Traubenhyazinthen und Hyazinthen freigelegt, die sich unter der schützenden Schicht schon hervorgewagt haben.

Nach Winterlingen suche ich dagegen auch in diesem Jahr vergeblich. Ich mag die kleinen gelben Blüten, die sich aber offenbar doch nicht so leicht vermehren lassen, wie es auf diversen Gartenseiten im Internet zu lesen ist.

Dass die Knollen, die ich im letzten Jahr gepflanzt habe,  nicht überlebt haben, bedaure ich sehr: Ich habe die sie im vergangenen Jahr von einer Freundin geschenkt bekommen, die ein paar Monate später gestorben ist. Aber vielleicht fahre ich in den nächsten Tagen bei ihrem Mann vorbei – das wollte ich ohnehin – und frage ihn, ob ich mir demnächst ein paar Pflänzchen ausgraben darf, quasi als blühendes Andenken.

Ein paar Winterlinge habe ich schon im Gartencenter gekauft – und sie  just zu der Zeit gepflanzt, als in meinem Heimatort eine frühere Nachbarin beerdigt wurde. Ihre Eltern hatten eine Gärtnerei; auch sie hatte einen grünen Daumen: In ihrem Wintergarten wuchsen wie in einem richtigen Gewächshaus auch Gemüse, Salat und Kräuter. Die Gurken hingen vom Dach hinunter – und sie haben ebenso wie die Tomaten viel besser geschmeckt als ihre Verwandten aus niederländischen Gewächshäusern.

Zur Beerdigung konnte ich leider nicht  an die Mosel fahren – und so habe ich mich mit der kleinen Pflanzaktion von meiner früheren Nachbarin verabschiedet. In den nächsten Jahren wird mich hoffentlich ein gelber Blütenteppich  an sie und meine verstorbene Freundin erinnern. Die beiden sind sich nie begegnet,  für mich sind sie aber trotzdem untrennbar miteinander verbunden – nicht nur, weil beide jahrelang gegen den Krebs gekämpft und dann doch verloren haben.

Als ich meine Freundin im vergangenen Mai in dem Krankenhaus besuchte, in dem sie ein paar Tage später sterben sollte, rief mich eine Freundin aus meinem Heimatort an und sagte mir, dass die Tochter jener Nachbarin gestorben sei: an der Krankheit, gegen die ihre Mutter seit Jahren kämpfte. Die Tochter war nicht einmal 50, als sie starb; ich kannte sie, seit sie ein Kind war. Das Schicksal ist manchmal wirklich ein mieser Verräter.

Ulysses häppchenweise

Ja, Ulysses von James Joyce steht schon lange auf meiner Irgendwann-zu-lesen-Liste. Schließlich zählt der Roman laut Le Monde zu den 100 wichtigsten Werken des 20. Jahrhunderts https://de.wikipedia.org/wiki/Die_100_Bücher_des_Jahrhunderts_von_Le_Monde; in der ZEIT-Bibliothek der 100 Bücher fehlt der Roman ebenso wenig wie bei Dudens „Bücher, die man kennen muss. Klassiker der Weltliteratur“.

Die ersten ab 1918 in der amerikanischen Zeitschrift Little Review veröffentlichten Auszüge hatten eher für negative Schlagzeilen gesorgt: Laut Wikipedia wurden die Ausgaben mehrfach vom United States Post Office wegen Obszönität beschlagnahmt; in England und den USA war Ulysses seit 1921 verboten (https://de.wikipedia.org/wiki/Ulysses). Dort fand Joyce keinen Verlag für sein Buch – auch Virginia und Leonard Woolf hatten 1918 das noch unvollendete Manuskript abgelehnt. Sylvia Beach, Besitzerin der Buchhandlung Shakespeare and Company (Rue de l’Odéon 12) in Paris, veröffentlichte die Erstausgabe schließlich am 2. Februar 1922, Joyces 40. Geburtstag. In der Auflage von 1.000 nummerierten Exemplaren fehlten allerdings die als obszön geltenden Passagen (https://de.wikipedia.org/wiki/Sylvia_Beach).

Ich bin, ich gestehe es, nie über die ersten 50 Seiten hinausgekommen, obwohl das Buch schon lange in meinen Bücherregal steht. 1.000 Seiten verlangen eben doch viel Durchhaltevermögen. Doch die Idee, sie häppchenweise, quasi als Fortsetzungsroman, zu lesen, gefällt mir. Und so wage ich jetzt einen neuen – den wohl letzten – Versuch, Leopold Bloom, Anzeigenakquisiteur bei einer Dubliner Tageszeitung, auf seinen 24 Stunden dauernden (Irr-)Gängen durch Dublin zu begleiten.

Zum 100. Jubiläum der Erstausgabe und zum 140. Geburtstag von James Joyce verschickt der Suhrkamp Verlag* nämlich mit dem James-Joyce-Newsletter 30 Tage lang jeden Morgen kurze Abschnitte aus dem ersten Teil des Romanklassikers. Nur sieben bis zehn Minuten soll die Lektüre täglich dauern – so viel Zeit kann sein. Nach einem Monat hat man dann den ersten Teil komplett gelesen.

Dreimal Joyce – Stanislaw und der berühmte James – und zweimal Stephen Dedalus

Ich habe den Newsletter abonniert, morgen geht es bei mir los. Ich lese die Abschnitte aber wohl nicht online, sondern in meiner eigenen Ausgabe. Die ist aus dem Jahr 1981 und wurde wie die aktuelle Jubiläumsausgabe übersetzt von Hans Wollschläger. Ob ich Ulysses zu Ende lesen werde, entscheide ich nach dem ersten Teil. Vielleicht begnüge ich mich aber auch mit James Joyce erstem Roman, dem „Porträt des Künstlers als junger Mann“. Oder ich lese das Dubliner Tagebuch von James Joyces jüngerem Bruder Stanislaus. Beide Bücher habe ich auf der Suche nach Ulysses ebenfalls ein meinem Bücherregal gefunden.

Wer Ulysses mitlesen will, kann den James-Joyce-Newsletter kostenlos unter https://www.suhrkamp.de/james-joyce-und-sein-ulysses-s-1387 abonnieren. Der Newsletter enthält laut Suhrkamp wissenswerte Hintergrundinformationen, Links und Buchtipps rund um James Joyce und sein Werk; außerdem werden unter allen Newsletter-AbonnentInnen zehn Exemplare unserer Ulysses-Jubiläumsausgabe verlost.

*Der Beitrag enthält unbezahlte Werbung

Von inneren KritikerInnen, einem kleinen Käfer und einem kritischen Hund

Ich habe meinem inneren Kritiker, pardon, meiner inneren Kritikerin, einen Namen gegeben, wie Julia Cameron es in ihrem Buch „Es ist nie zu spät, neu anzufangen“ empfiehlt. Welchen, verrate ich nicht, denn ich will niemanden beleidigen.

Dass ich nur (noch) wenige mit diesem Namen kenne, liegt vielleicht daran, dass der Name inzwischen ein bisschen aus der Mode ist. Vielleicht meide ich Menschen, die so heißen, aber auch, weil ich mit ihren Namensvetterinnen bislang keine guten Erfahrungen gemacht habe – oder genauer gesagt: überwiegend negative. Wirklich liebenswürdig und sympathisch fand ich in all den Jahren nur eine Frau, und sie ist leider schon vor einigen Jahren gestorben.

Meine innere Kritikerin ist dagegen sehr lebendig – und sehr präsent. Sie sitzt mir immer im Nacken oder – schlimmer noch – sie sitzt in meinem Kopf. Sie kennt meine Schwächen sehr genau, oder glaubt sie zu kennen. Meine Stärken ignoriert sie geflissentlich, und recht machen kann ich es ihr ohnehin nie, so sehr ich mich auch bemühe: Sie weiß und kann immer alles besser – und allzu gerne macht sie das, was ich plane, möchte und tue, lächerlich.

Jetzt ist es an der Zeit, meine innere Kritikerin zu überlisten, sie mit ihren eigenen Waffen zu schlagen – und der Name, den ich ihr gegeben habe, hilft mir dabei: Wenn ich mit ihr spreche, ziehe ich den ersten Vokal ihres Namens in die Länge und denke dann an den Käfer aus Daniela Wakoniggs Buch „Was heißt Iiih“. Der kleine Kerl heißt so, weil jemand „iiih“ zu ihm sagte, als er gerade geschlüpft war. Dann muss ich lachen oder zumindest lächeln – und schon verliert meine innere Kritikerin etwas von ihrem Schrecken und von ihrer Macht.

Vielleicht sollte ich auch Julia Camerons Rat folgen und meine innerer Kritikerin zeichnen: als winzigen Käfer beispielsweise, der eigentlich mehr Angst vor mir haben müsste als ich vor ihm, oder als Frosch, der sich wie in Äsops Fabel aufbläht, bis er platzt. Als besserwisserischen, eitlen Raben oder als meckernde, unnachgiebige Ziege. Doch erstens fehlt mir das Zeichentalent, und zweitens erscheint dann immer sofort Regina Kehns kritischer Hund vor meinen Augen. Ich folge seinen Abenteuern auf Instagram (reginakehn), und weil ich nicht sein einziger Fan bin, hat er jetzt sogar eine eigene Rubrik auf der Website der Illustratorin (https://www.reginakehn.de/arbeiten/der-kritische-hund/). Es lohnt sich wirklich, ihn zu besuchen.

Anders als Regina Kehns kritischer Hund ist meine innere Kritikerin überhaupt nicht liebenswert – sie ist, genau gesagt, ein richtiges Ekel, das mir das Leben und Arbeiten schwer macht, seit ich denken kann. Doch ich bin nicht nachtragend, und weil sie nach so vielen Jahren eine Pause nötig und verdient hat, spendiere ich ihr, bevor ich Rentnerin werde, einen Aufenthalt auf der Insel Criticos.

Von der Insel weit draußen im Meer habe ich bei einem Aufenthalt im writersstudio in Wien erfahren. Zutritt haben wie in elitären englischen Clubs nur Mitglieder, also nur innere Kritikerinnen und ihre Kollegen, die inneren Zensoren. Bilder von dort gibt es nicht, aber ich stelle mir vor, wie die Damen und Herren den ganzen Tag zusammensitzen und sich gegenseitig dabei überbieten, an allem herummäkeln: am zu dünnen oder zu starken Kaffee, am Essen, an angeblich nicht funktionierenden Heizungen, an zu viel oder zu wenig Sonne, am Wind, der mal zu lau oder zu heftig weht – und natürlich an denen, die sie auf die Insel geschickt haben.

Vielleicht fühlt sich meine innere Kritikerin ja unter Ihresgleichen wohl. Vielleicht gefällt es ihr auf Criticos so gut, dass bleiben und sich dort zur Ruhe setzen möchte. Schließlich ist sie ja nur ein paar Jahre jünger als ich. Zur Sicherheit habe ich nur ein One-way-Ticket und einen unbefristeten Aufenthalt gebucht. Ich brauche sie hier wirklich nicht mehr. Die paar Monate bis zur Rente überstehe ich auch ohne ihre Hilfe. Und wenn ich Sehnsucht nach mehr oder wenige konstruktiven Vorschlägen habe, besuche ich Regina Kehns kritischen Hund. Oder ich zeichne mir eine eigene Kritikerin. Eine weise Eule vielleicht.