2021 einhalb

„Ist es schon wieder so weit“, fragt der König in Hermann van Veens Musical Ente Kwak, als seine Berater ihn auffordern, die Weihnachtsansprache zu halten. Nein, keine Angst, für die Weihnachtsansprache ist es noch zu früh, aber ein halbes Jahr ist schon wieder um – und ich mag den Satz. Außerdem mag ich das Lied von Reinhard Mey, von dem ich den Titel des Blogbeitrags und die Idee geklaut habe.

Das Lied heißt 71 einhalb – es besingt also den Halbjahreswechsel vor 50 Jahren. Damals ging ich noch zur Realschule, musste mit meiner jüngeren Schwester ein Zimmer teilen – das Trauma meiner Kindheit, oder eines. Die 68er-Jahre waren vorbei, wenn auch noch nicht wirklich bei uns auf dem Dorf angekommen. Der Fernseher meiner Eltern war noch schwarz-weiß, und wenn wir telefonieren wollten, mussten wir noch zur Telefonzelle gehen. In der Schweiz war im Februar 1971 das Wahlrecht für Frauen eingeführt worden; bis die Frauen wählen durftn, dauerte es noch einen weiteren Monat. Und im Stern bekannten im Juni 374 Frauen, dass sie abgetrieben hatten – damals noch eine Straftat.

Aber um zum Thema zurückzukommen: „Was ist aus all dem geworden, was ich mir am Neujahrsmorgen, ganz fest vorgenommen hab?“ Ich gebe es zu: Wie in den vergangenen Jahren habe ich auch in diesem vieles nicht eingehalten. Die zweite Yogaeinheit am Abend beispielsweise oder das tägliche Meditieren sind ebenso hehre Ziele geblieben wie die tägliche Skizze. Mein Vorhaben, den Harz einmal längs und einmal quer zu durchwandern, ist bislang über die erste Etappe noch nicht hinausgekommen, und auch ein Schreibprojekt werde ich wohl in diesem Jahr leider nicht beenden. Aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben.

Immerhin habe ich einen Essaykurs besucht – online, wie in diesen Zeiten üblich, aber sehr gut – und Gefallen an dem Genre gefunden, vielleicht auch, weil der Übergang zum Bloggen fließend ist. Bei den Blogbeiträgen hinke ich zwar meinen Plänen hinterher, aber nicht hoffnungslos: Statt anderthalb pro Woche habe ich im Schnitt nur 1,423 geschafft, rein rechnerisch natürlich (Für alle, die jetzt nachrechnen und denken, ich habe die Zahlen schöngerechnet, weil sie auf Timetofly weniger Beiträge finden: einfach mal unter www.chaosgaertnerinnen.de nachsehen, da blogge ich auch. Anklicken und abonnieren, Ende des Werbeblocks).

Gelesen habe ich erfreulicherweise so viel wie geplant, bisher knapp 30 Bücher seit Januar. Eines der letzten hat mich besonders beeindruckt: „Das Leben ist ein vorübergehender Zustand“ von Gabriele von Arnim. Die Autorin schreibt darin über ihr Leben mit ihrem Mann, der nach zwei Schlaganfällen gelähmt war und sich kaum noch verständlich machen konnte, aber geistig weiter sehr fit war.

Vielleicht hat mich das Buch auch deshalb so berührt, weil mir in den letzten Wochen und Monaten bewusst (gemacht) wurde, wie endlich das Leben ist. Eine Freundin ist gestorben, einen Tag vor ihrer Beerdigung ein Freund. Sie war etwas jünger, er etwas älter als ich. Und während meine Freundin im Sterben lag, habe ich erfahren, dass die Tochter von Bekannten schon tot ist: Ich wusste nicht einmal, dass sie krank war, vielleicht hat mich die Nachricht auch deshalb so getroffen. Ich kannte sie, seit sie vier oder fünf war. Sie wurde nicht einmal fünfzig, sie war 1971 noch gar nicht geboren. Jetzt ist sie an der Krankheit gestorben, gegen die ihre Mutter seit Jahren kämpft. Das Schicksal ist manchmal wirklich ein mieser Verräter.

Ich habe natürlich kondoliert, welch blödes Wort, aber mir fällt, so sehr ich nachdenke, kein besseres ein. Die Danksagungskarte, die ihre Eltern mir geschickt haben, steht auf meinem Schreibtisch. Sie erinnert mich daran, dass das Leben wirklich ein vorübergehender Zustand ist, dass die Zeit rast – und dass ich vielleicht nicht immer versuchen sollte, hinterherzuhecheln.

Oder wie auf der Tasse steht, die mir meine Kollegin Foe Rodens geschenkt hat, weil sie mir so gut gefallen hat. Carpe diem – pflücke den Tag. Das habe ich mir für die zweite Hälfte des Jahres vorgenommen, den Tag öfter mal zu pflücken, sprich zu genießen.

Meine neue Lieblingstasse, davor getrocknete Blätter meiner Lieblingsrose Rhapsody in Blue, die ich gestern gepflückt habe

Und weil ich es nicht lassen kann, die Klugscheißer-Einheit zum Schluss, zugegebenerweise nicht selbst gewusst, sondern aus dem Schwarmwissen-Lexikon übernommen und hoffentlich ordnungsgemäß zitiert. Carpe diem, laut Wikipedia.de Lateinisch für „‚Genieße den Tag‘ oder wörtlich: ‚Pflücke den Tag‘) ist eine Sentenz aus der um 23 v. Chr. entstandenen Ode ‚An Leukonoë‘ des römischen Dichters Horaz (* 65 v. Chr.; † 8 v. Chr.). Sie fordert in der Schlusszeile als Fazit des Gedichts dazu auf, die knappe Lebenszeit heute zu genießen und das nicht auf den nächsten Tag zu verschieben.“  https://de.wikipedia.org/wiki/Carpe_diem.

Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen.

Tag des Tagebuchs – in Memoriam Anne Frank

Anne hätte es gefallen, dass ausgerechnet ihr Geburtstag der Tag des Tagebuchs ist. Mit gutem Grund: Schließlich ist das Tagebuch, das ihre Eltern ihr zum 13. Geburtstag am 12. Juni 1942 schenkten, das wohl meistgelesene Tagebuch der Welt – und eines der am meisten gelesenen Bücher überhaupt

Mit diesem Erfolg hat Anne Frank sicher nicht gerechnet – „ich denke auch, daß sich später keiner, weder ich noch ein anderer, für die Herzensergüsse eines dreizehnjährigen Schulmädchens interessieren wird. Aber darauf kommt es nicht an, ich habe Lust zu schreiben und will mir alles mögliche gründlich von der Seele reden“, notierte sie am 20. Juni 1942.

Ich habe mir Anne Franks Tagebuch zum ersten Mal Anfang der 70er Jahre gekauft. Das Buch steht noch heute in meinem Bücherregal – neben mehrere neueren, sicher textkritischeren Ausgaben und einem Graphic Diary. Doch die älteste Ausgabe ist mir immer noch die liebste, auch wenn die Blätter vergilbt sind, einige schon brüchig und sich lösen.

Das Buch hat mich begleitet, wo immer ich gelebt habe – und es hat mein Leben, mein Lesen und mein Schreiben so beeinflusst wie kaum ein anderes. Wenn ich, wie die Buchmenschen in Ray Bradburys Roman Fahrenheit 451, ein Buch auswendig lernen müsste, um es in meinem Kopf vor der Vernichtung zu retten, wäre das Tagebuch der Anne Frank sicher in der engeren Wahl – wahrscheinlich sogar die erste.

Kurz nachdem ich Anne Franks Tagebuch gelesen hatte, fing ich an, selbst Tagebuch zu schreiben – und ich habe nie wieder damit aufgehört. Tagebuch zu schreiben ist meine Art, das Leben zu durchdenken und zu bewältigen – das Tagebuch ist für mich , wie Kathleen Adams schreibt, ein „friend at the end of the pen“.

Auch heute schreibe ich noch, wie vor fast 50 Jahren, ganz klassisch mit der Hand in Kladden – mal dick, mal dünn, meist mit flexiblem Einband, aber immer unliniert. Außerdem gibt es inzwischen ein digitales Tagebuch.

Mein analoges Tagebuch begleitet mich fast überall, jederzeit. Ich habe es fast immer dabei – egal wohin ich gehe. Ich beginne den Tag meist mit dem, was ich der Tageszeit wegen Morgenseiten nenne, obwohl es keine Morgenseiten im Sinne von Julia Cameron sind, die diese Kreativitätsmethode populär gemacht hat sind. Denn ich schreibe zwar unzensiert, was mir gerade in den Sinn kommt, aber ich schreibe meine Morgenseiten meist am Computer, nicht mit der Hand. Das ist für echte Morgenseiten ein No-Go, für mich aber die beste, weil pragmatischste Lösung.  Denn beim Schreiben am Morgen habe ich oft gute Ideen für Artikel und andere Projekte, die ich so – Copy-and-paste – problemlos in andere Dateien übertragen kann. Mit den Morgenseiten schreibe ich mich in den Tag und in die Arbeit, abends beende ich den Tag mit einigen Zeilen in meinem Fünf-Jahres-Buch. Neben meinen Tagebüchern führe ich diverse Journale und Notizbücher – zu verschiedenen Themen und Projekten. Aber die Grenzen zwischen Tagebuch und Journalen sind bei mir fließend.

Weit über 100 Tagebücher stehen inzwischen in meinen Bücherregalen, und manchmal überlege ich, was ich damit machen werde. Soll ich sie vernichten, damit niemand erfährt, was ich gefühlt, gedacht und aufgeschrieben habe – und wenn, wann ist der richtige Zeitpunkt? Soll ich die Tagebücher und die Entscheidung darüber, was mit ihnen geschieht, meiner Tochter überlassen oder dem deutschen Tagebucharchiv in Emmendingen. Dort werden seit 1998 Tagebücher gesammelt und archiviert; insgesamt 23.641 waren es Ende letzten Jahres – 58 Prozent von Männern und nur 42 Prozent von Frauen. Mit den archivierten Tagebüchern ist es wie mit den publizierten: die Tagebücher von Frauen sind in der Minderheit, obwohl sie häufiger Tagebuch schreiben als Männer.

Ein Besuch im Tagebucharchiv in Emmendingen steht in diesem Jahr auf meiner To-visit-Liste – ebenso ein Besuch im Anne-Frank-Zentrum in Amsterdam oder Berlin. Ich will endlich einmal das Original-Tagebuch sehen.

Anne Frank hat den Erfolg ihres Tagebuchs nicht mehr erlebt: Als ihr Vater das Buch kurz nach ihrem 18. Geburtstag im Juni 1947 zum ersten Mal veröffentlichte, war sie schon mehr als zwei Jahre tot. Sie starb im Februar 1945 im Konzentrationslager Bergen-Belsen, ein halbes Jahr, nachdem das Versteck im Hinterhaus verraten, Anne und die Untergetauchten verhaftet und deportiert worden waren. Nur Annes Vater überlebte. Miep Gies brachte das Tagebuch in Sicherheit, versteckte es bis zum Kriegsende vor den Nazis.

Anne wäre mit der Veröffentlichung gewiss einverstanden gewesen – sie träumte davon, eine berühmte Schriftstellerin zu werden. „Nach dem Krieg will ich auf jeden Fall ein Buch mit dem  Titel ‚Das Hinterhaus‘ veröffentlichen, ob das gelingt, bleibt noch die Frage, aber mein Tagebuch wird dafür dienen können“, schrieb sie am 11. Mai 1944 in ihr Tagebuch. Sie wollte nicht leben wie ihre Mutter und viele andere Frauen, die „ihre Arbeit machen und später vergessen sind“. Vergessen wird sie  dank ihres Tagebuchs hoffentlich nie.

Blickwinkel im Mai

Das Warten bis zum Ende des Monats hat sich diesmal gelohnt. Nicht nur, weil das Wetter heute – ein Tag vor dem meteorologischen Sommeranfang – besser war als an den meisten anderen Maitagen. Sondern auch, weil der Zugang zum Springhorstsee endlich wieder frei war.

Morgen öffnet nämlich „Frida am See“ – nach langer Umbau- und Coronapause. Am Strand wurde heute eine Bühne für die Eröffnung aufgebaut; wenn der erste Ansturm vorbei ist, werde ich das neue Café mit dem verheißungsvollen Namen sicher auch einmal testen. Es hat nicht zuletzt wegen des Seeblicks Potenzial, mein Lieblingscafé zu werden. Und wenn es dort zu voll ist, kann ich vielleicht auf den Steg ausweichen, der noch durch Flatterbänder abgesperrt ist, oder auf die Bank, die etwas abseits am Seeufer steht.

Die Weide am Pöttcherteich ist – wie erhofft und erwartet – wieder grün geworden; wie gegelte Haare stehen die Zweige in die Luft. Der Zaun, der den kleinen Teich von der Straße und dem angrenzenden Grünstreifen abtrennt, verschwindet inzwischen fast hinterm hohen Gras. Es wird endlich Sommer.

Harzquerung – Teil 1

Harz längs + quer“ steht auf meiner sportlichen To-do-Liste für dieses Jahr. Inzwischen ist es schon Mai und das Wetter besser – höchste Zeit also, das Vorhaben im wahrsten Sinne des Wortes „anzugehen“.

Vor einigen Jahren habe ich den Harz schon einmal von Nord nach Süd überquert: Der Lauf von Wernigerode über Benneckenstein nach Nordhausen gehört zu meinen allerschönsten Lauferlebnissen. Gelaufen sind wir meist über schmale Forst- und Wanderwege, breite Wege wurden weitgehend vermieden oder nur gekreuzt. Aber genau deshalb habe ich mich bei meiner Harzquerung Nummer 2 für eine andere Strecke entschieden – alleine, ohne helfende Streckenposten, nur auf meine Karte und die Wanderapp angewiesen hätte ich den Weg sicher nicht gefunden. Außerdem habe ich, fast 15 Jahre älter, ein paar Kilo schwerer, untrainiert und mit lädiertem Knie, diesmal weit viel mehr Zeit für die Harzquerung eingeplant.

Im Frühjahr 2007 brauchte ich für die 51 Kilometer lange Strecke gerade mal 5 Stunden 23 Minuten und 38 Sekunden, diesmal plane ich für ein paar Kilometer mehr zwei oder drei Etappen ein. Touristische Übernachtungen sind jedoch derzeit noch schwierig oder gar nicht erlaubt. Argument Nummer zwei für den Kaiserweg, der von Goslar bzw. Bad Harzburg über Torfhaus nach Walkenried und Nordhausen am Südrand des Harz führt: In Bad Harzburg kann ich bei meiner Kollegin übernachten und früh starten, vom geplanten ersten Etappenziel Oderbrück komme ich mit dem Bus wieder nach Bad Harzburg zurück.

Der Kaiserweg, laut Wikipedia einer der ältesten und bekanntesten Weitwanderwege des Harzes, ist ein „frühzeitlicher Handelsweg über den Harz, benannt nach der Flucht Kaiser Heinrich IV von seiner Harzburg in den Schutz der südharzer Klöster und nach Tilleda im Jahre 1074“. https://de.wikipedia.org/wiki/Kaiserweg_(Harz).

Um mein Knie zu schonen bin ich, anders als weiland Kaiser Heinrich, nicht auf der Harzburg gestartet, sondern vom Wanderparkplatz direkt in Richtung Molkenhaus gegangen. Eine gute Entscheidung, denn der Philosophenweg hat mir weitaus besser gefallen als der Kaiserweg.

Ein Wanderweg, wie er mir gefällt

Gefrühstückt habe ich ganz idyllisch beim Molkenhaus auf einer Schaukel mit Blick auf den Hasselteich. Was will frau mehr.

Danach ging‘s auf den Kaiserweg. Schon der Name hätte mich misstrauisch machen müssen: Wenn Kaisers anno dazumal verreisten, taten sie es mit großem Tross, also mit ihrem ganzen Gefolge. Auch Händler waren oft in Gruppen unterwegs und transportierten ihre Waren meist nicht auf dem Rücken, sondern in Wagen. Und so ist der Kaiserweg eher eine Wanderstraße als ein Wanderweg – ein halbes Dutzend Wanderer hätten bequem nebeneinander Platz. Wanderer sind mir allerdings auf dem Weg nur wenige begegnet. Kein Wunder: Zumindest das Stück, das ich gewandert bin, gehört sicher nicht zu den Wanderhighlights im Harz. Oft geht es gefühlt kilometerweit schnurgerade geradeaus, die wenigen Abzweigungen waren gut beschildert – selbst ich konnte mich nicht verlaufen.

Schöne Ausblicke waren leider eher die Ausnahme: abgestorbene Fichten oder abgeholzte Flächen so weit das Auge reichte. Doch vielleicht ist der Weg besser als mein Eindruck . Denn Teile des Kaiserwegs waren gesperrt; Wanderer werden derzeit streckenweise umgeleitet.

Erst ein paar Kilometer vor meinem Etappenziel Oderbrück wurde aus der Wanderstraße wieder ein Wanderweg. Doch was mir gefiel, missfiel meinem Knie gewaltig. Es muckte und schmerzte so sehr, dass ich beschloss, die Wanderung bei vorzeitig zu beenden. Wie schrieb schon Fritz Reuter: „Wat den Eenen sin Uhl‚, ist den Annern sin Nachtigall.“

Auf dem Weg nach Torfhaus habe ich noch einen kurzen Abstecher auf den Wald Wandel Weg gemacht – der ist kurz und lehrreich und nährt die Hoffnung, dass der Wald sich bald wieder erholt.

Die Abkürzung hat sich also gelohnt, auch wenn mein Knie sie mir nicht wirklich gedankt hat: Es schmerzt gemeinerweise seit Tagen. Es wird also noch etwas dauern, bis ich dem Kaiserweg eine zweite Chance geben und die Harzquerung fortsetzen kann.

Vorläufig setze ich mir neue Ziele und steige um aufs Rad. Statt durch den Harz zu wandern, fahre ich vielleicht demnächst an der Weser, an der Elbe oder am Mittellandkanal entlang.

„Bücher sind gefährlich“

Heinrich Heine hat es vorausgeahnt. „Das war ein Vorspiel nur, dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen“, schrieb er in der 1823 veröffentlichten Tragödie „Almansor“. Seine Prophezeiung wurde in Deutschland 110 Jahre später grausame Wirklichkeit. Am 10. Mai 1933, wurden in 22 Universitätsstädten in Deutschland im Zuge einer „Aktion wider den undeutschen Geist“ zehntausende Bücher von unerwünschten Schriftstellern konfisziert und verbrannt – nur wenige Jahre später ermordeten die Nationalsozialisten Millionen Menschen.

Viele der verfemten Schriftsteller waren 1933 schon im Exil – zum Beispiel Heinrich und Thomas Mann, Bert Brecht, Alfred Döblin und Erich Maria Remarque. Andere wie Clara Zetkin, Karl Marx oder eben Heinrich Heine waren bereits tot. Erich Kästner erlebte auf dem Opernplatz in Berlin mit, wie sein Roman Fabian ins Feuer geworfen wurde – von einem „gewissen Herrn Goebbels“, wie Kästner in seinem Buch „Bei Durchsicht meiner Bücher“ schrieb: „Vierundzwanzig deutsche Schriftsteller, die symbolisch für immer ausgetilgt werden sollten, rief er triumphierend beim Namen. Ich war der einzige der Vierundzwanzig, der persönlich erschienen war, um dieser theatralischen Frechheit beizuwohnen. Ich stand vor der Universität, eingekeilt zwischen Studenten in SA-Uniform, den Blüten der Nation, sah unsere Bücher in die zuckenden Flammen fliegen und hörte die schmalzigen Tiraden des kleinen abgefeimten Lügners. Begräbniswetter hing über der Stadt.“

Seit 1995 erinnern eine versunkene Bibliothek und eine Bronzeplakette mit dem Heine-Zitat an die Bücherverbrennung. Die Bibliothek liegt versteckt unter der Erde: von außen – vom Bebelplatz sind die weißen, leeren Regale nur durch eine Glasscheibe zu sehen. Sie bieten symbolisch den rund 20.000 Büchern Platz, die hier am 10. Mai und später verbrannt wurden.

Die Bibliothek im sogenannten „Familienlager“ im Venichtungslager Auschwitz Birkenau war winzig: Sie bestand aus nur acht alten, teilweise beschädigten Büchern, doch die Häftlinge hüteten sie wie einen Schatz. Bücher zu besitzen, war im Lager streng verboten. Denn Diktatoren, Tyrannen und Unterdrücker fürchten Bücher – „Bücher sind gefährlich, weil sie Menschen zum Denken bringen“, schreibt Antonio Iturbe in seinem Buch „Die Bibliothekarin von Auschwitz“.* In Auschwitz brachten sie ein Stück Normalität in den grausamen Alltag.

Cover Die Bibliothekarin von Auschwitz / Copyright Piper Verlag
https://www.piper.de/buecher/die-bibliothekarin-von-auschwitz-isbn-978-3-86612-470-7

Grundlage des Romans von Antonio Iturbe ist eine wahre Geschichte. Dita Polachova, damals erst 14 Jahre alt, war begeisterte Leserin – und die Bibliothekarin von Auschwitz: Sie kümmerte sich um die Bücher und riskierte ihr Leben, um sie vor den Aufsehern zu vestecken. Dita lebte mit ihren Eltern in Prag, ehe sie 1942 mit ihren Eltern zunächst nach Theresienstadt, Ende 1943 dann nach Auschwitz deportiert wurde.

Die Menschen, die im September und Dezember aus dem Theresienstädter Ghetto nach Auschwitz-Birkenau kamen, hatten zunächst einige für Auschwitz ungewöhnliche Privilegien: Familien lebten in einem Bereich und konnten sich sehen. Die Kinder hielten sich tagsüber in einem speziellen Kinderblock auf. In Baracke 31 organisierten die Häftlinge unter Führung von Fredy Hirsch trotz Verbots eine Schule im Untergund – und die geheime Bibliothek, zu der neben acht richtigen auch sechs „lebende“ Bücher gehörten: Betreuer, die ein Buch genau kannten und es den Kindern immer wieder erzählten. So lernten die Kinder unter anderem die Geschichten von Nils Holgerson und von Edmont Dantès, Alexandre Dumas Graf von Monte Christo, kennen – und konnten der Realität zumindest für kurze Zeit entfliehen.

Die Lebensbedingungen waren auch im Familienlager von Hunger, Krankheiten, schlechten hygienischen Bedingungen, Zwangsarbeit und Terror geprägt; die Sterblichkeit war hoch – auch Ditas Vater starb dort. In der Nacht vom 8. zum 9. März 1944 wurden alle Häftlinge, die im September 1943 aus Theresienestadt nach Auschwitz deportiert worden waren – fast 4.000 Menschen -, in den Gaskammern ermordet; zwischen dem 10. und 12. Juli 1944 ermordeten die Nazis noch einmal 6.000 bis 7.000 Häftlinge aus dem Familienlager: „dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen“.

Von insgesamt 17. 500 Häftlingen des Familienlagers überlebten nur 1.294, darunter Dita, die Bibliothekarin von Auschwitz, und ihre Mutter. Sie wurden Anfang Juli 1944 erneut deportiert und wurden im April 1945 im Konzentrationslager Bergen Belsen von englischen Soldaten befreit. Für viele kam die Befreiung zu spät: Anne Frank und ihre Schwester Margot überlebten die unmenschlichen Bedingungen im Lager nicht, auch Ditas Mutter starb kurz nach der Befreiung.

Dita kehrte, gerade 16 Jahre alt, alleine nach Prag zurück. Dort traf sie Ota Kraus, der die Kinder in Auschwitz-Birkenau unterrichtet hatte. Sie heiraten und wanderten 1949 gemeinsam nach Israel aus. Seit Anfang der 1990er Jahre erzählt Dita Kraus als Zeitzeugin von ihrem Leben – über die Kindheit im Konzentrationslager und den Neuanfang in Israel. Im vergangenen Jahr sind ihre Memoiren erschienen: „Ein aufgeschobenes Leben“. Ich werde es mir kaufen. Auch wenn – oder gerade weil – Bücher gefährlich sind. Weil sie zum denken anregen. Und weil das, was geschehen ist, nicht vergessen werden darf.

*Dieser Blogbeitrag enthält unbezahlte Werbung

Antonio Iturbe: Die Bibliothekarin von Auschwitz: Roman nach einer wahren Geschichte. Pendo Verlag, 22 Euro

Unter
https://www.piper.de/buecher/die-bibliothekarin-von-auschwitz-isbn-978-3-86612-470-7 gibt es weitere Infomationen über das Buch

Dita Kraus: Ein aufgeschobenes Leben: Kindheit im Konzentrationslager – Neuanfang in Israel (Bergen-Belsen. Berichte und Zeugnisse) Wallstein 2020, 25 Euro

Warum blogge ich?

Diese Frage wurde in der Blogparade „Das Blog — ein Medium von gestern? #Blogparade #liveloveblog“ gestellt, auf die ich vor ein paar Tagen zufällig gestoßen bin. Weil ich mir die Frage selbst immer wieder stelle, beantworte ich sie, obwohl Blogparade längst beendet ist (https://www.start-talking.de/das-blog-ein-medium-von-gestern-blogparade-liveloveblog/).

Den ersten Blogbeitrag habe ich vor mehr als sieben Jahren geschrieben. Die Hoffnung, dass ich irgendwann einmal Geld mit Bloggen verdienen könnte, habe ich schnell aufgegeben. Bislang habe ich mit meinen beiden Blogs* noch keinen müden Cent verdient. Im Gegenteil, sie kosten nicht nur Zeit, sondern auch Geld, seit ich sie von einer Firma betreuen, sprich hosten lasse. Doch den Luxus gönne ich mir, weil ich keine Lust habe, mich mit der Technik hinterm Blog zu befassen und stets die aktuellen Updates der verwendeten Software runterzuladen.

Vom Bloggen zu leben, schaffen nur ganz wenige – und die professionellen Bloggerinnen und Blogger müssen sich und ihren Blog auf allen Social-Media-Kanälen vermarkten. Außerdem sind Blogs offenbar schon wieder out – „ein Medium von gestern“ eben, dem Instagram, tik-tok und wie sie alle heißen schon längst den Rang abgelaufen haben.

Mir fehlt das Talent, mich zu vermarkten und auch die Lust dazu: Ich möchte schreiben, weil ich das ganz gut kann – und weil Blogbeiträge die Textform sind, die mir besonders, vielleicht am meisten, liegen. Schließlich kommt Blog von Weblog, einer „Wortkreuzung aus englisch Web und Log für Logbuch oder Tagebuch“. Ein Blog ist laut Wikipedia „ein meist auf einer Website geführtes und damit meist öffentlich einsehbares Tagebuch oder Journal, in dem mindestens eine Person, der Blogger (oder die Bloggerin in diesem Fall) (…) Aufzeichnungen führt, Sachverhalte protokolliert (‚postet‘) oder Gedanken niederschreibt“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Blog). Genau das richtige für eine notorische Tagebuchschreiberin wie mich. Ich blogge also vor allem, weil es mir Spaß macht – und das ist eigentlich Grund genug.

Tagebuch – digital und analog

Es gibt noch einen weiteren guten Grund: Viele FreundInnen und gute Bekannte leben irgendwo in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Viele haben Time to fly abonniert – und freuen sich, zumindest auf diesem Weg gelegentlich von mir zu hören. Denn ich schaffe es nicht immer, so oft zu schreiben oder zu telefonieren, wie ich es eigentlich möchte und wie sie es verdienen. Und so bleiben wir zumindest auf diese Weise in Verbindung. 

*Für alle, die es noch nicht wissen: Neben Time to fly gibt es auch noch die Chaosgaertnerinnen. (https://chaosgaertnerinnen.de/) Dort blogge ich gemeinsam mit Foe Rodens.  Auch dieser Blog kann natürlich kostenlos abonniert werden. Und alle, meine Beiträge auf Instagram suchen, finden sie unter eva_wso  und chaosgaertnerinnen.

Blickwinkel im April

Auch im April habe ich die Blickwinkelfotos wieder auf den letzten Drücker gemacht, doch diesmal habe ich einen guten Grund – oder soll ich sagen einen guten Vorwand. Ich habe gehofft, dass die Umbauarbeiten am Springhorstsee bis zum Ende des Monats beendet werden. Aber leider ist der Zugang zum Springhorstsee immer noch gesperrt, die neuen Besitzer lassen sich mit der Umgestaltung Zeit. Warum auch nicht. Das neue Café Frida am See darf coronabedingt noch nicht öffnen, und auch das Strandbad bleibt wohl noch ein paar Wochen geschlossen. Nachttemperaturen um den Gefrierpunkt laden derzeit noch nicht zum Baden ein.

Doch auch der Blick aus der zweiten Reihe zeigt, dass sich nicht nur die Natur verändert: Weißer Sand vor dem Café vermittelt jetzt Strandfeeling. Der Schwan ist umgezogen; mit ihm können die Gäste des Cafés vielleicht schon bald in See stechen. Mit der Ruhe ist es dann wohl zumindest an den Wochenenden vorbei.

Am Pöttcherteich ist dagegen auf den ersten Blick alles, wie es schon im März war: Die beschnittenen Weiden sind immer noch kahl – und wie in jedem Jahr fürchte ich, dass sie in diesem Jahr nicht austreiben. Doch eigentlich weiß ich, dass ich nur Geduld haben muss; Gras wächst bekanntlich nicht schneller, wenn man daran zieht – und Weiden nicht, wenn man ungeduldig darauf wartet. Immerhin lassen die unbeschnittenen Weiden am gegenüberliegenden auch aus der Distanz das erste zarte Grün erahnen: Es wird Frühling.

Von Büchern und Drachen

Gute alte Bräuche soll man pflegen. In Katalonien ist es seit mehr als 100 Jahren Brauch, am 23. April, am Tag des katalonischen Schutzheiligen Sant Jordi Bücher und  Rosen zu verschenken. Die Sache mit den Rosen verstehe ich. Denn ein Ritter namens Jordi – auf Deutsch Georg – soll eine Prinzessin vor einem Drachen gerettet haben, der die Bewohner eines Dorfes in Angst und Schrecken versetzte. Jordi tötete den Drachen, aus dem dann wunderschöne Rosen wuchsen. So weit die Legende.

Ob und welche Beziehung der katalonische Schutzheilige zu Büchern hatte, weiß ich nicht – und ich habe auch nichts darüber gefunden. Aber seit Mitte der 90er-Jahre ist sein Namenstag offiziell Unesco-Welttag des Buches und des Urheberrechts, kurz: Weltbuchtag. Neben dem katalonischen Brauch hat bei der Wahl des Tages sicher auch eine Rolle gespielt, dass am 23. April 1616 gleich zwei berühmte (National) Schriftsteller – William Shakespeare und Miguel Cervantes – gestorben sind. Ein Literaturnobelpreisträger, der Isländer Halldor Laxness, wurde am 23. April (1902) geboren.

Logo: Börsenverein des Deutschen Buchhandels

Leider ist der katalonische Brauch des Bücherschenkens hierzulande noch nicht sehr verbreitet. Aber das sollte sich ändern. Und so bin ich losgezogen, um mir am Welttag des Buches selbst ein Buch zu schenken. Das ist möglich, weil Bücher – glücklicherweise und zu Recht – zu den „Gütern des täglichen Bedarfs“ zählen; Buchhandlungen sind daher trotz des Lockdowns geöffnet.

Nach den drei ersten Büchern auf meiner To-read-Liste habe ich leider vergeblich gesucht, obwohl sie eigentlich ganz aktuell sind und in diversen Medien sehr gut Kritiken bekommen haben. Das liegt sicher an der Flut der Neuerscheinungen – aber auch daran, dass die einzige Buchhandlung im Ort nicht mehr das ist, was sie einmal war. Zwar ist die Verkaufsfläche eher größer als vor 35 Jahren. Doch es gibt dort längst nicht mehr so viele Bücher wie früher. Mit anderen Produkten lässt sich offenbar mehr Geld verdienen – mit Geschenkartikeln zum Beispiel. Oder mit Schulranzen und allem, was dazu gehört. Für ein komplettes Ranzen-Set im angesagten Design und von einer angesagten Marke zahlen Eltern, Großeltern oder Paten gut und gerne 300 Euro zahlen – dafür muss man viele Bücher verkaufen.

Trotzdem bin ich fündig geworden, wie eigentlich immer, wenn ich in einer Buchhandlung bin. Quasi im Vorbeigehen habe ich das neue Buch von Isabel Allende entdeckt– und gekauft. Isabel Allende ist seit den Achtzigern eine meiner Lieblingsautorinnen; ich habe viele Bücher von ihr gelesen. Die Abenteuertrilogie um Alex Cold und seine sonderbare Großmutter, die Reisereporterin Kate Cold, habe ich allerdings ausgelassen. Vielleicht ist es an der Zeit, das nachzuholen. Und so habe ich in den Bücherregalen meiner Tochter gestöbert und das Buch mit den drei Romanen entdeckt. „Im Reich des Goldenen Drachen“ heißt der zweite Teil der Triologie. Womit wir wieder am Anfang wären, bei Sant Jordi, dem Drachentöter …

Blickwinkel im März

Wer zu spät kommt, den bestraft bekanntlich das Leben. Als ich am zweitletzten Märztag endlich Zeit für die Blickwinkelfotos fand, war der Zugang zum Springhorstsee leider gesperrt. Am Ufer wird zurzeit eifrig gearbeitet. Fotos vom See und von der kleinen Insel gibt es daher nicht aus den gewohnten Blickwinkeln, sondern nur von der parallel zum Seeufer verlaufenden Straße durch den Zaun.

Es hat sich einiges getan im vergangenen Monat: Nichts bleibt, wie es war. Und es war, als hätte der Schäfer es geahnt. Als ich ihn im Februar fotografierte, schaute er schon skeptisch. Jetzt haben sich, so scheint es, seine Befürchtungen bewahrheitet. Mit der Ruhe und Abgeschiedenheit ist es vorbei. Seine Insel ist keine Insel mehr, sondern sie ist jetzt durch einen Steg mit dem Festland, sprich, dem Seeufer, verbunden. Doch das ist nicht die einzige Veränderung. Der neue Besitzer des Cafés ist, so scheint es, ein großer Stegfan. Zwei große Schwimmplattformen aus Holz sind im See vertäut: Die Gäste des neuen Cafés Frida am See können also künftig nicht nur am, sondern auch auf dem Wasser sitzen – wenn der Lockdown irgendwann vorbei ist. Und weißer Sand vermittelt künftig am Rande von Burgwedel Sandstrandfeeling.

Ob dem Schäfer all dies wirklich gefällt – ich fürchte nicht. Er war verschwunden. Vielleicht sucht er ein neues Domizil für sich und seine kleine Herde.  Ob er zurückkommt? Die April-Bilder werden’s zeigen.

Am neuen Pöttcherteich ist indes noch alles beim Alten: Die Kopfweide ist, ebenso wie ihre Artgenossen direkt daneben, immer noch kahl und auch das Schilf hat sein winterlich braunes Kleid noch nicht abgelegt. Aber das ändert sich bald, da bin ich sicher. In einem Monat sieht alles ganz anders aus.

Von Benediktinerinnen und Beginen

Ich gebe es zu, Neumz* hat mich in seinen Bann gezogen, seit ich zum ersten Mal von dem Musikprojekt gelesen und dann auch darüber geschrieben habe (https://timetoflyblog.com/neumz-frauen-singen-gregorianisch). Vielleicht nicht nur, weil ich gregorianische Gesänge mag, sondern auch, weil mich die Bilder von der Abtei Notre-Dame de Fidélité von Jouques an eine Studienfahrt durch Burgund und Belgien erinnern – und an die Pläne, die eine Studienfreundin und ich dabei geschmiedet haben. Ganz vergessen haben wir sie in all den Jahr(zehnt)en nie: Als wir in Brügge den alten Beginenhof besuchten, haben wir uns vorgenommen, später einmal einen Beginenhof zu gründen.

Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit waren Beginengemeinschaften weit verbreitet, später gerieten sie völlig in Vergessenheit. Selbst wir hatten bis zu unserem Besuch in Brügge noch nie von der frühen Frauenbewegung gehört, obwohl wir Geschichte studiert hatten.

Beginen waren alleinstehende Frauen, die seit dem 12. Jahrhundert in vielen Städten – quasi als eine Art Laienorden – eigenständige Lebens- und Arbeitsgemeinschaften bildeten. Sie arbei­teten u. a. als Hand­werkerin­nen, Künstler­innen, Kauf­frauen sowie als Lehrerinnen und in der Pflege und waren finanziell unabhängig – damals für Frauen keine Selbstverständlichkeit . Im Gegensatz zu Nonnen legten Beginen keine Gelübde ab und konnten die Gemeinschaft in der Regel wieder verlassen, wenn sie es wollten. Die Gemeinschaften verwalteten und organisierten sich selbst – anders als für Ordensgemeinschaften gab es für Beginenkonvente und -höfe keine allgemeinverbindlichen Regeln;

Im Beginenhof in Brügge leben heute Benediktinerinnen, die wohl wie die Benediktinerinnen der Abtei Notre-Dame de Fidélité von Jouques nach den Regeln des heiligen Benedikt leben: also im Wesentlichen nach der Devise „ora et labora“, bete und arbeite. Der Tagesablauf wird durch die Stundenliturgie und durch die Messe geprägt; die Nonnen sollen, so verlangte es der heilige Bedendikt jede Woche das gesamte Buch der Psalmen singen. Drei Jahre soll es dauern, bis sie alle rund 8.000 gregorianischen Gesänge gesungen und aufgenommen haben; mehr als 7.000 Stunden Musik werden dann über eine App abrufbar sein.

Kloster Notre-Dame de Fidélité de Jouques, Screenshot https://neumz.com

Ich habe mir die kostenlose App auf mein Smartphone geladen und höre die Gesänge seither oft und gerne. Als mit einem Newsletter das Osterangebot von Neumz auf meinem Computer landete, habe ich getan, was ich ohnehin geplant hatte: Ich unterstütze das Musikprojekt mit knapp 60 Euro im Jahr und fördere damit auch Notre Dame de l’Écoute in Benin, die Stiftung der Benediktinerinnen in Afrika.

Als Patron, wie das auf Französisch heißt, oder genauer gesagt als Patronne, kann ich einige Zusatzfunktionen der App nutzen: Ich kann zum Beispiel nach bestimmten Gesängen suchen und mir meine Lieblingsgesänge anhören, wann immer ich möchte – demnächst auch offline. Künftig soll es außerdem ein Audio-Upgrade auf eine bessere Wiedergabequalität geben – und irgendwann auch eine Alarm-Funktion. Darauf freue ich mich. Denn dann kann ich mich an die Gebetszeiten erinnern und mich von den Gesängen der Nonnen durch den Tag begleiten lassen.

Partitur mit lateinischem Text und Übersetzung – hier in Englisch. Screenshot https://neumz.com

All denen, die mich kennen und sich wundern, sei versichert: Nein, ich bin nicht plötzlich fromm geworden. Ich habe nicht vor, den Namen des Herrn „vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang“, zu loben, wie es in Psalm 113 steht. Und ich werde auch sicher nicht in den Schoß der Heiligen katholischen Kirche zurückkehren. Bei den Protestanten fühle ich mich besser aufgehoben. Aber die Idee, den Alltag durch die Gesänge kurz zu unterbrechen und den Tag auf diese Weise zu strukturieren, gefällt mir.

Der Tag beginnt früh im Kloster in der Provence – morgens um 5 mit dem Matunium – und er endet früh – mit dem Komplett um 20 Uhr, gefolgt von der Großen Stille, der Nacht. Zwischen dem Morgen- und dem Nachtgebet liegen die Lobgebete um 7.30 Uhr, Terz (10.30 Uhr), Sexte (12.45 Uhr), None (14.45 Uhr) und Vespern (17.30 Uhr).

Das frühe Aufstehen ist für mich kein Problem: Meist bin ich um diese Zeit ohnehin schon wach. Problematischer ist es das frühe Ende des Tages. Und die vorgegebenen Zeiten zwischendurch einzuhalten, ist mir bislang noch nicht gelungen. Terz, None und Co gehen im Alltag oft unter, und wenn ich mich an sie erinnere, ist die Zeit meist schon vorbei. Bis die Alarmfunktion der App funktioniert, praktiziere ich deshalb kanonische Stunden oder Offizien light: Ich höre mir die entsprechenden Gesänge an, wenn es mir zeitlich passt. Ohne Stress und Zeitvorgaben. Eigentlich eine gute Wahl. Auf diese Weise lassen sich die kleinen Auszeiten viel besser in den eigenen Tagesablauf integrieren.

Übrigens: Seit fast 20 Jahren gibt es in Deutschland wieder Beginenhöfe und -projekte; fast 20 sind im Dachverband der Beginen organisiert. Wer sich für die modernen Beginenhöfe interessiert, findet Infos in einem Artikel von mir unter https://issuu.com/schluetersche/docs/wohnwerken_02

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*Dieser Beitrag enthält unbezahlt Werbung. Mehr Infos über das Projekt unter https://neumz.com/de/deutsch/