Bullet Journal – zweiter Versuch

Ich habe aus der Not eine Tugend gemacht. Weil wegen des Lockdowns Buchhandlungen und Schreibwarenläden geschlossen sind, habe ich mir zu ersten Mal seit Jahrzehnten keinen Notizkalender gekauft. Natürlich hätte ich mir einen im Internet bestellen können, aber das Kalendarium, das ich seit Jahren nutze, gibt es bei dem Online Händler mit dem großen A nur als Zusatzartikel: Ich müsste also Waren im Wert von x Euro mitbestellen. Doch das wollte ich nicht – auch weil mir beim Durchblättern meiner alten Kalender wieder einmal aufgefallen ist, dass die meisten Kalenderseiten leer sind.

Typisches Kalenderblatt im letzten Jahr. Einziger Eintrag – die Leipziger Buchmesse. Und die ist leider ausgefallen.

Ich nutze eigentlich nur die Monatsübersicht am Anfang des Kalenders: Dort trage ich meine Termine ein, um den Überblick zu behalten; meine täglichen und wöchentlichen Aufgaben notiere ich in einem schlichten Notizheft mit Blankoseiten, das ich mit einem Leder- oder Gummiband in einem wunderschönen, handgefertigten Ledereinband* befestige. Mal brauche ich zwei Hefte im Jahr, gelegentlich auch drei, wenn ich viel zu notieren habe. Ich führe quasi ein Bullet Journal light, ohne es so zu nennen.

Ich habe die Mischung aus Kalender, Notizheft-, Ziel- und Gedankensammlung vor ein paar Jahren für mich entdeckt, doch der Hype, den es um Bullet Journals gibt, hat mich abgeschreckt. So gibt es in Buch- und Schreibwarenläden diverses Zubehör wie Schablonen, Stifte, Aufkleber und Handlettering-Anleitungen. Und natürlich unzählige mehr oder weniger hübsch gestaltete Notizbücher mit Aufdruck Bullet Journal, die versprechen, dass ich mit ihrer Hilfe kreativ und gut organisiert durch das Jahr komme und nicht nur meine Termine, sondern auch mein Leben besser im Griff habe.

Bei mir funktioniert diese Art des Bullet Journalings nicht. Denn die vorgedruckten Jahres-, Monatsübersichten, Vision Boards und To-do-Listen sind alles andere als übersichtlich – die Gestaltung ist, so scheint es, wichtiger als der Inhalt. Und gepunktete Seiten, in Bullet Journalen offenbar das Nonplusultra, gehen bei mir gar nicht. Außerdem widersprechen festgelegte Seiten für mich der Bullet-Journal-Idee: Wie viele Seiten beispielsweise die täglichen Aufgaben – oder in der Bullet-Journal-Diktion der Daily Log einnimmt – ist ganz unterschiedlich: „So viel oder so wenig Platz, wie Sie brauchen“, heißt es in Ryder Carrolls Buch „Die Bullet Journal Methode“. Und der muss es wissen, denn er hat das Bullet Journal angeblich erfunden.

Weil mir die Idee eigentlich gefällt, starte ich einen zweiten Versuch: Ich verzichte diesmal ganz auf ein Kalendarium, das meine Wochen in jeweils zwei Seiten presst, und begnüge mich mit einer einseitigen Jahresübersicht und einem Kalenderblatt für jeden Monat. So bleibt genügend Platz für meine Ziele und meine guten Vorsätze für dieses Jahr – und für meine geliebten Listen: mit Büchern, die ich schon gelesen habe beispielweise, mit Blogbeiträgen, die ich schreiben, und Dingen, die ich erreichen will.

Drei Bücher stehen schon auf meiner Gelesen-Liste, die Liste mit den geschriebenen Blogbeiträgen ist indes noch gähnend leer. Höchste Zeit also loszulegen, damit ich mein Jahresziel erreiche. Ob es funktioniert? Das erfahrt ihr Ende des Jahres.

*Dieser Blogbeitrag enthält unbezahlte Werbung:

Ledereinbände:

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Ryder Carroll: Die Bullet Journal Methode. Verstehe deine Vergangenheit, ordne deine Gegenwart, gestalte deine Zukunft.

Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek, 3. Auflage 2019

Silvestergedanken

Das Jahr ist fast zu Ende und fast kann es einem leid tun. Keiner mag es, so scheint es, und alle können kaum erwarten, dass es endlich um 12 der letzte Schlag trifft. Als ob sicher wäre, dass im neuen Jahr alles besser wird.

2020 wird den meisten in keiner guten Erinnerung bleiben. Es ist und bleibt vermutlich das COVID-19-Jahr. Nicht wenige vergleichen Corona mit der Pest, die vor allem im 14. Jahrhundert in Europa wütete. Ich möchte die Gefahr durch das Virus gewiss nicht kleinreden, aber ich finde, der Vergleich hinkt ein wenig, Denn an der Pest starben viel mehr Menschen und die meisten hatten – anders als wir heute – keine Chance, sich vor der Krankheit zu schützen. Einen Impfstoff gibt es inzwischen auch – er wurde in unfassbar kurzer Zeit entwickelt. Doch manche Menschen halten ihn scheinbar für gefährlicher als die Corona selbst. Andere sehen ihre Freiheit bedroht, weil sie einen Mund-Nasenschutz tragen müssen – und demonstrieren dagegen, leider meist zusammen mit Rechtsradikalen, Antisemiten und Faschisten. Vor dieser Mischung fürchte ich mich fast mehr als vor COVID-19: Werden wir die rechten Geister, die manche Covidioten vielleicht ohne es zu wollen stark machen, wieder los? Ich hoffe es sehr.

Natürlich, das Virus hat unser Leben durch Lockdowns, Homeoffice, Ausgangs-, Reise- oder Kontaktbeschränkungen drastisch verändert. Und natürlich ist auch mein Leben in diesem Jahr anders verlaufen, als ich es mir vorgestellt habe. Was ist also aus all dem geworden, was ich mir am Neujahrsmorgen, ganz fest vorgenommen hab?“, wie Reinhard Mey in seinem Lied 71 einhalb fragt. Einiges ist sicher anders gelaufen, als ich es geplant habe, aber das ist eigentlich jedes Jahr so. „Die meisten guten Vorsätze vom Jahresanfang habe ich leider nicht in die Tat umgesetzt“, habe ich vor einem Jahr geschrieben.

Die gute Nachricht zuerst: Ich habe so viele Bücher gelesen (durchschnittlich eins pro Woche) und sogar mehr Blogbeiträge geschrieben, als ich mir vorgenommen hatte: 38 waren es in diesem, 25 in meinem zweiten Blog (chaosgaertnerinnen.de; könnt ihr gerne abonnieren, kostet auch nix. Ende des Werbeblocks). Das liegt sicher auch daran, dass ich weniger gearbeitet habe als in den vergangenen Jahren. Vorgenommen hatte ich mir das schon lange; jetzt sind bei mir, wie bei vielen meiner Kolleginnen und Kollegen Aufträge weggebrochen und mir blieb keine andere Wahl. Nein, ich habe keinen Grund, über coronabedingte Einschränkungen zu jammern, es wäre jammern auf sehr hohem Niveau.

Die Aktion 12 Monate ein Blickwinkel habe ich auf beiden Blogs fast durchgehalten – und ich will sie im nächsten Jahr mit anderen Blickwinkeln fortsetzen. Denn ich fand es interessant zu dokumentieren, wie sich der Würmsee in einem Jahr verändert hat. Leider nicht zum besten,denn er ist fast verlandet.

Der begehbare Pegel am Würmsee reicht nicht mehr aus

Verwunderlich ist das ist nicht: Einem Artikel in der Nature-Zeitschrift Communications Earth & Environment zufolge sinken infolge der menschengemachten Klimakrise sogar die Pegel großer Binnengewässer wie des Kaspischen Meers. Ein Minisee wie der Würmsee hat da wohl keine Chance.

Der Umwelt hat das Coronavirus mehr geholfen als geschadet – weil die Menschen weniger gereist sind und weil weniger produziert und konsumiert wurde, ist der CO2 Ausstoß gesunken. Und manches CO2-Einsparziel lässt sich dadurch auf wundersame Weise erreichen.

Irgendwie empfinde ich es fast als Ironie des Schicksals, dass das Coronavirus, oder SARS-CoV-2, wie es offiziell heißt, vermutlich von Fledermäusen und auf den Menschen übergesprungen ist. Die Fachleute sind sicher, dass die Zoonosen zunehmen werden – zum einen, weil viele Wildtiere in den Siedlungsräumen der Menschen näher kommen, da wir ihre Lebensräume zerstören, zum anderen, weil auch der Handel mit exotischen Tieren kein Ende, sondern eher zunimmt. Vielleicht schlägt die Natur auf diese Art zurück, schafft uns Menschen langsam, aber sicher ab.

Apropos Reisen: Auch ich bin natürlich weniger gereist, als ich es mir vorgenommen habe. Dass ich wieder nicht in Amsterdam war und immer noch nicht in Stockholm und Kopenhagen, ist zwar schade, kann ich aber verschmerzen. Dafür habe ich den Harz wandernd entdeckt (danke Foe für viele tolle Touren). Warum also immer in die Ferne schweifen. Dass teilweise zu viele Menschen auf diese Idee kommen, ist die Kehrseite der Medaille, und leider reisen die meisten nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln an.

Die Aktion „Fliegende Wörter“ habe ich abgebrochen: Zur Erinnerung: Ich wollte jede Woche ein Gedicht aus dem gleichnamigen Postkartenkalender verschicken. Aber mit dem Versuch, einen passenden Adressaten zu finden, bin ich kläglich gescheitert – und das lag vielleicht nicht nur an mir, sondern auch an den Gedichten. Eine Postkarte ist fast ungelesen im Papierkorb gelandet, weil der Empfänger sie für eine Werbung hielt. Und als dann noch eine ehemalige Deutschlehrerin sagte, sie könne mit dem Gedicht, das ich ihr geschickt hatte, leider gar nichts anfangen, habe ich die Aktion aufgegeben. Nicht aber die Gedichte: Seit über einem Monat lese ich jeden Abend eins vor dem Einschlafen und ich muss sagen – es gefällt mir. Möglicherweise werde ich in diesem Blog im nächsten Jahr also (noch) häufiger über Gedichte schreiben – nicht über eigene, versprochen.

So bin ich auch auf ein Gedicht von Erich Kästner, das wunderbar zu diesem Monat passt. Kein Wunder, es heißt ja auch Dezember. Und vor allem die erste Strophe gefällt mir gut.

„Das Jahr ward alt. Hat dünne Haar.
Ist gar nicht sehr gesund.
Kennt seinen letzten Tag, das Jahr.
Kennt gar die letzte Stund.“

Apropos letzte Stund. Die Stunden, in denen Donald Trump noch Präsident der Vereinigten Staaten ist, sind glücklicherweise gezählt. Dass er im November abgewählt wurde, war für mich die gute Nachricht des Jahres, das in ein paar Stunden endet.

Kommt gut ins neue Jahr. Und bleibt gesund.

Erich Kästners Gedicht ist abrufbar unter

https://www.deutschelyrik.de/der-dezenber.html

Was für ein schöner Morgen. Blick aus dem Fenster meines Homeoffice

Weihnachten ganz anders

Nein, wir sind an Weihnachten nicht (nur) zu Hause geblieben, obwohl Lothar Wieler, der Leiter des Robert Koch-Instituts, und viele Politiker uns eindringlich darum gebeten haben. Wir sind, ich gebe es zu, am 1. Weihnachtsfeiertag verreist oder besser gesagt, weggefahren. Aber wir haben, und das ist die gute Nachricht, mit unserer Tour sicher nicht dazu beigetragen, das Coronavirus, wenn wir es denn gehabt hätten, weiterzuverbreiten.

Wir haben nur einen Menschen getroffen und mit ihm – oder besser gesagt ihr – Weihnachten gefeiert. Das Treffen – einschließlich des Essens – fand ausschließlich unter freiem Himmel statt, natürlich mit dem gebührenden Abstand. So können Coronaviren sich ja bekanntlich nicht gut auszubreiten.

Statt im Wohnzimmer am Tannenbaum zu sitzen, haben wir an den Vieneburger Seen Vögel beobachtet. Und weil eine bekennende Frostbeule wie ich nicht stundenlang an einer Stelle stehen kann, bin ich derweil spazieren gegangen.

Viele Menschen hören beim Gehen Musik, mir spukten ohrwurmähnlich zwei Gedichte bzw. Texte im Kopf, die von Spaziergängen an christlichen Feiertagen handeln. Beim ersten stimmten immerhin die Landschaft und das Wetter in etwa mit der Weihnachts-Wirklichkeit überein: Nun sind die Kiesseen zwar kein Strom, aber die Oker ist ein Bach – und Gewässer ist Gewässer, basta. Auf jeden Fall waren sie eisfrei, allerdings nicht vom Eise befreit, wie Johann Wolfgang von Goethe in Faust, der Tragödie erster Teil, schreibt. Weil der Spaziergang im wohl meistzitierten und vielleicht auch bedeutendsten Werk der deutschen Literatur an Ostern stattfindet, zieht sich der alte Winter bei Goethe schon müde in die rauen Berge zurück; bei meinem Spaziergang an Weihnachten hat der Winter gerade erst begonnen.

Bei Joseph von Eichendorffs Gedicht Weihnachten passten zwar Fest und Jahreszeit, und Markt und Straßen waren in der Tat ziemlich verlassen, als wir durch Vieneburg fuhren. Aber festlich sah es zumindest in der Wohnsiedlung, in der wir parkten, nicht aus. Ich habe an Fenstern und Balkonen und in den Vorgärten kaum Weihnachtsschmuck gesehen – wahrscheinlich leben hier vor allem die Verwandten und Fans von Ebenezer Scrooge, dem Weihnachtshasser aus Charles Dickens Novelle „Eine Weihnachtsgeschichte“ (A Christmas Carol).

Dass die Häuser nicht hell erleuchtet und dass auf dem Feld (noch) keine Sterne zu sehen waren waren, lag natürlich an der Tageszeit. Und auch das Wetter war ganz anders als im Gedicht: Von Schnee keine Spur, das einzig Weiße waren die Birken an den Ufern und zwei Silberreiher. Ihr Gefieder ist wirklich schneeweiß, nicht silbrig, wie der Name vermuten lässt. Immerhin glänzte das Wasser gelegentlich in der Sonne, und ziemlich still war es wie im Gedicht beschrieben auch, wohl weil Weihnachten war. An normalen Tagen machen die Bagger in den Kiesseen, die noch bewirtschaftet werden, oft einen Höllenlärm.

Als Weihnachtsessen gab es dann zum Abschluss Kartoffelsalat mit Würstchen. Das ist zwar angeblich der Deutschen liebstes Weihnachtsgericht, aber bei uns kommt es normalerweise an Weihnachten nicht auf den Tisch. Aber einen Tisch gab es ja ohnehin nicht. Gegessen haben wir diesmal, Corona lässt grüßen, nicht im heimischen Wohnzimmer, sondern unter freiem Himmel, in geöffneten Autotüren. Nicht sehr gemütlich, aber ich gebe zu: Es hatte was. Es passte zu dieser Weihnacht, die anders war als alle, die ich, ja, wir bisher erlebt haben.

Johann Wolfgang von Goethes „Vor dem Tor“ ist nachzulesen unter https://www.staff.uni-mainz.de/pommeren/Gedichte/ostern.html, Joseph von Eichendorffs Gedicht „Weihnachten“ steht unter https://www.adventzeit.com/gedichte/weihnachten-joseph-von-eichendorff.

Weihnacht – Buchnacht

Ich habe gestern Nacht – wie schon an vielen Heiligen Abenden zuvor – eine isländische Tradition gepflegt, die ich zugegebenerweise bis vor drei Tagen noch nicht kannte. Jólabókaflóð heißt sie, und für all die, die wie ich nicht so gut Isländisch sprechen, übersetze ich das Wort: Es bedeutet Weihnachts-Bücherflut.

In Island ist es Brauch, an Weihnachten Bücher zu verschenken. Die 13 Weihnachtskerle, die in Island die Geschenke bringen, müssen also eine ganze Menge schleppen. Den Weihnachtsabend verbringen die Isländer angeblich dann meist lesend. Auch ich habe gestern Abend noch lange gelesen. Denn wie für die Isländer gilt auch für mich: Weihnachten ohne Bücher und ohne Lesen ist kein richtiges Weihnachten.

Schon als Kind habe ich mir zu Weihnachten immer Bücher gewünscht – und auch immer mindestens eins bekommen. Mehr Bücher gab es nur selten, weil meine Eltern nicht viel Geld hatten – und Bücher damals noch recht teuer waren. Preiswerte Taschenbücher für Kinder gab es in Deutschland damals noch nicht – oder meine Eltern kannten sie nicht.

Das geschenkte Buch hatte ich meist schon am Heiligen Abend ausgelesen, spätestens aber am ersten Weihnachtsfeiertag. Und dann begann eine endlos lange Zeit ohne neue Bücher, die mindestens bis Ostern, manchmal aber auch bis zum Geburtstag im November dauerte. Zeitweise half die Pfarrbücherei im Ort über die bücherlose Zeit. Die war erst endgültig zu Ende, als ich nach der zehnten Klasse aufs Gymnasium wechselte und in Trier nicht nur Stadtbücherei und Stadtbibliothek, sondern auch preiswertere Taschenbücher entdeckte. Mein Taschengeld und das Geld, das ich mir in den Ferien verdiente, habe ich zum großen Teil in Bücher investiert. Wie viele ich seither gekauft habe, weiß ich nicht – es sind gewiss Tausende.

Seit einigen Jahren versuche ich, weniger Bücher zu kaufen. Aber weil Weihnachten ohne Bücher gar nicht geht, verfalle ich im Dezember meist in einen Bücherkaufrausch. In diesem Jahr habe ich gut ein Dutzend Bücher verschenkt. Das eine oder andere Buch habe ich mir selbst geschenkt, weil ich mich gerade in Zeiten wie diesen weder auf das Christkind und den Weihnachtsmann noch auf die 13 Weihnachtskerle verlassen möchte.

Eines der von mir bestellten Bücher liegt leider noch in der Buchhandlung, nur ein paar Hundert Meter von hier entfernt, aber mindestens bis Mitte Januar nicht erreichbar. Denn die Buchhandlung vor Ort ist wegen des Lockdowns geschlossen ist und liefert leider keine Bücher aus – sorry Foe. Doch ich habe rechtzeitig für Ersatz gesorgt. Damit mir und dir der Lesestoff nicht ausgeht. Frohe Weihnachten!

Mehr über die Weihnachts-Bücherflut unter https://wasliestdu.de/magazin/2016/jolabokaflod-warum-die-alljaehrliche-buecherflut-islands-eine-der-schoensten und unter https://www.dw.com/de/verr%C3%BCckte-tradition-allweihnachtliche-b%C3%BCcherflut-in-island/a-51785341

Die Macht der Gewohnheit

Es klingt zu einfach, um wahr zu sein. Eine Minute genügt, um sich etwas anzugewöhnen, was man oder frau schon immer gern regelmäßig tun würde. Gut, ein bisschen Ausdauer ist schon nötig, denn es dauert angeblich 66 Tage, bis neue Gewohnheiten mithilfe der Ein-Minuten-Methode etabliert und fester Bestandteil des eigenen Lebens geworden sind.

Kaizen heißt das Prinzip und erfunden hat es angeblich ein Japaner, nämlich Masaaki Imai. Eigentlich ist es ein Management-Prinzip, das Unternehmen helfen soll, sich kontinuierlich zu verbessern. Doch auch im täglichen Leben kann es hilfreich sein.

Eine Minute ist nämlich schnell vorbei, deshalb zählt die Ausrede, dass man keine Zeit hat, etwas zu tun, nicht wirklich. Und wenn man oder frau schon mal mit etwas angefangen hat, macht er oder sie dann oft auch weiter.

So geht es mir zum Beispiel mit dem Vorsatz, jeden Tag an einem Schreibprojekt zu arbeiten. Wenn ich die Datei öffne und anfange zu schreiben, schreibe ich meist länger als eine Minute. Und ich beschränke mich auch nie darauf, nur bis zum Gartentor und wieder zurück zu gehen, weil ich mir vorgenommen habe, mich mehr zu bewegen. Wenn ich schon mal angezogen und draußen bin, gehe ich weiter. Weil es mir nämlich Spaß macht. Oder ich verlege meine Bewegungseinheit einfach auf den Crossstepper, wenn ich es mir draußen zu kalt, zu regnerisch oder was auch immer ist.

Die Hälfte der 66 Tage habe ich jetzt hinter mir, und wenn ich jetzt mal keine Lust habe, etwas zu tun, was auf meiner Das möchte-ich mir-jetzt-gern-angewöhnen-Liste steht, denke ich, dass ich ja schon sooo lange durchgehalten habe und dass ich jetzt nicht aufgeben will.

Besonders gut funktioniert das Angewöhnen bei mir übrigens, wenn ich den neuen Gewohnheiten einen festen Platz in meinem Tagesablauf reserviere. Meine Yogaübungen mache ich zum Beispiel immer morgens direkt nach dem Aufstehen, während meine erste Tasse Kaffee durch den Filter läuft – und ohne Kaffee geht bei mir bekanntlich gar nichts.

Ein Gedicht lese ich dagegen immer erst kurz vor dem Einschlafen, bevor ich in mein 5 Year Memory Book schreibe. Das tue ich seit Herbst 2017, und es ist wirklich interessant nachzulesen, was man vor ein, zwei, drei oder vier Jahren am gleichen Tag erlebt hat (oder ist es derselbe, das lerne ich wohl nie). Weil sich fünf Jahre den Platz auf einer Tagesseite teilen, sind es auch nur einige Zeilen am Tag. Das dauert kaum mehr als eine Minute. Womit ich wieder am Anfang wäre, beim Kaizen-Prinzip.

Mehr Infos über die Kaizen-Philosophie  und wie man/frau sie nutzen kann stehen in einem Artikel, der in der Zeitschrift Brigitte erschienen ist.

https://www.brigitte.de/liebe/persoenlichkeit/kaizen–ganz-leicht-neue-gewohnheiten-schaffen-11546854.html

Würmsee im November

Die Meteorologen prophezeien schlechtes Wetter. Und bevor der Novemberfrühling – der gefühlte Frühling im Herbst – endet, fahre ich mit dem Rad zum Würmsee, um meine Chronistenpflicht zu erfüllen und den See, der eigentlich keiner mehr ist, aus immer den gleichen Blickwinkeln zu fotografieren.

Ein wenig Wasser mehr ist da als bei meinem letzten Besuch vor gut zwei Wochen, so scheint es. Oder wirkt alles nur viel freundlicher, weil heute die Sonne scheint? Denn auch dieser Sonntag macht seinem Namen alle Ehre; die herbstlich gelben Blätter leuchten im Sonnenlicht. So macht November Spaß.

Auch die Badende genießt das ungewöhnlich schöne Wetter. Ich leiste ihr ein bisschen Gesellschaft: Ich mache es mir auf einer der beiden Holzliegen bequem – allerdings nicht im Badeanzug, sondern im Anorak – und lege eine Schreibpause ein. Wie oft kann man das schon Mitte November? Auf einen Kaffee muss ich verzichten; die Gaststätte am Seeufer ist geschlossen – nicht nur, weil die Saison vorbei ist, sondern vielleicht für immer.

Den Torffressern geht das frische Grün allmählich aus – das Gras um sie herum ist herbstlich braun und die Bäume sind fast kahl. Aber sie haben keine Angst vor dem bevorstehenden Winter. Denn sie haben ihre Schaufeln, mit denen sie nach Nahrung graben können, immer dabei. Torf werden sie aber nicht mehr finden. Der Torf ist längst abgebaut und auch die Moore gibt es nicht mehr. Die Landwirte haben das Land ringsum entwässert – und damit ungewollt auch den Würmsee.

Das Boot – im Sommer mein Lieblingsplatz – lädt nicht mehr zum Verweilen ein: zu trostlos der Anblick auf den fast wasserlosen See. Grün- und Matschfläche statt Wasserfläche.

Die fünf von der Bank stört es nicht. Vielleicht nutzen sie die Gelegenheit, abends, wenn alle Besucher verschwunden sind, auf dem kürzesten Weg, quer durch den See, zum gegenüberliegenden Ufer zu gehen und dort ihre Freunde, die Torffresser, zu besuchen.

Scorpions

Es ist an der Zeit, die Lanze für ein Sternzeichen zu brechen, das auf der Liste der unbeliebten Sternzeichen ganz oben steht: für Skorpione. Glaubt man einer Statistik – was man ja bekanntlich nur tun soll, wenn man sie selbst gefälscht hat –, begehen Menschen, die in diesem Sternzeichen geboren sind, fast die meisten Verbrechen. Nur Krebse haben angeblich noch mehr kriminelle Energie. Und auch in Sagen und Mythen werden Skorpione meist als gefährliche, todbringende Wesen dargestellt. Zu Unrecht, wie ich meine.

Die Liste der negativen Eigenschaften, die Skorpionen zugeschrieben werden, ist lang: Skorpione gelten beispielsweise als eifersüchtig, kompromisslos, misstrauisch, nachtragend, pessimistisch, rachsüchtig, skrupellos, undurchschaubar und verbissen. Dass sie analysierend, ausdauernd, belastbar, engagiert, grübelnd, intelligent, kreativ, leidenschaftlich, selbstkritisch, zäh, zielstrebig und zuverlässig sein sollen, spricht eigentlich für sie. Doch wer vieles hinterfragt und Dingen auf den Grund geht, wie es für Skorpione charakteristisch sein soll, sammelt in der Zeit der Fake News und der alternativen Fakten, der Trumps, Johnsons und Erdogans, der Covidioten und der angeblichen Querdenker wenig Sympathiepunkte.

Und dann ist da natürlich der Stachel, der vielen Angst macht. Dabei könnte ein Blick ins Tierreich helfen. Denn Skorpione setzen ihren Stachel meist zur Verteidigung ein, seltener um Beute zu machen. Der Stich der meisten Skorpione ist für Menschen ungefährlich – die Symptome sind oft eher vergleichbar mit einem Bienenstich. Nur das Gift weniger Arten kann auch für Menschen tödlich sein – wenn sie nicht behandelt werden. Kein Grund zur Panik also – auch wenn ich zugeben muss, dass ich kein Fan der Spinnentiere bin.

Skorpion-Menschen mag ich dagegen meist, wohl auch, weil ich selbst einer bin. Meine beste Freundin ist Skorpion, der beste „Chef“, mit dem ich je zusammengearbeitet habe, und die kompetenteste und freundlichste Kassiererin hier im Ort ebenfalls. Ich kenne keinen Skorpion persönlich, der mir wirklich unsympathisch ist. Im Gegenteil: Wenn ich Leute nett finde, stellt sich im Nachhinein nicht selten heraus, dass sie Ende Oktober oder im November geboren sind – der ähnliche Geburtstermin verbindet, allen Unterschieden zum Trotz.  

Als ich nach dem Studium wieder eine Zeitlang an der Mosel lebte, habe ich zwei Skorpionfeste gefeiert. Die Eingeladenen hatten nur zwei Dinge gemeinsam: Sie waren Skorpione und sie kannten mich. Der Älteste war fast 60, die Jüngste gerade mal 11. Vor dem ersten Fest waren die Gäste skeptisch – vor allem, weil die meisten sich nicht oder nur flüchtig kannten und nicht wussten, was sie erwartete.

Trotzdem kamen alle, die ich eingeladen hatte – und alle verstanden und unterhielten sich prächtig. Der einzige Mann in der Runde, der Mann einer Freundin, verriet mir später, dass er eigentlich nur gekommen sei, weil er nicht unhöflich sein wollte, und dass er fest vorhatte, schnell wieder zu verschwinden. Doch dann blieb er wie alle anderen bis weit nach Mitternacht. Und alle kamen im nächsten Jahr wieder, weil das erste Fest ihnen gut gefallen hatte. Dann bin ich umgezogen und die Skorpionfeste hörten auf.

Schade, meinte eine Teilnehmerin, die ich zufällig fast 30 Jahre später beim Spazierengehen an der Mosel wiedertraf. Sie denke noch oft an die beiden Feste, sagte sie. Sie habe sich selten so gut unterhalten. Und einige Skorpione, die ich später kennenlernte, bedauerten, dass sie nicht dabei waren.

Vielleicht lasse ich die alte Tradition wieder aufleben. Nach Corona. Und im Jahr eins nach Donald Trump.

Übrigens: Trumps Nachfolger Joe Biden ist Skorpion.

Und Happy Birthday Sabine. Herzliche Grüße von Skorpionin zu Skorpionin

Ende in Sicht

„An allem Unfug, der passiert, sind nicht etwa nur die schuld, die ihn tun, sondern auch die, die ihn nicht verhindern.“ An diesen Satz aus Erich Kästners Buch „Das Fliegende Klassenzimmer“ denke ich seit Tagen, wenn ich, wie auch jetzt, gebannt die Wahl-Nachrichten aus den USA verfolge. Dort hat Joe Biden jetzt zwar die erforderlichen 273 Wahlmännerstimmen, ist President elect. Aber natürlich will der noch amtierende Präsident, der schlechteste Verliere ever, dagegen klagen. Er hofft, mithilfe der Gerichte an der Macht zu bleiben. Ein Präsident, der meint, dass er über dem Gesetz steht, und der infrage stellt, was den Kern einer Demokratie ausmacht: dass bei einer Wahl alle Stimmen zählen, die abgegeben wurden, egal für wen.

Aber was ist das für eine Demokratie, in der  

  • mehr als fünf Millionen Menschen – überwiegend Schwarze – nicht wählen dürfen, weil sie Straftaten begangen haben – nicht immer schwere -, auch wenn sie ihre Strafe längst verbüßt haben,
  • Wahlmänner und -frauen bei der letzten Wahl einen Präsidenten kürten, der fast drei Millionen Stimmen weniger hatte als die Gegenkandidatin Hilary Clinton,
  • der Präsident vor der Wahl ankündigte, dass er das Wahlergebnis nur akzeptiert, wenn er gewinnt, und seine Anhänger mehr oder weniger unverhohlen auffordert, bei einer Wahlniederlage zu den Waffen zu greifen.

Von seinen Parteifreunden hat kaum einer versucht, Donald Trump Einhalt zu gebieten, kaum einer ist seinen Lügen, seinen Hasstiraden entgegengetreten. Anlässe hätte es in den vergangenen vier Jahren genug gegeben. So hat Donald Trump laut tagesschau.de in seiner Amtszeit mehr als 22.000 irreführende oder falsche Behauptungen verbreitet. Nach der Wahl haben mehrere US-Sender die Übertragung der Pressekonferenz des Präsidenten abgebrochen mit der Begründung, dass er nur Unwahrheiten verbreite. Kein US-Präsident, an den ich mich erinnern kann, hat das Land so gespalten, so viel Öl ins Feuer geschüttet.

Trotzdem haben seine Parteifreunde geschwiegen. Die eigene Karriere war den meisten wichtiger als die Werte, auf die die Amerikaner angeblich so stolz sind. Erst jetzt, wo der Stern des Präsidenten offenbar sinkt, wenden sich einige Republikaner gegen ihn – jetzt, wo es der Karriere wahrscheinlich nicht mehr schadet.

„An allem Unfug, der passiert, sind nicht etwa nur die schuld, die ihn tun, sondern auch die, die ihn nicht verhindern.“ Als Erich Kästner das schrieb, hatte er nicht nur die Gymnasiasten im Sinn, die sich mit den Realschülern balgten. In dem Jahr, in dem das Fliegende Klassenzimmer veröffentlicht wurde, wurden Kästners Bücher verbrannt – am 10. Mai 1933 „ … in Berlin auf dem großen Platz neben der Staatsoper von einem gewissen Herrn Goebbels mit düster-feierlichem Pomp … Vierundzwanzig deutsche Schriftsteller, die symbolisch für immer ausgetilgt werden sollten, rief er triumphierend bei Namen“, beschrieb Kästner die Bücherverbrennung.

Zehn Jahre später rief Reichspropagandaminister Joseph Goebbels im Berliner Sportpalast zum totalen Krieg auf. Wohin das führte, wissen wir. Trotzdem wählte Donald Trump jr., Sohn des Noch-Präsidenten der Vereinigten Staaten, in der vorletzten Nacht die gleichen Worte: „Das Beste für Amerikas Zukunft wäre es, wenn @realDonaldTrump über diese Wahl in den totalen Krieg zieht, um all den Betrug, das Schummeln (…) offenzulegen, das seit viel zu langem anhält“, twitterte er  (https://www.tagesschau.de/newsticker/uswahl2020-liveblog-105.html#Trump-Sohn-ruft-Vater-zu-totalem-Krieg-um-Wahlausgang-auf). Ich weiß nicht, was mir mehr Angst macht: dass Trump jr. weiß, was er sagt, oder dass er es nicht weiß. Es ist jedenfalls höchste Zeit, den Unfug zu beenden!

November

Ich sitze am Schreibtisch und schaue nach draußen: strahlend blauer Himmel, gar nicht novemberlich. Und mir kommt ein Gedicht von Friedrich Hebbel in den Sinn: „Dies ist ein Herbsttag, wie ich keinen sah …“. Das stimmt nicht ganz, aber zumindest im November sind solche Tage nicht selbstverständlich.

Herbstbild ist (leider) eines der wenigen Gedichte, die ich (fast) auswendig kenne. Und vielleicht ist es mir deshalb im Gedächtnis geblieben, weil wir es in der Schule zusammen mit dem Sommerbild von Hebbel gelernt und interpretiert haben. Diejenigen, die meinen Blog regelmäßig lesen, rollen jetzt wahrscheinlich genervt die Augen, und ich gebe es zu: Ja, ich habe den Anfang schon ein paar Mal zitiert, Sommerbild ist das Gedicht mit der letzten Rose des Sommers, ebenfalls von Hebbel geschrieben (Danke an dieser Stelle an meinen ehemaligen Deutschlehrer H. E., bei dem ich einige Gedichte kennengelernt habe, die immer noch zu meinen Lieblingsgedichten zählen).

Doch zurück: Wir erleben zur Zeit wirklich schöne Herbsttage, wenn auch nicht ganz so windstill, wie Hebbel es beschrieben hat. Früchte, die vom Baum fallen können, gibt es nicht mehr allzu viele. Selbst die Blätter sind schon arg dezimiert. November halt.

Schön ist es trotzdem, heute wie auch gestern. Den Tag gestern habe ich als Geschenk empfunden: Ich war in Hannover, in der Landesbibliothek, die trotz des partiellen Lockdowns geöffnet ist. Anschließend habe ich am Maschsee gesessen – für Anfang November wirklich außergewöhnlich. Und wenn die Meteorolügen recht haben, soll das Wetter auch noch ein paar Tage so bleiben. Es ist, als habe irgendwer Rainer Maria Rilkes Gedicht Herbsttag, gelesen und würde nicht den Früchten, die Heine gemeint hat, sondern uns Menschen ein paar schöne Tage spendieren.

„gib ihnen noch zwei südlichere Tage“.

Vielleicht ist das schöne Wetter ein kleiner Trost für das Trauerspiel auf der anderen Seite des Atlantiks. Ich verfolge es im Liveblog im Internet, und je länger es dauert, desto pessimistischer werde ich – mehr noch, es macht mir Angst.

Dazu passt ein Gedicht „Der November von Erich Kästner, das ich heute Morgen gefunden habe:

„Ach, dieser Monat trägt den Trauerflor …
Der Sturm ritt johlend durch das Land der Farben.
Die Wälder weinten. Und die Farben starben.“ …

Ich fürchte, dass nicht nur die Farben sterben, wenn in den USA das passiert, was ZDF-Chefredakteur Peter Frey in seinem Kommentar mit einem einen Staatsstreich von oben vergleicht (https://www.zdf.de/nachrichten/politik/us-wahlen-trump-biden-kommentar-frey-100.html).

Ich mag mir gar nicht ausmalen, wie der, dessen Name ich nicht nennen möchte, agiert, wenn er noch vier weitere Jahre regiert. Der Albtraum wird – anders als der November – nicht in 30 Tagen zu Ende sein, sondern uns noch lange begleiten. Und der politische Nebel wird sich nicht so schnell lichten wie der auf dem Bild aus Sankt Andreasberg.

Nebel bei Sankt Andreasberg

Hier die Links zu den Gedichten Herbstbild von Friedrich Hebbel

http://www.gedichtsuche.de/gedicht/items/Herbstbild%20-%20Hebbel,%20Friedrich.html

Herbsttag von Rainer Maria Rilke

http://rainer-maria-rilke.de/06b012herbsttag.html

und Der November von Erich Kästner

https://erich-kaestner-kinderdorf.de/Gedichte/november.htm

In Memoriam

Es gibt Worte und Sätze, die man nie vergisst, die einen begleiten, im Gedächtnis eingebrannt sind. Oft denkt man lange nicht an sie, doch dann kommen sie wieder hervor, wie ein Springteufel, dieses Kinderspielzeug, das aussieht wie eine harmlose Kiste und aus der dann eine Figur herausspringt, meist ein Teufel oder ein Clown.

Manchmal sind es ganz alltägliche Worte, von denen man nicht ahnte, welche Bedeutung sie haben würden, als man sie aussprach. „Man sieht sich“, habe ich vor mehr als 30 Jahren zum Vater eines Mädchens – nennen wir es Jule – gesagt. Jule und meine Tochter waren in der gleichen Trainingsgruppe, und während die Kinder sich beide bis ins Finale er Bezirksmeisterschaften spielten, unterhielt ich mich mit Jules Eltern. Sie wohnten im Nachbarort; wir kannten uns bis dahin nur vom Sehen und hatten nur gelegentlich ein paar Worte gewechselt, wenn wir unserer Töchter abholten. Wir verbrachten einen schönen Nachmittag, verstanden uns prächtig und wollten unser Gespräch bei nächster Gelegenheit fortsetzen.

Als wir am nächsten Tag weder Jule noch ihre Eltern auf dem Tennisplatz trafen, dachte ich mir nichts dabei. Die Anlage ist groß, und unsere Kinder spielten in verschiedenen Altersklassen. Jules Spiel sollte Stunden später stattfinden, als meine Tochter ihr Finale schon gewonnen hatte und wir wieder zu Hause waren.

Am Montag überbrachte meine Tochter die schlimme Nachricht: „Jules Vater ist tot“, sagte sie, als sie vom Training nach Hause kam, und sofort fiel mir siedend heiß ein, wie ich mich verabschiedet von ihm verabschiedet hatte. Und nicht nur mir. „Ich muss immer daran denken, was du zuletzt zu ihm gesagt hast“, sagte Jules Mutter zu mir, als wir uns zum ersten Mal wieder trafen und ich ihr sagte, wie leid es mir tue. Seither meide ich diesen Satz, als hätte er das Unglück heraufbeschworen, und auch noch nach mehr als 20 Jahren zucke zusammen, wenn jemand zu mir sagt „Man sieht sich“.

Als ich hörte, dass Thomas Oppermann gestorben ist, war die Erinnerung an sofort wieder da. Die Nachricht hat mich betroffen gemacht und sie lässt mich irgendwie nicht los. Ich kannte Thomas Oppermann nicht persönlich, nur aus dem Fernsehen. Er war mir sympathisch, ich schätzte ihn als Politiker, mochte seine Art, zu diskutieren. Vielleicht hätte ich mir deshalb auch die Sendung angesehen, bei der er auftreten sollte. Doch dazu kam es nicht mehr.

Man sieht sich leider nicht immer.

PS: Ich habe lange überlegt, welchen Titel ich diesem Beitrag geben sollte, und ich habe den Satz, um den es geht, hingeschrieben und wieder gelöscht. Er ist für mich eine Art Voldemort, etwas, das ich nicht aussprechen mag. Ich habe den Text in Memoriam genannt – Reminiszenz an Jules Vater, an Thomas Oppermann, an drei Trainingskameraden, die in den vergangenen Jahren gestorben sind, und an ein Buch von Connie Palmen, das ich sehr mag.