Alles schmeckt nach Abschied …

Der Titel der Tagebücher von Brigitte Reimann spukt ständig in meinem Kopf, seit wir Anfang Dezember für meine Mutter einen Platz im Altenheim bekommen haben. Weihnachten und Silvester, da waren meine Schwestern und ich uns einig, sollte sie noch zu Hause, an der Mosel verbringen, Mitte Januar ist sie in ein Altenheim in Norddeutschland umgezogen.

„Hast du es dir das wirklich gut überlegt“, fragt Herr B. ein Nachbar und ehemaliger Arbeitskollege meiner Mutter. Er ist gekommen ist, um sich von ihr  zu verabschieden. Ich unterdrücke den Impuls, ihn zu erwürgen. Denn eigentlich mag ich den alten Herrn und er mag mich. Er hat mir wahrscheinlich mal das Leben gerettet, das verbindet. Er hat mich mit dem Auto seines Chefs ins Krankenhaus gebracht, als mein Blinddarm geplatzt war. Hätten wir auf den Krankenwagen gewartet, wäre es vielleicht zu spät gewesen.

Das ist mehr als ein halbes Jahrhundert her, ich war damals 10 Jahre alt, jetzt bin ich über 60 und er ist 95. Dass er immer noch in seiner Wohnung leben kann, verdankt Herr B. seiner Schwiegertochter. Sie hat ihn mit dem Auto die paar Meter zu unserem Haus gefahren, weil er nicht mehr alleine aus dem Haus gehen kann. Sie kümmert sich um ihn, wäscht, kauft ein und ist im Notfall zur Stelle, wenn er – wie vor ein paar Wochen – ins Krankenhaus muss. Sie lebt im gleichen Haus wie ihr Schwiegervater, da geht das. Meine Schwestern und ich wohnen Hunderte Kilometer von unserem Heimatort, dem Wohnort meiner Mutter, entfernt.

Seit zehn Jahren, seit die Demenz meines Vaters schlimmer wurde und meine Mutter, damals auch schon über 80, Hilfe bei der Pflege brauchte, fahren meine Schwestern und ich abwechselnd an die Mosel und bleiben dort ein paar Tage bis zwei Wochen, um sie zu unterstützen. Doch jetzt stoßen wir an unsere Grenzen. Denn das Gedächtnis meiner Mutter hat in den letzten Monaten so stark nachgelassen, dass sie – anders als bisher – zwischen unseren Besuchen nicht mehr alleine leben kann. Und weil sie meint, dass sie noch alles selbst machen kann, gefährdet sie sich selbst und andere. So hat sie mehr als einmal den Herd vergessen und auch auf den losheulenden Rauchmelder nicht reagiert. In den letzten Wochen war ständig eine von uns bei ihr, aber auf Dauer geht das nicht. Wir sind berufstätig, habe unsere eigenen Leben.

Nein, die Entscheidung, unsere Mutter in ein Heim zu geben, ist uns nicht leicht gefallen und wir haben sie uns nicht leicht gemacht. Einen alten Baum verpflanzt man nicht. Meine Mutter ist zwar nicht die älteste im Dorf, aber niemand hat dort länger gelebt als sie. Alle, die älter sind, sind später in den Ort gezogen. Sie ist hier geboren und eigentlich wollte sie auch hier sterben. Mit ihrem Umzug geht eine Ära zu Ende, auch für die Nachbarn, die am letzten Morgen noch einmal kommen, um sich von ihr zu verabschieden. Sie sind traurig, und manchen kommen die Tränen, aber sie wissen alle, dass es keine andere Möglichkeit gibt.

Das Heim, das wir für meine Mutter ausgesucht haben, liegt nur ein paar Kilometer von meinem Wohnort entfernt. Es ist klein, familiär; ihr Zimmer ist groß und freundlich. Die Atmosphäre im Haus hat mir von Anfang an gefallen. Mein erster Eindruck war: Hier würde ich auch einziehen. Nicht nur ich, auch meine Schwestern und ihre Enkelkinder können sie hier regelmäßig besuchen. Das ist wichtigm denn an  der Mosel hat sie sich oft einsam gefühlt, obwohl sie dort viele Leute kennt und die Nachbarschaft funktioniert. Aber all ihre Freundinnen sind inzwischen gestorben  oder schon vor Jahren in Heime umgezogen  – in die Nähe ihrer Kinder, unerreichbar für meine Mutter. Der Umzug ist die beste Lösung für sie, da bin ich sicher. Und trotzdem plagt mich das schlechte Gewissen.

Ich habe die letzte Woche vor ihrem Umzug mit meiner Mutter an der Mosel verbracht und manchmal hatte ich das Gefühl, dass mir der Abschied mehr zu schaffen machte als ihr. Sie, die immer alles geplant und die Entscheidungen getroffen hat, hat sich  nie ernsthaft mit der Frage auseinandergesetzt, was ist, wenn sie nicht mehr allein leben kann. Und sie hat es meinen Schwestern und mir überlassen, ihre Sachen zu packen, die Möbel und Dinge auszuwählen, die sie in ihr neues Heim mitnimmt.

Ihr war, und das ist der Vorzug der Demenz, meist wohl gar nicht klar, was es bedeutet. Dass es nicht nur ein Ortswechsel auf Zeit ist, sondern für immer. Dass sie nie wieder in das Haus zurückkehren wird, das sie und mein Vater gebaut haben, in den Ort, in dem sie über 90 Jahre gelebt hat. Alles schmeckt nach Abschied, doch anders als bei Brigitte Reimann ist es ein Abschied auf Raten.*

 

*Die Schriftstellerin Brigitte Reimann starb 1973, mit 40 Jahren, an Krebs. Die Tagebücher aus den Jahren 1964 bis 1970 wurden unter dem Titel „Alles schmeckt nach Abschied“ veröffentlicht.

Anders leben als gewohnt

Wie möchte ich leben, wenn ich alt bin (richtig alt, meine ich, nicht „erst 60“)? Diese Frage stelle ich mir seit Jahren, nicht nur, aber vor allem dann, wenn ich bei meiner Mutter bin oder war. Denn eins weiß ich sicher: so nicht (obwohl ich mir wünsche, noch so fit zu sein, wenn ich mal so alt bin).

Meine Mutter lebt seit dem Tod meines Vaters allein. Und sie möchte  nicht weg aus dem Haus, das sie und mein Vater gebaut haben und das für sie allein eigentlich zu groß ist. Aus dem Dorf, in dem sie geboren wurde, wo sie immer gelebt hat. Dort will sie – wie mein Vater – auch sterben.

Natürlich verstehe ich das: Dort ist sie verwurzelt, die Nachbarn sind nett, kümmern sich und helfen, wenn  es nötig ist: Sie rollen die Mülltonne auf die Straße, kaufen für sie ein, wenn sie sich im Winter bei Schnee und Eis mal nicht aus dem Haus wagt. Sie wird zu Feiern eingeladen und wenn meine Mutter morgens einmal nicht wie gewohnt die Rollläden hochziehen würde, käme sicher sofort jemand vorbei, um nach dem Rechten zu sehen.

Und trotz der funktionierenden Nachbarschaft fühlt sich meine Mutter oft einsam. Denn ein bisschen ist es wie bei Miss Sophie im Dinner for one – nur dass sie keinen helfenden Butler hat. Meine Mutter ist 92 – und die meisten ihrer Freundinnen und Bekannten  sind tot oder leben in diversen Altersheimen. Nicht in dem Ort, wo meine Mutter wohnt,  weil es dort kein Altenheim gibt, sondern irgendwo in der Nähe ihrer Kinder. Unerreichbar für meine Mutter, weil sie keinen Führerschein hat, die öffentlichen Verkehrsmittel an der Mosel ein Katastrophe sind und weil sie überdies Schwierigkeiten hätte,  mit ihrem Rollator in den Bus einzusteigen, wenn es denn vernünftige Verbindungen gäbe.

Meinen Vorschlag, sie solle mit ihrer Freundin zusammenziehen, die ebenfalls alleine in ihrem Haus lebte, haben beide Frauen abgelehnt. Dabei wäre im Haus meiner Mutter genügend Platz gewesen: Beide hätten eine eigene Wohnung gehabt und unterm Dach genügend Platz für Besuche ihrer Kinder, die alle nicht im Ort wohnen. Und für eine Polin oder Rumänin, die sich dann um beide Frauen hätte kümmern können. Hätte, denn inzwischen lebt Johanna in einem Altenheim, weil sie nicht mehr alleine leben konnte.  Dort fühlt sie sich sehr wohl, obwohl sie freiwillig nie dorthin gezogen wäre.

Ein Altenheim kommt für meine Mutter gar nicht in Frage, schließlich kommt sie noch gut alleine klar. Aber auch in eine betreute Wohnanlage möchte sie nicht umziehen. Dabei könnte sie dort noch lange selbstständig leben. In einer eigenen Wohnung, in der Nähe ihrer Kinder und Enkel und unter einem Dach mit anderen alten Leuten, die wie sie selbst noch recht fit sind, mit denen sie sich treffen, austauschen und gelegentlich etwas unternehmen könnte.

Gemeinsam mit anderen unter einem Dach, aber doch selbstständig – das halte ich für  ideal, nicht nur für meine Mutter, sondern in ein paar Jahren auch für mich. Und wie mir geht es vielen in meinem Bekanntenkreis, vor allem den Frauen. Denn die meisten möchten „später“ nicht allein in ihrem Haus wohnen und auf die Unterstützung ihrer Kinder angewiesen sein. Sie wollen es anders machen, als sie es bei ihren Eltern erlebt haben. Die  haben nämlich meist irgendwie weitergemacht wie gewohnt, bis andere, meist ihre Kinder, für sie entschieden haben, dass es so nicht mehr geht, sie zu sich genommen oder für sie einen Platz in einem Heim gesucht haben. Manche sind auch zu Hause gestorben, wie sie es sich gewünscht haben. Aber das  funktionierte oft nur, weil ihre Kinder sich um sie gekümmert, sie dort gepflegt oder doch unterstützt haben.

Das wird in meiner und in den kommenden Generationen nicht mehr möglich sein. Viele meiner Bekannten haben keine Kinder oder nur ein Kind, das mit dieser Aufgabe allein sicher überfordert wäre. Und auch die, die zwei, drei oder mehr Kinder haben, möchten  ihre Kinder nicht belasten.

Auch deshalb gibt es immer mehr Wohnprojekte von und für alte Menschen; auch Beginenhöfe erleben eine Renaissance. In Deutschland gibt es  inzwischen wieder mehr als 20 dieser Wohnprojekte für Frauen. Wer mehr darüber erfahren will, findet einen Artikel von mir in der Online-Zeitschrift  www.wohnwerken.de (Frauenpower: In der Ruhe liegt die Kraft)

https://issuu.com/schluetersche/docs/wohnwerken_02?e=25375043/41917338

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Beginenhof in Bremen
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Beginenhof Bielefeld, Innenhof

Wie geht es deiner Mutter?

… heißt heute die Standardfrage in meinem Bekanntenkreis. Denn viele Freunde und Bekannte haben – oder hatten bis vor Kurzen – Väter, Mütter, Eltern und/oder Schwiegereltern, um die sie sich kümmern oder die sie gar betreuen (lassen) müssen. Das Thema Kinder, lange Zeit Gesprächsthema Nummer 1, ist meist vergleichsweise schnell abgehakt: Unsere Kinder sind groß, haben ihr Studium oder die Ausbildung meist schon abgeschlossen. Sie stehen auf eigenen Füßen und leben ihr eigenes Leben. Und wenn ich früher darüber gestöhnt habe, wie schwierig es ist, Kind und Job unter einen Hut zu bringen, weiß ich heute: Im Vergleich zur Betreuung der alten Eltern war die Betreuung der Kinder ein Kinderspiel.

Kleine Kinder leben bei ihren Eltern, alte Eltern leben dagegen oft weit von ihren erwachsenen Kindern entfernt. Die Fahrt zu meiner Mutter an die Mosel dauert etwa ebenso lang wie ein Flug auf die Kanarischen Inseln oder nach Nordnorwegen. Die Kinder kommen irgendwann in den Kindergarten, dann in die Schule. Für alte Menschen gibt es zu wenige gute Betreuungsangebote – außerdem wollen die meisten von Altenheimen, Tagespflege oder anderen Möglichkeiten nichts wissen. Ein Umzug – ob ins Altenheim, eine betreute Wohnung oder nur in den Wohnort der Kinder kommt für die meisten nicht in Frage: Ein alter Baum lässt sich bekanntlich nicht leicht verpflanzen. Und anders als unsere Kinder, für die wir einfach entscheiden konnten und mussten, entscheiden unsere Eltern selbst über ihr Leben – und damit auch über unseres. Denn wenn die Eltern nicht mehr ganz alleine zurechtkommen und unsere Hilfe brauchen – oder wenn wir das Gefühl haben, dass dies der Fall ist -, werden ihre Probleme (auch) unsere.

Was tun, wenn der demente Vater partout nicht einsieht, dass er nicht mehr Auto fahren kann und er eigentlich Führerschein und Auto abgeben müsste? Wenn die Mutter weiter allein in ihrem Haus leben will, das eigentlich viel zu groß geworden ist. Diese Fragen einen uns alle: Singles und Paare, Eltern und Kinderlose.

Eine Bekannte pendelt derzeit zwischen zwei Altenheimen hin und her, weil für ihre Eltern auf die Schnelle kein Platz in einem Heim zu finden war. Ihr Vater hatte sich jahrelang um seine schon pflegebedürftige Frau gekümmert. Als er irgendwann nach einer Operation selbst pflegebedürftig wurde, war es zu spät. Eine Freundin fuhr jahrelang jedes zweite Wochenende von Berlin, wo sie wohnt und arbeitet, nach Süddeutschland, um ihren Vater bei der Pflege ihrer alzheimerkranken Mutter zu entlasten. Meine Mutter kommt noch gut alleine zurecht: Sie  kauft ein, kocht, wäscht und bügelt; nur fürs Putzen hat sie eine Hilfe. Trotzdem fahren meine Schwestern und ich seit Jahren abwechselnd einmal im Monat für mehrere Tage an die Mosel, um ihr Gesellschaft zu leisten, nach dem rechten zu sehen und die Dinge zu erledigen, die mit 92 eben nicht mehr so leicht fallen: Gartenarbeit beispielsweise oder Gardinen waschen.

Früher war das einfacher: Im Haus meiner Eltern lebten meine Oma und zwei Großtanten – in eigenen kleinen Wohnungen, zwei von ihnen weitgehend selbstständig, bis sie über 80-jährig starben. Meine Mutter kümmerte sich um ihre Mutter und ihre Tanten, kaufte ein war im Notfall einfach da. Das war sicher anstrengend, aber es war auch beruhigend, für alle Beteiligten. Und es war machbar, weil alle im gleichen Ort wohnten und in dem Haus genug Platz war. Heute sind die Häuser und Wohnungen kleiner, die Ansprüche und die Entfernungen dafür umso größer.

Meine Schwestern und ich leben eben nicht mehr am gleichen Ort wie meine Mutter, sondern an verschiedenen Orten am anderen Ende der Republik. Vielen meiner Bekannten geht es ähnlich. Und so pendeln wir zwischen unseren Eltern und unserem eigenen Leben und fragen uns gegenseitig: „Wie geht es deinen Eltern?“