Auch im April habe ich die Blickwinkelfotos wieder auf den letzten Drücker gemacht, doch diesmal habe ich einen guten Grund – oder soll ich sagen einen guten Vorwand. Ich habe gehofft, dass die Umbauarbeiten am Springhorstsee bis zum Ende des Monats beendet werden. Aber leider ist der Zugang zum Springhorstsee immer noch gesperrt, die neuen Besitzer lassen sich mit der Umgestaltung Zeit. Warum auch nicht. Das neue Café Frida am See darf coronabedingt noch nicht öffnen, und auch das Strandbad bleibt wohl noch ein paar Wochen geschlossen. Nachttemperaturen um den Gefrierpunkt laden derzeit noch nicht zum Baden ein.
Doch auch der Blick aus der zweiten Reihe zeigt, dass sich nicht nur die Natur verändert: Weißer Sand vor dem Café vermittelt jetzt Strandfeeling. Der Schwan ist umgezogen; mit ihm können die Gäste des Cafés vielleicht schon bald in See stechen. Mit der Ruhe ist es dann wohl zumindest an den Wochenenden vorbei.
Am Pöttcherteich ist dagegen auf den ersten Blick alles, wie es schon im März war: Die beschnittenen Weiden sind immer noch kahl – und wie in jedem Jahr fürchte ich, dass sie in diesem Jahr nicht austreiben. Doch eigentlich weiß ich, dass ich nur Geduld haben muss; Gras wächst bekanntlich nicht schneller, wenn man daran zieht – und Weiden nicht, wenn man ungeduldig darauf wartet. Immerhin lassen die unbeschnittenen Weiden am gegenüberliegenden auch aus der Distanz das erste zarte Grün erahnen: Es wird Frühling.
Die Weide am Pöttchertich am Mittag und am späten Nachmittag
Heinrich Heine war hier – wie viele seiner Dichterkollegen seit dem 18. Jahrhundert. Auch Friedrich Gottlieb Klopstock, Hermann Löns, Theodor Fontane, Wilhelm Raabe und natürlich Johann Wolfgang von Goethe haben den Harz besucht – Letzterer sogar mehrmals. Ob Goethe auch durchs Ilsetal gewandert ist, weiß ich nicht. Er war auf seiner ersten Harzreise auf jeden Fall ganz in der Nähe – auf dem Brocken. Er hat den höchsten Berg Norddeutschlands zwar von der anderen Seite, von Torfhaus aus, erklommen; die Geister lässt er jedoch in Faust, der Tragödie erster Teil, „Übern Ilsenstein!“ – also übers Ilsetal – zum Hexentanzplatz auf dem Blocksberg fliegen.
Den Brockengipfel im Blick
Heine hat 1824 auf seiner Wanderung von Göttingen durch den Harz den umgekehrten Weg vom Brocken durch das Ilsetal hinunter nach Ilsenburg genommen – allerdings zu Fuß. Und er hat der lieblichen, süßen Ilse in seinem Reisebericht ein literarisches Denkmal gesetzt.
Heinricht Heine – rechts das Original, links die modernisierte Variante
Mit Heines Beschreibung könnte meine ohnehin nicht konkurrieren, deshalb lasse ich ihn hier zu Wort kommen. „Es ist unbeschreibbar, mit welcher Fröhlichkeit, Naivität und Anmut die Ilse sich hinunterstürzt über die abenteuerlich gebildeten Felsstücke, so daß das Wasser hier wild emporzischt und unten wieder über die kleinen Steine hintrippelt, wie ein munteres Mädchen. Ja, die Ilse ist eine Prinzessin, die lachend und blühend den Berg hinabläuft“, heißt es in der Harzreise.
Einen Höhenunterschied von etwa 120 Metern überwindet der Bach, der unterhalb des Brockengipfels entspringt, auf einem Streckenabschnitt von etwas mehr als einem Kilometer; ein kleiner Wasserfall reiht sich kaskadenartig an den anderen. Wo beispielsweise die unteren Ilsefälle beginnen und die oberen enden – und umgekehrt – war für uns nicht zu erkennen. An unserer Begeisterung hat das nichts geändert.
Der nach Heinrich Heine benannte Wanderweg ist, da bin ich sicher, zumindest im unteren Teil der schönste Weg zum Brocken, und einer der schönsten Wege, die ich im Harz bislang gewandert bin. Zwar gibt es in dem idyllischen Bachtal keine grandiosen Ausblicke, aber die Ilse entschädigt.
Der Weg schlängelt sich direkt an ihrem Ufer entlang, vorbei an mächtigen Granitfelsen, zum Beispiel am gut 470 m hohen Ilsestein. Wie die Ilse müssen wir über manche Steine klettern, und das sieht sicher weder bergauf noch bergab so leicht und anmutig aus wie bei der Ilse. Doch die übt, anders als wir, ja auch täglich, seit ewigen Zeiten.
Der Ilsestein von unten – und Rast auf einem großen Stein in der Ilse
Kein schöner, sondern ein eher deprimierender Anblick sind die Bäume am oberen Teil des Wegs, etwa ab der Bremer Hütte, wo der Buchenwald endet und der Fichtenwald beginnt. Oder begann. Denn wo Heine einst von einer „Waldung himmelhoher Tannen“ umfangen wurde, sind heute nur noch Baumgerippe zu sehen.
Das Sterben und Leben der Bäume im Harz
Klimawandel, Stürme und der Borkenkäfer haben ganze Arbeit geleistet. Sie hatten aber auch in den Fichtenmonokulturen leichtes Spiel. „Diesen Bäumen ist nämlich das Wachsen nicht so ganz leicht gemacht worden“, schrieb Heine schon vor fast 200 Jahren. „Die meisten Bäume mußten mit ihren Wurzeln die großen Granitblöcke umranken und mühsam den Boden suchen, woraus sie Nahrung schöpfen können.“ Tröstlich ist, dass die Natur den Wald zurückerobert – sie baut die menschengemachten Fichtenwälder um zu einem wilden Naturwald – wie anno dazumal, noch vor Heines Zeiten.
Laut Nationalpark Harz ist der Wald so lebendig und dynamisch wie selten zuvor – 20 bis 30 Prozent der im Wald lebenden Arten brauchen Totholz zum Leben. Und davon gibt es genug. Neue Bäume und andere Pflanzen wachsen auf und zwischen den alten. Die Natur nutzt die Chance, die das Fichtensterben ihr bietet. Vielleicht können und sollten wir von ihr lernen. Irgendwann werden wir dem Borkenkäfer vielleicht dankbar sein.
Bis auf den Brocken sind wir dieses Mal nicht gegangen – wir haben bei der Stempels Buche, von der leider auch nur noch ein Stumpf steht, kehrtgemacht. Vielleicht wandern wir bei unserem nächsten Besuch im Ilsetal weiter. Wahrscheinlich zieht es uns aber eher zur Plessenburg und zur Paternosterklippe und wir besuchen Prinzessin Ilse auf dem Ilsestein. Dort wohnt die Tochter König Ilsungs, nach der Bach, Ort, und Tal benannt sind, nämlich angeblich, seit ein Berggeist sie vor vielen, vielen Jahren vor dem Fluch einer bösen Hexe und vorm Ertrinken gerettet hat. Oder wir wandeln auf den Spuren des Borkenkäfers, dem in Ilsenburg sogar ein eigener Pfad – der Borkenkäferpfad – gewidmet ist.
Die Sage um die Prinzessin Ilse steht im Internet unter
Manchmal denke ich, ich bin für solche Touren zu alt. Oder nicht mehr fit genug. Zum einen natürlich, weil ich so alt bin. Zum anderen aber auch, weil ich – anders als früher – nicht genug, genauer gesagt gar nicht mehr trainiere. Das Ziel, jeden Tag 10.000 Schritte zu gehen, erreiche ich leider bei weitem nicht jeden Tag. Und so hat mich die Wanderung am vergangenen Sonnabend schon ans Limit gebracht – allerdings weniger wegen der Strecke, die wir zurückgelget haben, sondern mehr, weil wir die meiste Zeit durch den hohen Schnee gewandert sind.
Unberührte Wege
Der lag mindestens kniehoch, und zeitweise waren wir die ersten Menschen, die dort gegangen sind, seit es geschneit hatte. Nur auf den ersten und letzten Kilometern konnten wir in die Fußstapfen anderer Wanderer treten. Manchmal sind wir den Spuren von Rehen oder Hirschen gefolgt, die aber offenbar nicht geradeaus gehen, wie wir Menschen es tun, sondern sich in Schlangenlinien bewegen. Warum, ist uns ein Rätsel. Betrunken waren sie sicher nicht; vielleicht folgen sie uralten Pfaden, umkreisen Bäume, die einmal dort gestanden haben, ehe wir Menschen sie gefällt haben, um für uns einen Weg durch den Wald anzulegen.
Tief verschneit: der Wegweiser zu unserem Ziel
Eigentlich wollten wir bis zur Marienteich, einem kleine See bei Torfhaus, wandern. Doch diesen Plan haben wir schon nach den ersten Metern im tiefen Schnee aufgegeben. Ich wäre wahrscheinlich schon nach dem ersten Kilometer umgekehrt, doch meine Begleiterin zog es zum Radauwasserfall – und sie zog mich mit. Zum Glück. Denn die verschneite Landschaft war wirklich wunderschön – und schließlich waren es laut Wanderapp ja bis zum Wasserfall nur fünf oder sechs Kilometer. Doch für die brauchten wir mehr als doppelt so lange wie bei „normalen“ Witterungsverhältnissen.
Der Brocken im Blick
Zum Glück stapfte Foe meist tapfer voran und bahnte mir einen Weg – 30 Jahre weniger und etliche Wanderkilometer mehr machen sich halt doch bemerkbar. Außer uns war niemand unterwegs – wir waren ganz allein und mir ist beim Gehen durch den tiefen Schnee wieder einmal bewusst geworden, wie klein wir Menschen in der Natur sind – und wie hilflos wie ihr ausgeliefert sind.
Menschen haben wir erst wieder am Radauwasserfall getroffen, doch die waren, anders als wir, mit dem Auto gekommen, um das im Herabstürzen gefrorene Wasser zu bewundern – ein wirklich beeindruckender und in den letzten Jahren seltener Anblick.
Bizarr und beeindruckend
Dass wir vom Wasserfall wieder zurück nach Bad Harzburg mussten, hatte ich völlig verdrängt – und auch, wie lang dreieinhalb Kilometer sein können, wenn man müde wird und die Beine schwer. Und wenn der Schnee kniehoch liegt.
„Sei froh, dass du hier wandern kannst“, habe ich mir immer wieder gesagt. „Bin ich, nachher“, hat mein weniger leidensfähiges Ich geantwortet. Irgendwie musste ich an meinen ersten Marathonlauf denken, als ich kurz vor dem Ziel erschöpft aufgeben wollte – und es natürlich nicht getan habe. Hier war Aufgeben ohnehin keine Option – schließlich mussten wir ja nach Hause, und zwar zu Fuß.
Das dauerte länger als geplant, und am Ende war ich wirklich platt. Wie gesagt: Manchmal denke ich, ich bin für solche Touren zu alt. Oder nicht mehr fit genug. Aber es hat Spaß gemacht, und es war ein tolles Gefühl, durchgehalten zu haben. Und ich finde es schade, dass dies wohl die letzte Schneewanderung in diesem Winter war.
Seit Februar fahre ich regelmäßig zu dem kleinen See bei Kleinburgwedel, um ihn aus immer den gleichen Blickwinkeln zu fotografieren. Selten habe ich so viele Menschen hier gesehen. Wenn die Läden geschlossen sind, zieht’s die Menschen in die Natur: Seespaziergang statt Shopping. Leider kommen die meisten mit dem Auto statt mit dem Fahrrad; der kleine Parkplatz ist voll, die Fahrradständer sind dagegen fast leer.
Der See hat sich seit Anfang des Jahres verändert, aber das passt ja zu dem Jahr, in dem sich unser Leben so drastisch verändert hat. Nur dort, wo der Rundweg um den See beginnt und endet, scheint die Seewelt noch halbwegs in Ordnung.
Weil der Seeboden dort tiefer ausgebaggert wurde, gibt es dort noch eine – die einzige – zusammenhängende Wasserfläche. Aber sie bedeckt nicht einmal ein Viertel der Seefläche, sie reicht gerade mal bis zu dem Steg, auf dem die Badende sitzt. Vielleicht steigt sie doch noch mal herab und nimmt ein Bad. Es könnte die letzte Gelegenheit sein.
Normalerweise steigt der Wasserspiegel in den Herbst- und Wintermonaten wieder, der See erholt sich nach den trockenen Sommermonaten. Doch jetzt ist er bis auf wenige Wasserlöcher ausgetrocknet – und das wird sich wohl auch nicht mehr ändern. Zu tief ist der Grundwasserspiegel rund um den See gesunken; geregnet hat es in den letzten Monaten nur selten: Wasser in den See zu pumpen wäre, als schütte man es in ein Fass ohne Boden oder in eine Badewanne, aus der der Stöpsel gezogen wurde.
Das Boot auf der gegenüberliegenden Seeseite erreicht man inzwischen auch ohne Steg trockenen Fußes. Und einige Spaziergänger gehen nicht wie gewohnt um den See, sondern durch den See.
Die tierischen Ureinwohner – Torffresser, Fuchs, Hase, Kröte, Eisvogel und Reiher – lassen sich dadurch scheinbar nicht aus der Ruhe bringen. Sie harren an ihren Plätzen aus, denken sich wahrscheinlich nur den Teil. Ihre lebenden Verwandten haben den See verlassen. Ob sie wohl wiederkommen im nächsten Jahr, an den See, der kein See mehr ist?
Ich werde es beobachten, wenn ich den See im neuen Jahr fotografiere – jeden Monat, aus neuen Blickwinkeln.
Fast zwei Monate sind seit der Wanderwoche in der Sächsischen Schweiz vergangen, gewandert bin ich seitdem nicht mehr. Im norddeutschen Flachland beschränke ich mich derzeit auf Spaziergänge. Doch weil wir ohnehin in den Harz mussten, habe ich das Angenehme mit dem Nützlichen – sprich einer Halbtageswanderung – verbunden.
Anders als an den Tagen zuvor versteckte sich die Sonne hinter dichtem Nebel, doch auch der hat seinen Reiz. Es war, als sei die Welt in Watte gehüllt und die Farben aus ihr verschwunden. Unsere Jacken und mein blau-grüner Rucksack waren die einzigen Farbtupfer im herbstlich-nebeligen Braun-Grau.
Wanderin im Nebelwald. Foto: Foe Rodens
Und es war still, sehr still. „Im Nebel ruhet noch die Welt,/Noch träumen Wald und Wiesen“, dichtete Eduard Mörike 1838. Der Wald wirkte geheimnisvoll, fast mystisch: Wären zwischen den Nebelschwaden Elfen, Hexen oder andere Fabelwesen aufgetaucht oder wären die Bäume wie die Ents, die Baumwächter, und die Huorns, die Baumgeister, in Tolkiens Herr der Ringe zum Leben erwacht, hätte ich mich nicht gewundert.
Und auch Hermann Hesses Gedicht „Im Nebel“, kam mir in den Sinn, von dem ich nur noch die erste Zeile kannte: „Seltsam, im Nebel zu wandern“. Doch dank world wide web war es kein Problem, mitten im Wald das Gedicht auf dem Smartphone abzurufen und meiner Begleiterin vorzulesen. Wir hatten unterwegs nur wenige Menschen getroffen, doch passend zur letzten Strophe tauchte, just als ich mit dem Vorlesen fertig war, aus dem Nebel ein einsamer Wanderer auf. Ob er das Gedicht gehört hatte, weiß ich nicht, ebenso wenig, ob er einsam war – er schaute auf jeden Fall ein bisschen irritiert.
Rabenklippen bei Bad Harzburg und Teich am Molkenhaus
Die Sonne haben wir übrigens auch noch gesehen: Zwar hat sich der Nebelschleier – anders am von Mörike beschriebenen Septembermorgen – nicht ganz gelichtet. Schließlich ist es ja auch schon Ende November. Aber die Sonne blinzelte mittags gelegentlich hervor und gab zum Beispiel den Blick auf die Rabenklippen frei. Die vielen abgestorbenen Fichten im Tal blieben indes unseren Blicken weitgehend verborgen, gnädig eingehüllt vom Nebel.
Es hat also auf jeden Fall seinen Reiz, im Nebel zu wandern.
Wer das Gedicht von Hermann Hesse nachlesen will, findet es unter
Die Meteorologen prophezeien schlechtes Wetter. Und bevor der Novemberfrühling – der gefühlte Frühling im Herbst – endet, fahre ich mit dem Rad zum Würmsee, um meine Chronistenpflicht zu erfüllen und den See, der eigentlich keiner mehr ist, aus immer den gleichen Blickwinkeln zu fotografieren.
Ein wenig Wasser mehr ist da als bei meinem letzten Besuch vor gut zwei Wochen, so scheint es. Oder wirkt alles nur viel freundlicher, weil heute die Sonne scheint? Denn auch dieser Sonntag macht seinem Namen alle Ehre; die herbstlich gelben Blätter leuchten im Sonnenlicht. So macht November Spaß.
Auch die Badende genießt das ungewöhnlich schöne Wetter. Ich leiste ihr ein bisschen Gesellschaft: Ich mache es mir auf einer der beiden Holzliegen bequem – allerdings nicht im Badeanzug, sondern im Anorak – und lege eine Schreibpause ein. Wie oft kann man das schon Mitte November? Auf einen Kaffee muss ich verzichten; die Gaststätte am Seeufer ist geschlossen – nicht nur, weil die Saison vorbei ist, sondern vielleicht für immer.
Den Torffressern geht das frische Grün allmählich aus – das Gras um sie herum ist herbstlich braun und die Bäume sind fast kahl. Aber sie haben keine Angst vor dem bevorstehenden Winter. Denn sie haben ihre Schaufeln, mit denen sie nach Nahrung graben können, immer dabei. Torf werden sie aber nicht mehr finden. Der Torf ist längst abgebaut und auch die Moore gibt es nicht mehr. Die Landwirte haben das Land ringsum entwässert – und damit ungewollt auch den Würmsee.
Das Boot – im Sommer mein Lieblingsplatz – lädt nicht mehr zum Verweilen ein: zu trostlos der Anblick auf den fast wasserlosen See. Grün- und Matschfläche statt Wasserfläche.
Die fünf von der Bank stört es nicht. Vielleicht nutzen sie die Gelegenheit, abends, wenn alle Besucher verschwunden sind, auf dem kürzesten Weg, quer durch den See, zum gegenüberliegenden Ufer zu gehen und dort ihre Freunde, die Torffresser, zu besuchen.
Der erste Eindruck trügt. Vom Parkplatz sieht der Würmsee schon fast wieder wie ein See aus. Der Bagger ist verschwunden. Doch mehr als eine große Pfütze ist der See nicht – trotz der Vertiefung und obwohl es in den letzten Tagen teilweise heftig geregnet hat. Die Aussicht passt zu diesem Herbsttag: eher grau und trübe.
Die Badende könnte immerhin ihre Füße benetzen, doch sehr einladend sieht das Wasser nicht aus. Sie wird nicht vom Steg heruntersteigen, da bin ich mir sicher.
Die Pfähle des Stegs und das Boot auf der anderen Seeseite ragen weit aus dem trockenen Boden. Es ist, als habe man den Stöpsel gezogen, wie in einer Badewanne. Und das hat man ja auch. Die Moore ringsum sind trocken, zu wenig Grundwasser, kein Wasser im See.
Auf dem Trockenen
Auch der begehbaren Pegel endet längst nicht mehr im Wasser, sondern auf dem ausgetrockneten Seegrund.
Ausgetrocknet …
Ich fühle mich an Naturfilme aus Afrika erinnert, wo sich Tier um austrocknende Wasserlöcher scharen: Fast rechne ich damit, dass ein paar Gnus herantraben. Hier sind es nur die roten Torffresser, die Letzten ihrer Art, und ein einsamer Reiher, die ihren Hunger stillen. Zumindest der Reiher findet in den Wasserresten offenbar noch genügend Nahrung.
Fauna am Würmsee: Roter Torffresser, Graureiher …
Vielleicht wartet er, bis sich der Reiher auf der Bank entschließt, mit ihm zu gehen pardon, zu fliegen. Doch der hat das Fliegen, so scheint es, schon lange verlernt. Oder er will seine Freunde nicht im Stich lassen, den Fuchs, den Hasen, den Eisvogel und die Kröte. Sie sitzen wie immer auf ihrer Bank und schauen dorthin, wo mal Wasser war. Doch trotz des eher traurigen Ausblicks wirken sie zufrieden. Vielleicht vertrauen sie darauf, dass es irgendwann wieder besser wird. Und vielleicht kennen sie schon die Antwort auf die Frage, die auf ihrer Bank geschrieben steht. Was brauche ich für mein Leben?
Es gibt Worte und Sätze, die man nie vergisst, die einen begleiten, im Gedächtnis eingebrannt sind. Oft denkt man lange nicht an sie, doch dann kommen sie wieder hervor, wie ein Springteufel, dieses Kinderspielzeug, das aussieht wie eine harmlose Kiste und aus der dann eine Figur herausspringt, meist ein Teufel oder ein Clown.
Manchmal sind es ganz alltägliche Worte, von denen man nicht ahnte, welche Bedeutung sie haben würden, als man sie aussprach. „Man sieht sich“, habe ich vor mehr als 30 Jahren zum Vater eines Mädchens – nennen wir es Jule – gesagt. Jule und meine Tochter waren in der gleichen Trainingsgruppe, und während die Kinder sich beide bis ins Finale er Bezirksmeisterschaften spielten, unterhielt ich mich mit Jules Eltern. Sie wohnten im Nachbarort; wir kannten uns bis dahin nur vom Sehen und hatten nur gelegentlich ein paar Worte gewechselt, wenn wir unserer Töchter abholten. Wir verbrachten einen schönen Nachmittag, verstanden uns prächtig und wollten unser Gespräch bei nächster Gelegenheit fortsetzen.
Als wir am nächsten Tag weder Jule noch ihre Eltern auf dem Tennisplatz trafen, dachte ich mir nichts dabei. Die Anlage ist groß, und unsere Kinder spielten in verschiedenen Altersklassen. Jules Spiel sollte Stunden später stattfinden, als meine Tochter ihr Finale schon gewonnen hatte und wir wieder zu Hause waren.
Am Montag überbrachte meine Tochter die schlimme Nachricht: „Jules Vater ist tot“, sagte sie, als sie vom Training nach Hause kam, und sofort fiel mir siedend heiß ein, wie ich mich verabschiedet von ihm verabschiedet hatte. Und nicht nur mir. „Ich muss immer daran denken, was du zuletzt zu ihm gesagt hast“, sagte Jules Mutter zu mir, als wir uns zum ersten Mal wieder trafen und ich ihr sagte, wie leid es mir tue. Seither meide ich diesen Satz, als hätte er das Unglück heraufbeschworen, und auch noch nach mehr als 20 Jahren zucke zusammen, wenn jemand zu mir sagt „Man sieht sich“.
Als ich hörte, dass Thomas Oppermann gestorben ist, war die Erinnerung an sofort wieder da. Die Nachricht hat mich betroffen gemacht und sie lässt mich irgendwie nicht los. Ich kannte Thomas Oppermann nicht persönlich, nur aus dem Fernsehen. Er war mir sympathisch, ich schätzte ihn als Politiker, mochte seine Art, zu diskutieren. Vielleicht hätte ich mir deshalb auch die Sendung angesehen, bei der er auftreten sollte. Doch dazu kam es nicht mehr.
Man sieht sich leider nicht immer.
PS: Ich habe lange überlegt, welchen Titel ich diesem Beitrag geben sollte, und ich habe den Satz, um den es geht, hingeschrieben und wieder gelöscht. Er ist für mich eine Art Voldemort, etwas, das ich nicht aussprechen mag. Ich habe den Text in Memoriam genannt – Reminiszenz an Jules Vater, an Thomas Oppermann, an drei Trainingskameraden, die in den vergangenen Jahren gestorben sind, und an ein Buch von Connie Palmen, das ich sehr mag.
Mit der Ruhe und der Idylle am Würmsee ist es vorbei. Mit dem Seesein auch. Denn der See ist verlandet – so wenig Wasser wie jetzt hatte der Würmsee noch nie, behaupten ältere Burgwedeler, die es wissen müssen. Und auch ich habe ihn in den vergangenen 30 Jahren noch nie in einem so jämmerlichem Zustand gesehen.
Nur noch ein paar Pfützen sind übrig geblieben – in ein paar Wochen werden auch sie nur noch Schlammlöcher sein. Folge der anhaltenden Trockenperiode und mehrerer trockener Jahre hintereinander. Der Klimawandel lässt grüßen – und man ahnt, dass ein ausgetrockneter See schon bald eines unserer geringsten Probleme sein wird.
130.000 Kubikmeter Wasser hat die Stadt seit Anfang des Jahres in den See gepumpt und damit das von der Region Hannover erlaubte Kontingent fast ausgeschöpft – vergeblich. Jetzt versucht man, das Beste aus der Situation zu machen: Es wird kein Wasser mehr in den See gepumpt, weil es ohnehin nur verdunsten würde. Stattdessen wird die Gelegenheit genutzt, um den See zu entschlammen. Und so frisst sich jetzt ein Bagger in den Untergrund, wo vor ein paar Monaten noch Gänse und Blesshühner nach Futter suchten. Rund 30 cm Boden werden abgetragen, damit das Wasser nicht durch zu viel organisches Material belastet wird, wenn sich der See im Herbst und Winter wieder füllt – und die Wasservögel wiederkommen.
Die Badende schaut dem Treiben interessiert zu, vielleicht hofft sie, dass sie bald wieder – wie früher – von ihrem Steg ins Wasser springen und schwimmen kann. Doch sie irrt, die Zeiten sind wohl endgültig vorbei. Das Wasser umspült ihren Steg nur, weil die Bagger ganz in der Nähe mit der Arbeit begonnen haben.
Auch mein Badeboot auf der anderen Seeseite liegt längst auf dem Trockenen. Der Steg, der zu ihm führt, ragt mehr als einen halben Meter aus dem Seegrund. Ich bräuchte ihn nicht mehr, um zu meinem Lieblingsplatz zu kommen, ja, ich könnte sogar trockenen Fußes durch den See wandern zur Badende wandern, um sie zu besuchen. Doch ich weiß, dass sie keine Gesellschaft mag und lieber für sich ist.
Auch die Torffresser sind Einzelgänger; sie finden zwar noch genügend Grünfutter, doch auf ihre Lieblingsspeise – frischen Torf – müssen sie ebenso verzichten wie auf Frösche und Amphibien. Die sind längst ausgewandert.
Nur die Kröte am gegenüberliegenden Seeufer harrt noch an ihrem angestammten Platz unter der Bank aus. Aber auch sie und ihre vier Freunde werden wohl nicht mehr lange bleiben – ohne Wasser kein Leben am See.
Auch nicht in der Hütte, die immer noch leer steht und wie mir heute scheint still vor sich hin rostet.
Fast ein Jahr, nachdem ich am Natelsheidesee vor verschlossenen Toren stand, weil der gleichnamige Campingplatz schon geschlossen war, habe ich es nach endlich geschafft: Ich bin im Natelsheidesee geschwommen. Aber es war wie so oft im Leben, wenn man lange – zu lange – auf etwas wartet: Die Realität kann die inzwischen viel zu hohen Erwartungen nicht erfüllen.
Am See lag‘s nicht. Anders als die Ostsee, wo man gefühlt stundenlang durchs knietiefe Wasser waten muss, kann man im Natelsheidesee schon nach drei oder vier Metern schwimmen. Das Wasser war noch recht warm, fühlte sich gut – weich wie Regenwasser – an und an dem kleinen Badestrand war ich die einzige.
Natelsheide See in Bissendorf Wietze
Mehr los – für meinen Geschmack zu viel – war in dem kleinen Outdoor-Café/Restaurant am anderen Seeufer. Und weil das Wetter eher trist war und mich zudem das Dauergeräusch von der Autobahn direkt nebenan nervte, verzichtete ich auf den Kaffee, den ich eigentlich trinken wollte, stieg aufs Rad und fuhr weiter.
Den Kirchhorster See habe ich eher zufällig „wiederentdeckt“: Als ich vor fast 20 Jahren in einem kleinen Verlag in Kirchhorst gearbeitet habe, bin ich in der Mittagspause manchmal im See geschwommen – seither bin ich an dem kleinen See immer nur vorbei gefahren. Der Abstecher hat sich gelohnt: Ich hatte den See und den großen Badesteg ganz für mich allein.
Vielleicht lag’s daran, dass der Sommer zumindest nach der Definition der Meteorlügen schon seit 1. September zu Ende ist, vielleicht waren auch die Blaualgen schuld. Das Gesundheitsamt der Region hatte ihretwegen zur Vorsicht geraten. Da ich weder ein Kind bin noch vorhatte, viel Wasser zu schlucken, habe ich zuerst im See und dann ganz ungestört auf dem Steg in der Sonne gebadet.
Kirchhorster See
Auf dem Rückweg bin ich zu einem kleinen Seerosenteich geradelt, der am Rande der Gartenstadt Lohne liegt. Die ist, anders als der Name vermuten lässt, keine Stadt, nicht einmal ein richtiges Dorf, sondern ein Schlafort ohne Infrastruktur. Ich finde sie trostlos, mag aber den kleinen See, an dem ich früher auf dem Weg zur Arbeit manchmal Halt gemacht habe.
Biotop am Rande der Gartenstadt Lohne
Die Seerosen waren längst verblüht, dafür entdeckte ich am anderen Ufer zwischen den Pflanzen ein pelziges Tier. Für eine Bisamratte war’s zu groß, ob Biber oder Nutria wusste ich ebenso wenig wie die Frau, die vorbeikam und stehen blieb. Im Frühjahr seien noch vier kleine Biber/Nutrias im See gewesen, doch dann war die Familie verschwunden. Jetzt sehe sie sie zum ersten Mal nach Wochen wieder, erzählte sie.
Biber oder Nutria, das ist hier die Frage. Die gut erkennbaren Ohren und die langen Barthaare sprechen für Nutria.
Der Altwarmbüchener See musste bis zum nächsten Sonntag warten. Der See ist der zweitgrößte See in Hannover – und ein beliebtes Naherholungsgebiet. Die vielen Birken auf der kleinen Vogelschutzinsel und am Ufer und mehrere kleine Teiche am Rundweg vermitteln ein bisschen Finnland-Feeling.
Finnland? Nein …
Am See gibt es zwei offizielle Badestrände – einer in Hannover und einer in Altwarmbüchen – und mehrere inoffizielle, einen Bootsverleih und einen Wassersportverein. Man kann segeln, surfen, rudern, paddeln – und natürlich schwimmen. Aber dazu hatte außer mir offenbar niemand mehr Lust – und wieder hatte ich einen Badesee ganz für mich allein.
… der Altwarmbüchener See
Der Springhorstsee, See Nummer vier auf meiner Bade-Tour durch Burgwedel und die Nachbardörfer, liegt am Ortsrand von Burgwedel, also quasi vor meiner Haustür. Wenn mich die Sehnsucht nach Wasser packt, fahre ich oft zum See; geschwommen bin ich dort in diesem Sommer noch nicht.
Der Springhorstsee gehört wie der Natelsheidesee zu einem Campingplatz. Weil niemand am Eingang zu sehen war, habe ich befürchtet, zu spät zu kommen. Aber das Tor zum Strand ließ sich öffnen: Ich konnte zum See, den Blick aufs Wasser und das Schwimmen in aller Ruhe genießen. Merke: Manchmal ist es gut, wenn man spät kommt.
Strandfeeling in Großburgwedel
Es wird nicht der letzte Besuch in diesem Jahr sein. Denn die Seesucht geht weiter: Sie kann nämlich nur vorübergehend gestillt, aber nicht geheilt werden.