Monatsrückblick April 2024

Anfang April haben wir die Wohnmobilsaison mit einer Fahrt nach Fehmarn eröffnet. Weil die  Osterferien vorbei waren, war auf dem Campingplatz nur wenig los. Und so standen wir in der ersten Reihe – direkt auf der Düne, das Meer immer im Blick. Das Wetter spielte zum Glück auch mit: Wenn die Sonne nicht schien, war zwar noch recht kühl, aber längere Zeit geregnet hat es nur in der ersten Nacht und am letzten Morgen, als wir ohnehin schon unsere Sachen packten und nach Hause fahren wollten.

Es waren ganz entspannte Tage: Der nächste Ort ist drei oder vier Kilometer von Belt Camping entfernt und wir hatten unsere Räder nicht mit. Ich bin viel spazieren gegangen – immer am Meer entlang -, habe viel gelesen, ein bisschen geschrieben und einfach nur die Seele baumeln lassen. Wir haben, anders als die meisten anderen Wohnmobilisten, keinen Fernseher an Bord, und ich habe auch weniger Zeit am Computer verbracht als zu Hause. Dafür habe ich stundenlang aufs Meer geschaut und zweimal morgens die Sonne überm Meer auf- und abends wieder untergehen sehen – eine tolle Alternative.

Eine Woche später bin ich wieder gen Norden gefahren, diesmal aber mit dem Zug und nicht ans Meer, sondern an den Nord-Ostsee-Kanal. Im Nordkolleg in Rendsburg hatte ich die Schreibwerkstatt Literarisches Essay mit Brigitte Helbling gebucht.

Bücher mit Essays – meist von Frauen – füllen ein ganzes Brett in meinem Bücherregal. Die literarische Form fasziniert mich schon lange und ich versuche, mich ihr lesend, schreibend und durch Brigittes Workshops anzunähern. Aber immer, wenn ich glaube, dass es mir gelingt, entgleitet sie mir, wie ein Fisch, der sich nicht einfangen lässt.

Der Essay, beschrieb Susan Sonntag, ist „kein Artikel (ist), keine Kolumne, keine Buchkritik, keine Memoire, keine Abhandlung, keine Tirade, keine langwierige Anekdote, kein Monolog, kein Reisebericht, keine Aphorismensammlung, keine Trauerrede, keine Reportage. Ein Essay kann all das sein, und oft mehreres zugleich.“ Das gefällt mir: Es passt zu meiner Art zu schreiben und irgendwie auch zu mir: in keine Kategorie passend, zwischen allen Stühlen sitzend – oder stehend.

Auch das Seminar und die Tage im Nordkolleg haben mir sehr gut gefallen : Neben dem theoretischen Input blieb viel Zeit zum Schreiben und zu anregenden Gesprächen. Morgens bin ich noch vor dem Frühstück spazieren gegangen: am Nordostseekanal, an der Eider und durch das kleine Wäldchen, das Kanal und Kolleg trennt. Und dann gab es auch noch den Garten den Nordkollegs mit den blühenden Apfelbäumen, über den ich ja schon einen eigenen Blogbeitrag geschrieben hatte.

Der Apfelbaum in unserem Garten ist schon verblüht. Vor den Toren Hamburgs, im Alten Land, blühten die Bäume auch am letzten Aprilwochenende noch. Eigentlich wollten wir im Restaurant Zur Post mit Blick aufs Wasser zu Mittag essen. Aber die Einfahrt zum Parkplatz war für unser Wohnmobil zu eng. Lecker gegessen haben wir trotzdem – in einem anderen Fischrestaurant. Und nach einem Spaziergang an der Elbe haben wir dann auch noch in einem Obsthof Kaffee getrunken und natürlich Äpfel gekauft.

Am Samstag und Sonntag war dann Hamburg Marathon angesagt: Am Samstag startete der Enkelsohn beim Zehntel-Marathon, am nächsten Tag lief dann sein Vater über die volle Distanz. An der Strecke wurden natürlich Erinnerungen wach: Der Hamburg Marathon war 1991 unser erster Marathon überhaupt, und die Stimmung an der Strecke war bei keinem der Marathons, die ich gelaufen bin, besser. Von wegen steife Hanseaten. Beim Marathon ist davon nix zu spüren. Am besten hat mir bei meinen beiden Läufen durch Hamburg die Stelle gefallen, wo die BewohnerInnen eines Altenheims an der Straße saßen und uns LäuferInnen mit auf Töpfe schlagend und mitTopfdeckeln anfeuerten.

Mit der guten Stimmung war es dann am Sonntag von einer Sekunde auf die andere vorbei, als nur wenige Meter von uns entfernt ein Läufer kollabierte. Dort, wo die ZuschauerInnen fröhlich getanzt und die LäuferInnen lautstark angefeuert hatten, war es plötzlich ganz still. Einige ZuschauerInnen leisteten sofort erste Hilfe, versuchten, den Läufer mit Herzdruckmassage wiederzubeleben. Bis Sanitäter und Rettungswagen mit Geräten kamen, dauerte es unendlich lange. Wie lange, kann ich nicht sagen, die Zeit dehnt sich, scheint in solchen Momenten stillzustehen. Aber mehr als drei Minuten, wie im Hamburger Abendblatt stand, waren es gewiss. Ob der junge Mann hätte gerettet werden können, wenn die RetterInnen schneller gewesen wäre, ist fraglich. Wenn der Körper bei Kilometer 41 völlig übersäuert ist, ist es offenbar schwer, jemanden ins Leben zurückzuholen. Auch an diesem Nachmittag ist es nicht gelungen. Der Läufer starb später im Krankenhaus. Er war erst Mitte 20. Carpe diem

PS: Diesen Blogbeitrag habe ich Im Wesentlich während der Blognacht geschrieben, die Anna Koschinski einmal im Monat organisiert (https://annakoschinski.de/blognacht/). Gemeinsam mit anderen zu schreiben, hat mich inspiriert. Es war meine erste Blognacht, aber es wird wohl nicht die letzte gewesen sein. Danke Anna.

Wenn Männer Frauen die Welt erklären

Vor ein paar Tagen habe ich auf spiegel.de zufällig den Artikel „Mansplaining auf TikTok“ gelesen. Als die Profigolferin und Golflehrerin Georgia Ball einen Abschlag filmt, um ihren mehr als 150.000 Followern auf TikTok zu zeigen, wie frau es richtig macht, wird sie von einem Mann unterbrochen. Er erklärt ihr, was sie ändern und besser machen sollte. Er wisse, wovon er spreche, schließlich spiele er seit 20 Jahren Golf (https://www.spiegel.de/netzwelt/apps/profi-golferin-georgina-ball-mit-mansplaining-hit-auf-tiktok-vielen-dank-fuer-ihren-ratschlag-a-0a5c7115-5e0a-41bc-b4df-679d3c9fe4c7?utm_source=pocket-newtab-de-de). Stoppen lässt er sich bei seinen Belehrungen nicht: Was zählen schon Ausbildung, Erfolge oder auch Titel einer Frau gegen die geballte männliche Erfahrung.

Was Mansplaining ist, erklärt der Autor (tmk – Torsten Kleinz) in seinem Artikel: „Dabei setzen insbesondere ältere Männer voraus, dass ihr Gegenüber inkompetent oder unerfahren ist, drängen ihre Ratschläge auf und reagieren dabei nicht auf zarte Hinweise.“ Rebecca Solnit erwähnt er dagegen nicht. Die bekannte amerikanische Schriftstellerin und Essayistin hat das Wort, das sich aus den Worten Man (Mann) und explaining (erklären) zusammensetzt, zwar nicht erfunden. Aber sie hat in ihrem Essay „Men Explain Things to Me“ – „Wenn Männer mir die Welt erklären“* – das Phänomen, das viele Frauen kennen, beschrieben und weltweit zum Gesprächsthema gemacht.

Rebecca Solnit erlebte vor mehr als 20 Jahren, an einem Sommertag im Jahr 2003, Ähnliches wie Georgia Ball. Der Gastgeber einer Party fragte sie, damals schon eine renommierte Autorin, worüber sie schreibe. Als Rebecca Solnit ihr kurz zuvor veröffentlichtes Buch über den Foto-Pionier Eadweard Muybridge nannte, empfahl er ihr ein „ausgesprochen wichtiges Buch“, das sie unbedingt lesen müsse. Hinweise, dass seine Gesprächspartnerin eben jenes Buch geschrieben hatte, überhörte „Mr. Wichtig“ geflissentlich.

Rebecca Solnit schildert die Episode in ihrem Essay, den sie erst ein paar Jahre später, dann aber in nur wenigen Stunden schrieb. „Dieser Essay wollte niedergeschrieben werden“, schreibt sie im Postskkriptum zum Essay: „Kein anderer Text, den ich je geschrieben habe, hat solche Verbreitung gefunden. Er hatte eine Saite angeschlagen. Einen Nerv getroffen.“

Men Explain Things to Me“ wurde zunächst nur online auf der unabhängigen Website TomDispatch veröffentlicht. Auf der Website Guernica bekam er dann „im Lauf der Jahre Millionen Klicks, weil die Erfahrungen und Situationen, die ich beschrieb, so brutal alltäglich waren, aber kaum Beachtung fanden“, so Rebecca Solnit in ihrem Buch Unziemliches Verhalten. Das Wort „Mansplaining“ wurde laut Wikipedia in Australien zum Wort des Jahres 2014 gekürt. „In der Begründung der Jury hieß es, Mansplaining sei ein ‚dringend erforderliches, klug geprägtes Kunstwort, das auf eingängige Weise die Idee der herablassenden Erklärweise einfinge, die manche Männer nur allzu häufig Frauen gegenüber an den Tag legen‘.“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Mansplaining)

Selbst wenn sie wissen, dass ihr weibliches Gegenüber Expertin auf einem Gebiet ist, meinen manche Männer, dass die Frau auf (männliche) Hilfe angewiesen ist. Sie sei als Referentin zu einer Veranstaltung eingeladen worden, erzählte mir eine Informatikprofessorin. Weil bis zum Beginn ihres Vortrags noch Zeit war, schaltete sie ihren Computer auf Stand-by. Als der Bildschirm schwarz wurde, sprang ein Mann aus dem Publikum auf, lief zum Pult und wollte sich an ihrem Computer zu schaffen machen – um der Computerexpertin bei ihrem vermeintlichen Computerproblem zu helfen. Das habe sie natürlich verhindert, erklärte die Professorin. „Ungefragt den Computer einer Informatikerin anfassen geht gar nicht!“

Merke: Selbst Doktor- und Professorinnentitel schützen Frauen nicht vor Männern, die ihnen die Welt und ihr Fachgebiet erklären wollen.

*Dieser Artikel enthält unbezahlte Werbung

Der Essay „Wenn Männer mir die Welt erklären“ wurde erstmals 2014 auf Deutsch im gleichnamigen Buch veröffentlicht. Es enthält außerdem sechs weitere Essays von Rebecca Solnit.

Rebecca Solnit: Wenn Männer mir die Welt erklären. Essays. Aus dem amerikanischen Englisch von Kathrin Razum und Bettina Münch. Mit Bildern von Ana Teresa Fernandez. Btb Verlag, München 2017, 12 Euro.

Der von Georgia Ball veröffentlichte Vidoclip wurde laut Spiegel.de bis zur Veröffentlichung des Artikels am 25. Februar elf Millionen Mal auf TikTok angesehen, auf Instagram erreichte Ball zwölf Millionen Nutzerinnen und Nutzer – inzwischen dürften es viel mehr sein. Wer will, kann sich den Film in der Ard-Mediathek ansehen unter https://www.ardmediathek.de/video/morgenmagazin/profispielerin-georgia-ball-ueber-ungewollte-tipps/das-erste/Y3JpZDovL3Nwb3J0c2NoYXUuZGUvc3BvcnRzY2hhdS1mZm1wZWctdmlkZW8tNDM0MjI0Nzc

Monatsrückblick November 2023

Rechnet sich das 49-Euro-Ticket für dich, fragte mich eine Bekannte vor ein paar Tagen. Auf jeden Fall, antworte ich spontan, obwohl ich es noch nicht nachgerechnet habe. Als ich für diesen Monatsrückblick meine Fahrten im November aufgelistet habe, bestätigt sich der erste Eindruck: Ich war auch im November viel unterwegs. Ich habe meine Tochter im Harz besucht und die Enkelkinder in Hamburg. Ich bin mit dem Ticket nach Travemünde und zurück gefahren und von dort zweimal nach Lübeck – und retour. Einmal, um die Gedenkhäuser der berühmten Lübecker zu besichtigen – von Thomas und Heinrich Mann, Willy Brandt und Günter Grass –, ein zweites Mal, um über den Weihnachtsmarkt zu gehen, der am 27. November eröffnet wurde.

Zwei berühmte Lübecker, Günter Grass und Willy Brandt. Das Foto habe ich im Günter-Grass-Haus abfotografiert.

Selbst die Fähre über die Trave auf den Priwall konnte ich mit dem Ticket kostenlos nutzen, Dass man nicht nur Geld, sondern auch Zeit und Nerven spart, weil man sich nicht durch den Tarifdschungel diverser Verkehrsverbünde kämpfen und vor Ticketschaltern anstehen muss, ist ein weiterer Vorteil.

In Hannover bin ich dank des Tickets auch häufiger als früher: Gleich am ersten Sonntag im November habe ich den monatlichen Schreibtreff im Ihmezentrum mit einem Rundgang durch die Ateliers in der List kombiniert.

Die Gruppe Lister Künstler gibt es seit mehr als 20 Jahren – schon in der Gründungsphase entstand wohl die die Idee, die Ateliers zu öffnen, Kunstinteressierten Einblicke in die praktische Arbeit zu geben und ihnen die eigenen Werke – nicht nur die fertigen, sondern auch Skizzen und Entwürfe, zu zeigen. Ich habe den Atelierrundgang durch die List, der immer am ersten Novembersonntag stattfindet, erst in diesem Jahr zufällig entdeckt – und ich war sicher nicht zum letzten Mal dabei. 

Meinem Ziel, zeichnen zu lernen und mehr Farbe in mein Leben zu bringen, bin ich im November ein Stück näher gekommen: Ich lerne seit Anfang des Monats zeichnen bei Heidrun Schlieker, einer Malerin, deren Bilder und vor allem Skizzenbücher ich seit Langem bewundere. Außerdem habe ich an Brigitte Helblings Workshop „Essays schreiben“ im AutorInnenzentrum Hannover teilgenommen. Mich fasziniert diese Form, für die es keine festen Vorgaben gibt, schon lange. Es ist, so Michael Hamburger in seinem Essay über den Essay, ein Spiel, „das seine eigenen Regeln schafft“ (http://culturmag.de/litmag/michael-hamburger-essay-ueber-den-essay/100328).

„Essayist:innen schauen auf die Welt um sich herum – und auf sich selbst – und machen sich dann daran, das Entdeckte, Erlebte, Gesehene in Worte zu fassen“, schreibt Brigitte in  ihrer Ankündigung des Workshops. Das gefällt mir, und vielleicht sind Essays ja genau die Form, die mir besonders liegt. Ich werde es versuchen – was ausgesprochen gut zum Essay passt. Schließlich kommt der Name vom Französischen essayer = versuchen.

Geschrieben habe ich natürlich auch, wenn auch (viel) weniger, als ich es mir vorgenommen habe. Denn der November ist ja der Nanowrimo, der „National novel writing month“. Besonders ehrgeizige und fleißige AutorInnen schreiben in diesem Monat 50.000 Wörter, also einen kurzen Roman. Das ist für mich völlig utopisch. Ich habe aus dem Nanowrimo wie schon im letzten Jahr, angeregt von den Instagrammerinnen Kathinka Engel und Kyra Groh, meinen privaten „Schreib so viel du kannst November“, gemacht, einen „nanowrimo light und stressfrei“ (https://timetoflyblog.com/schreibsovieldukan).

Und so bin ich in Travemünde statt zu schreiben oft am Meer entlangspaziert oder durch die Stadt gebummelt, ohne festes Ziel und fast ohne schlechtes Gewissen. Vielleicht brauche ich nach mehr als 40 Jahren Lohnschreiberei einfach eine Auszeit vom Schreiben, nicht zum Schreiben. Und außerdem kommen mir beim Gehen oft gute Geh-danken.

Schreiben mit Blick aufs Meer in Travemünde

Wer schreiben will, sollte viel lesen, darin sind sich fast alle SchreibratgeberInnen einig. Das habe ich im vergangenen Monat getan. Ich habe unter anderem mit Alba de Céspedes eine Autorin entdeckt, von der ich noch nie etwas von gehört hatte, und mit Max Frisch einen meiner früheren Lieblingsautoren wiederentdeckt. Und weil ich in Lübeck, der Heimatstadt von Thomas Mann war, habe ich auch Tonio Kröger, die frühe Novelle von Thomas Mann, wieder gelesen. Wirklich begeistert war ich zugegebenerweise nicht – und ich überlege, ob ich wirklich noch einen weiteren Versuch starten soll, den Zauberberg zu lesen. Mit dem fast 1000 Seiten dicken Roman, der als einer der großen Romane der klassischen Moderne gilt, habe ich mich bislang schwer getan. Und vielleicht gehört er wie Ulysses von James Joyce zu den Werken der Weltliteratur, die ich nie zu Ende lesen werde.  

Wiederentdeckt: Ein Zimmer für sich allein

Eigentlich war es Zufall, dass ich Virginia Woolfs „Ein Zimmer für sich allein“ jetzt wieder gelesen und wiederentdeckt habe. In ihrem Buch „FrauenZimmerSchreiben“* schreibt die Herausgeberin Christiane Palm-Hoffmeister als Einleitung einen Brief an die Autorin des viel zitierten Essays.

Ich habe Virginia Woolfs Buch zum ersten Mal während des Studiums gelesen, auf Englisch, wie die 1977 gekaufte Penguin-Ausgabe von „A Room of One‘s Own“ verrät. 1989 habe ich mir dann eine Ausgabe auf Deutsch gekauft, weil mein Englisch inzwischen etwas eingerostet war. Für ein eigenes Zimmer war damals in unserem Haus kein Platz, weil wir drei Kinderzimmer brauchten. Als gemeinsames Arbeitszimmer diente meinem Mann und mir zeitweise ein Teil des Wohnzimmers, den wir mit Regalen und einer Sperrholzwand provisorisch abgetrennt hatten. Aber lieber arbeitete und schrieb ich auf dem freien Platz neben der Treppe, wo auch jetzt wieder ein Schreibtisch steht. Eigentlich brauche ich diesen Schreibplatz nicht mehr, denn ich habe inzwischen sogar zwei Arbeitszimmer für mich allein. Und ich muss – anders als damals – nicht mehr Kinder, Haushalt und Beruf unter den bekannten Hut bringen.

Vielleicht liegt es am freieren Teilzeit-Rentnerinnen-Leben, dass ich Virginia Woolfs Essay diesmal an einem Tag und in einer halben Nacht gelesen habe. Vielleicht kam die Anregung aber auch gerade zur richtigen Zeit. In den vergangenen Jahren hatte ich mehrere Wieder-Lese-Versuche gestartet und das Buch dann – unausgelesen – zur Seite gelegt.

Mir war vor allem der Satz im Gedächtnis geblieben, der dem Essay seinen Namen gab: „Eine Frau braucht Geld und ein eigenes Zimmer, um schreiben zu können“ (Seite 3)**. Dabei ist wirklich bemerkens- und lesenswert, wie treffend und umfassend Virginia Woolf schon in den Zwanzigerjahren die Situation von Frauen in der Literatur und im Leben beschrieben und analysiert hat. „In der Poesie füllt sie (die Frau) Bände, in der Geschichte kommt sie nicht vor“, schreibt sie. Und im richtigen Leben wurden und werden Mädchen und Frauen häufig „eingesperrt, geschlagen und durchs Zimmer geschleudert“ (Seite 49).

Zwar hat sich vieles geändert, seit Virginia Woolf ihren Essay schrieb. Doch manches ist leider noch so aktuell wie vor fast hundert Jahren. In Deutschland wird laut BMFSFJ „etwa jede vierte Frau … mindestens einmal Opfer körperlicher oder sexualisierter Gewalt durch ihren aktuellen oder durch ihren früheren Partner“ (https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/themen/gleichstellung/frauen-vor-gewalt-schuetzen/haeusliche-gewalt/formen-der-gewalt-erkennen-80642). Und obwohl es zumindest hierzulande inzwischen selbstverständlich ist, dass Mädchen und Frauen zur Schule gehen, studieren, einen Beruf lernen und berufstätig sind, sind Frauen auch heute noch das arme Geschlecht. So verdienten Frauen nach Angaben des Statistischen Bundesamts (Destatis) im vergangenen Jahr in Deutschland pro Stunde 18 Prozent weniger als Männer (https://www.destatis.de/DE/Themen/Arbeit/Verdienste/Verdienste-GenderPayGap/_inhalt.html). Ein Teil der Lohnunterschiede kann durch Lohn- und Gehaltsunterschiede in verschiedenen Berufen und Branchen erklärt werden. Anders als von Virginia Woolf vorausgedacht, gibt es nämlich immer noch typisch weibliche und typisch männliche Berufe. Und ErzieherInnen, Kranken- oder AltenpflegerInnen werden auch heute noch schlechter bezahlt als AutomechanikerInnen oder InstallateurInnen. Aber selbst wenn sie die gleiche Arbeit leisten, verdienen Frauen oft weniger als ihre männlichen Kollegen. Das liegt sicher auch daran, dass Männer oft selbstsicherer sind und sich und ihre Leistung besser verkaufen können.

Verwunderlich ist das nicht: Jahrhundertelang wurde behauptet, dass Frauen Männern mental, moralisch, physisch und intellektuell unterlegen sind. Dieses Vorurteil hat sich, so scheint es, bei beiden Geschlechtern ins kollektive Gedächtnis eingebrannt. Wenn Männer „ein Zimmer betreten, sagen sie sich, ich bin der Hälfte der Menschen hier überlegen, und deshalb sprechen sie voller Selbstvertrauen, voller Selbstgewissheit“, schreibt Virginia Woolf (S. 41). Dieses Gefühl sei wahrscheinlich „eine der Hauptquellen“ männlicher Macht (S. 39).

„Frauen haben in all diesen Jahrhunderten als Spiegel gedient, ausgestattet mit der magischen und köstlichen Kraft, die Gestalt des Mannes doppelt so groß wiederzugeben“, schreibt sie. „Welchen Nutzen Spiegel in zivilisierten Gesellschaften auch haben mögen, für jede gewalttätige und heroische Tat sind sie unabdingbar. Deshalb bestehen Napoleon und Mussolini so emphatisch auf der Unterlegenheit der Frauen, denn wären sie nicht unterlegen, würden sie nicht länger vergrößern“ (S. 40f). Dem ist mit Blick auf die großen und kleinen Mussolinis und Napoleons unserer Zeit nichts hinzuzufügen. Oder nur, dass es sich wirklich lohnt, Virginia Woolfs Essay wieder zu lesen.

*Dieser Beitrag enthält unbezahlte Werbung

**Zitiert nach Woolf, V. (2019). Ein Zimmer für sich allein (Kampa Pocket) (German Edition) [Kindle Android version]. Retrieved from Amazon.com, übersetzt von Antje Ravik Strubel


Gelesene Bücher 2022

Der Blogbeitrag von Christof Herrmann (https://www.einfachbewusst.de/2022/12/gelesen-buecher-2022/) hat mich animiert, in diesem Jahr auch mal die Liste der von mir gelesenen Bücher zu veröffentlichen. Es waren 49, zehn weniger als im Jahr 2021.

Vor allem im Sommer, als ich an der Zeitschrift bildungSpezial gearbeitet habe, habe ich bei der Recherche zwar viele Fachartikel und Sachtexte, aber wenige Bücher gelesen. Und auch Bücher, in denen ich nur einzelne Texte oder Kapitel gelesen habe, zum Beispiel verschiedene Essaybände von Siri Hustvedt und Rebecca Solnit oder diverse Reiseführer, erscheinen nicht in dieser Liste.

Immerhin: Mein Ziel, ein Buch je Woche zu lesen, habe ich fast erreicht, obwohl ich das  eine oder andere Buch möglicherweise vergessen habe. Als ich diese Liste zusammengestellt habe, ist mir wieder einmal bewusst geworden, wie unzuverlässig ich gelesene Bücher notiere – und wie sehr sich meine Lese-Vorlieben verändert haben.

Jahrelang habe ich sehr viele Krimis gelesen – in diesem Jahr waren es nur drei. Die Bücher von Donna Leon lese ich, weil ich Familie Brunetti und Venedig mag; der dritte Krimi hat es auf die Liste geschafft, weil er in dem Ort spielt, in dem wir im Oktober zwei Wochen Urlaub gemacht haben: in Jokkmokk in Lappland. Zurzeit lese ich am liebsten autobiografische Bücher und/oder Essays – und ich bewundere jedes Mal aufs Neue, was die Essayistinnen alles wissen, wie viele und welche Bücher sie gelesen und verstanden haben. Um so belesen zu werden, müsste ich nicht nur viel mehr, sondern auch gezielter lesen. Aber ich bin, ich gebe es zu, eine unstrukturierte Leserin: Ich lese vor allem, was mir gefällt (https://timetoflyblog.com/die-unstrukturierte-leserin).

Anders als Christof Hermann vergebe ich keine Punkte für die gelesenen Bücher – denn eigentlich haben mir fast alle Bücher auf dieser Liste gefallen. Das liegt auch daran, dass ich Bücher, die mich nicht fesseln, nicht zu Ende lese, sondern angelesen zur Seite lege. Einige bekommen dann irgendwann eine zweite oder dritte Chance. So hatte ich mir Marion Braschs Buch „Aber jetzt ist Ruhe“ schon vor zwei Jahren einmal ausgeliehen. Jetzt beim zweiten Versuch hat es mir richtig gut gefallen.

Auch für Daniel Schreibers Essay Allein brauchte ich zwei Anläufe. Doch dann hat mich das Buch wirklich beeindruckt. Ulysses werde ich dagegen wohl nie zu Ende lesen. Ich habe pflichtschuldigst mehrere Leseversuche gestartet, den wohl allerletzten im Februar, als der Suhrkamp Verlag zum 100. Jubiläum der Erstausgabe und zum 140. Geburtstag von James Joyce 30 Tage lang jeden Morgen kurze Abschnitte aus dem ersten Teil des Romanklassikers verschickte. Nach einem Monat hätte man dann den ersten Teil komplett gelesen. (https://timetoflyblog.com/ulysses-haeppchenweise). Aber ich habe schon nach zwei Wochen aufgegeben.

Anita Brookner und Tove Ditlevsen habe ich erst in vergangenen Jahr entdeckt. Ihre Bücher „Ein Start ins Leben“ und die Kopenhagen-Trilogie stehen weit oben auf meiner Empfehlungsliste – und „Gesichter“ von Tove Ditlevsen und „Hotel du Lac“ von Anita Brookner auf meiner Leseliste für 2023.

Gelesene Bücher  2022

  1. Hans-Jürgen Ortheil: Ombra
  2. Dora Heldt: Drei Frauen, vier Leben
  3. Walter Tevis: Damengambit
  4. Katherine May. Überwintern
  5. Selene Marian: Ellis
  6. Simone de Beauvoir: Die Unzertrennlichen
  7. Sabine Bode: die vergessene Generation
  8. Erling Kagge: Gehen
  9. Sigrid Damm: Tage- und Nächtebücher aus Lappland
  10. Elke Heidenreich: Hier geht’s lang
  11. Maja Lunde: Als die Welt stehenblieb
  12. Roswitha Quadflieg: Über das Sterben meiner Mutter
  13. Nina Rigg: Die helle Stunde
  14. Sabine Bode: Nachkriegskinder
  15. Romalyn Tilghman: die Bücherfrauen
  16. Pascale Hugues: Mädchenschule
  17. Alena Schröder: Junge Frau, am Fenster stehend, blaues Kleid
  18. Ken Krimstedt: Die drei Leben der Hannah Arend (Graphic Novel)
  19. Tove Ditlevsen: Kindheit
  20. Tove Ditlevsen: Jugend
  21. Tove Ditlevsen: Abhängigkeit
  22. Eva Schmidt: Die untalentierte Lügnerin
  23. Alice Walker: Die Farbe Lila
  24. Alice Walker: Beim Schreiben der Farbe Lila
  25. Deborah Levy: Was das Leben kostet
  26. Bettina Flitner: Meine Schwester
  27. Donna Leon: Himmlische Juwelen
  28. Uta Scheub: Das falsche Leben: Eine Vatersuche
  29. Meike Scharff: Laufet, so werdet ihr finden: Meine Reise auf dem Jakobsweg
  30. Mason Currey: Mein kreatives Geheimnis sind bequeme Schuhe
  31. Anita Brookner: Ein Start ins Leben
  32. Ein glückliches Leben
  33. Bas Kast: Das Buch eines Sommers
  34. Veronika Peters: Das Herz von Paris
  35. Brigitte Helbling: Meine Schwiegermutter, der Mondmann und ich
  36. Simone de Beauvoir: Ein sanfter Tod
  37. Annie Erneaux: Eine Frau
  38. Marion Brasch: Aber jetzt ist Ruhe
  39. John Strelecky: Überraschung im Café am Rande der Welt
  40. Klara Nordin: Septemberschuld
  41. Djaili Amadou Amal: Die ungeduldigen Frauen
  42. Donna Leon: Milde Gaben
  43. Jürgen Becker:  Die folgenden Seiten. Journalgeschichten
  44. Katharina Hacker: Darf ich dir das Sie anbieten
  45. Daniel Schreiber: Allein
  46. Deborah Levy: Was ich nicht wissen will
  47. Thea Dorn: Trost
  48. Zoe Beck: Depression
  49. Mariana Leky: Kummer aller Art