Wiederentdeckt: Ein Zimmer für sich allein

Eigentlich war es Zufall, dass ich Virginia Woolfs „Ein Zimmer für sich allein“ jetzt wieder gelesen und wiederentdeckt habe. In ihrem Buch „FrauenZimmerSchreiben“* schreibt die Herausgeberin Christiane Palm-Hoffmeister als Einleitung einen Brief an die Autorin des viel zitierten Essays.

Ich habe Virginia Woolfs Buch zum ersten Mal während des Studiums gelesen, auf Englisch, wie die 1977 gekaufte Penguin-Ausgabe von „A Room of One‘s Own“ verrät. 1989 habe ich mir dann eine Ausgabe auf Deutsch gekauft, weil mein Englisch inzwischen etwas eingerostet war. Für ein eigenes Zimmer war damals in unserem Haus kein Platz, weil wir drei Kinderzimmer brauchten. Als gemeinsames Arbeitszimmer diente meinem Mann und mir zeitweise ein Teil des Wohnzimmers, den wir mit Regalen und einer Sperrholzwand provisorisch abgetrennt hatten. Aber lieber arbeitete und schrieb ich auf dem freien Platz neben der Treppe, wo auch jetzt wieder ein Schreibtisch steht. Eigentlich brauche ich diesen Schreibplatz nicht mehr, denn ich habe inzwischen sogar zwei Arbeitszimmer für mich allein. Und ich muss – anders als damals – nicht mehr Kinder, Haushalt und Beruf unter den bekannten Hut bringen.

Vielleicht liegt es am freieren Teilzeit-Rentnerinnen-Leben, dass ich Virginia Woolfs Essay diesmal an einem Tag und in einer halben Nacht gelesen habe. Vielleicht kam die Anregung aber auch gerade zur richtigen Zeit. In den vergangenen Jahren hatte ich mehrere Wieder-Lese-Versuche gestartet und das Buch dann – unausgelesen – zur Seite gelegt.

Mir war vor allem der Satz im Gedächtnis geblieben, der dem Essay seinen Namen gab: „Eine Frau braucht Geld und ein eigenes Zimmer, um schreiben zu können“ (Seite 3)**. Dabei ist wirklich bemerkens- und lesenswert, wie treffend und umfassend Virginia Woolf schon in den Zwanzigerjahren die Situation von Frauen in der Literatur und im Leben beschrieben und analysiert hat. „In der Poesie füllt sie (die Frau) Bände, in der Geschichte kommt sie nicht vor“, schreibt sie. Und im richtigen Leben wurden und werden Mädchen und Frauen häufig „eingesperrt, geschlagen und durchs Zimmer geschleudert“ (Seite 49).

Zwar hat sich vieles geändert, seit Virginia Woolf ihren Essay schrieb. Doch manches ist leider noch so aktuell wie vor fast hundert Jahren. In Deutschland wird laut BMFSFJ „etwa jede vierte Frau … mindestens einmal Opfer körperlicher oder sexualisierter Gewalt durch ihren aktuellen oder durch ihren früheren Partner“ (https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/themen/gleichstellung/frauen-vor-gewalt-schuetzen/haeusliche-gewalt/formen-der-gewalt-erkennen-80642). Und obwohl es zumindest hierzulande inzwischen selbstverständlich ist, dass Mädchen und Frauen zur Schule gehen, studieren, einen Beruf lernen und berufstätig sind, sind Frauen auch heute noch das arme Geschlecht. So verdienten Frauen nach Angaben des Statistischen Bundesamts (Destatis) im vergangenen Jahr in Deutschland pro Stunde 18 Prozent weniger als Männer (https://www.destatis.de/DE/Themen/Arbeit/Verdienste/Verdienste-GenderPayGap/_inhalt.html). Ein Teil der Lohnunterschiede kann durch Lohn- und Gehaltsunterschiede in verschiedenen Berufen und Branchen erklärt werden. Anders als von Virginia Woolf vorausgedacht, gibt es nämlich immer noch typisch weibliche und typisch männliche Berufe. Und ErzieherInnen, Kranken- oder AltenpflegerInnen werden auch heute noch schlechter bezahlt als AutomechanikerInnen oder InstallateurInnen. Aber selbst wenn sie die gleiche Arbeit leisten, verdienen Frauen oft weniger als ihre männlichen Kollegen. Das liegt sicher auch daran, dass Männer oft selbstsicherer sind und sich und ihre Leistung besser verkaufen können.

Verwunderlich ist das nicht: Jahrhundertelang wurde behauptet, dass Frauen Männern mental, moralisch, physisch und intellektuell unterlegen sind. Dieses Vorurteil hat sich, so scheint es, bei beiden Geschlechtern ins kollektive Gedächtnis eingebrannt. Wenn Männer „ein Zimmer betreten, sagen sie sich, ich bin der Hälfte der Menschen hier überlegen, und deshalb sprechen sie voller Selbstvertrauen, voller Selbstgewissheit“, schreibt Virginia Woolf (S. 41). Dieses Gefühl sei wahrscheinlich „eine der Hauptquellen“ männlicher Macht (S. 39).

„Frauen haben in all diesen Jahrhunderten als Spiegel gedient, ausgestattet mit der magischen und köstlichen Kraft, die Gestalt des Mannes doppelt so groß wiederzugeben“, schreibt sie. „Welchen Nutzen Spiegel in zivilisierten Gesellschaften auch haben mögen, für jede gewalttätige und heroische Tat sind sie unabdingbar. Deshalb bestehen Napoleon und Mussolini so emphatisch auf der Unterlegenheit der Frauen, denn wären sie nicht unterlegen, würden sie nicht länger vergrößern“ (S. 40f). Dem ist mit Blick auf die großen und kleinen Mussolinis und Napoleons unserer Zeit nichts hinzuzufügen. Oder nur, dass es sich wirklich lohnt, Virginia Woolfs Essay wieder zu lesen.

*Dieser Beitrag enthält unbezahlte Werbung

**Zitiert nach Woolf, V. (2019). Ein Zimmer für sich allein (Kampa Pocket) (German Edition) [Kindle Android version]. Retrieved from Amazon.com, übersetzt von Antje Ravik Strubel


Gelesene Bücher 2022

Der Blogbeitrag von Christof Herrmann (https://www.einfachbewusst.de/2022/12/gelesen-buecher-2022/) hat mich animiert, in diesem Jahr auch mal die Liste der von mir gelesenen Bücher zu veröffentlichen. Es waren 49, zehn weniger als im Jahr 2021.

Vor allem im Sommer, als ich an der Zeitschrift bildungSpezial gearbeitet habe, habe ich bei der Recherche zwar viele Fachartikel und Sachtexte, aber wenige Bücher gelesen. Und auch Bücher, in denen ich nur einzelne Texte oder Kapitel gelesen habe, zum Beispiel verschiedene Essaybände von Siri Hustvedt und Rebecca Solnit oder diverse Reiseführer, erscheinen nicht in dieser Liste.

Immerhin: Mein Ziel, ein Buch je Woche zu lesen, habe ich fast erreicht, obwohl ich das  eine oder andere Buch möglicherweise vergessen habe. Als ich diese Liste zusammengestellt habe, ist mir wieder einmal bewusst geworden, wie unzuverlässig ich gelesene Bücher notiere – und wie sehr sich meine Lese-Vorlieben verändert haben.

Jahrelang habe ich sehr viele Krimis gelesen – in diesem Jahr waren es nur drei. Die Bücher von Donna Leon lese ich, weil ich Familie Brunetti und Venedig mag; der dritte Krimi hat es auf die Liste geschafft, weil er in dem Ort spielt, in dem wir im Oktober zwei Wochen Urlaub gemacht haben: in Jokkmokk in Lappland. Zurzeit lese ich am liebsten autobiografische Bücher und/oder Essays – und ich bewundere jedes Mal aufs Neue, was die Essayistinnen alles wissen, wie viele und welche Bücher sie gelesen und verstanden haben. Um so belesen zu werden, müsste ich nicht nur viel mehr, sondern auch gezielter lesen. Aber ich bin, ich gebe es zu, eine unstrukturierte Leserin: Ich lese vor allem, was mir gefällt (https://timetoflyblog.com/die-unstrukturierte-leserin).

Anders als Christof Hermann vergebe ich keine Punkte für die gelesenen Bücher – denn eigentlich haben mir fast alle Bücher auf dieser Liste gefallen. Das liegt auch daran, dass ich Bücher, die mich nicht fesseln, nicht zu Ende lese, sondern angelesen zur Seite lege. Einige bekommen dann irgendwann eine zweite oder dritte Chance. So hatte ich mir Marion Braschs Buch „Aber jetzt ist Ruhe“ schon vor zwei Jahren einmal ausgeliehen. Jetzt beim zweiten Versuch hat es mir richtig gut gefallen.

Auch für Daniel Schreibers Essay Allein brauchte ich zwei Anläufe. Doch dann hat mich das Buch wirklich beeindruckt. Ulysses werde ich dagegen wohl nie zu Ende lesen. Ich habe pflichtschuldigst mehrere Leseversuche gestartet, den wohl allerletzten im Februar, als der Suhrkamp Verlag zum 100. Jubiläum der Erstausgabe und zum 140. Geburtstag von James Joyce 30 Tage lang jeden Morgen kurze Abschnitte aus dem ersten Teil des Romanklassikers verschickte. Nach einem Monat hätte man dann den ersten Teil komplett gelesen. (https://timetoflyblog.com/ulysses-haeppchenweise). Aber ich habe schon nach zwei Wochen aufgegeben.

Anita Brookner und Tove Ditlevsen habe ich erst in vergangenen Jahr entdeckt. Ihre Bücher „Ein Start ins Leben“ und die Kopenhagen-Trilogie stehen weit oben auf meiner Empfehlungsliste – und „Gesichter“ von Tove Ditlevsen und „Hotel du Lac“ von Anita Brookner auf meiner Leseliste für 2023.

Gelesene Bücher  2022

  1. Hans-Jürgen Ortheil: Ombra
  2. Dora Heldt: Drei Frauen, vier Leben
  3. Walter Tevis: Damengambit
  4. Katherine May. Überwintern
  5. Selene Marian: Ellis
  6. Simone de Beauvoir: Die Unzertrennlichen
  7. Sabine Bode: die vergessene Generation
  8. Erling Kagge: Gehen
  9. Sigrid Damm: Tage- und Nächtebücher aus Lappland
  10. Elke Heidenreich: Hier geht’s lang
  11. Maja Lunde: Als die Welt stehenblieb
  12. Roswitha Quadflieg: Über das Sterben meiner Mutter
  13. Nina Rigg: Die helle Stunde
  14. Sabine Bode: Nachkriegskinder
  15. Romalyn Tilghman: die Bücherfrauen
  16. Pascale Hugues: Mädchenschule
  17. Alena Schröder: Junge Frau, am Fenster stehend, blaues Kleid
  18. Ken Krimstedt: Die drei Leben der Hannah Arend (Graphic Novel)
  19. Tove Ditlevsen: Kindheit
  20. Tove Ditlevsen: Jugend
  21. Tove Ditlevsen: Abhängigkeit
  22. Eva Schmidt: Die untalentierte Lügnerin
  23. Alice Walker: Die Farbe Lila
  24. Alice Walker: Beim Schreiben der Farbe Lila
  25. Deborah Levy: Was das Leben kostet
  26. Bettina Flitner: Meine Schwester
  27. Donna Leon: Himmlische Juwelen
  28. Uta Scheub: Das falsche Leben: Eine Vatersuche
  29. Meike Scharff: Laufet, so werdet ihr finden: Meine Reise auf dem Jakobsweg
  30. Mason Currey: Mein kreatives Geheimnis sind bequeme Schuhe
  31. Anita Brookner: Ein Start ins Leben
  32. Ein glückliches Leben
  33. Bas Kast: Das Buch eines Sommers
  34. Veronika Peters: Das Herz von Paris
  35. Brigitte Helbling: Meine Schwiegermutter, der Mondmann und ich
  36. Simone de Beauvoir: Ein sanfter Tod
  37. Annie Erneaux: Eine Frau
  38. Marion Brasch: Aber jetzt ist Ruhe
  39. John Strelecky: Überraschung im Café am Rande der Welt
  40. Klara Nordin: Septemberschuld
  41. Djaili Amadou Amal: Die ungeduldigen Frauen
  42. Donna Leon: Milde Gaben
  43. Jürgen Becker:  Die folgenden Seiten. Journalgeschichten
  44. Katharina Hacker: Darf ich dir das Sie anbieten
  45. Daniel Schreiber: Allein
  46. Deborah Levy: Was ich nicht wissen will
  47. Thea Dorn: Trost
  48. Zoe Beck: Depression
  49. Mariana Leky: Kummer aller Art