Würmsee im Dezember

Seit Februar fahre ich regelmäßig zu dem kleinen See bei Kleinburgwedel, um ihn aus immer den gleichen Blickwinkeln zu fotografieren. Selten habe ich so viele Menschen hier gesehen. Wenn die Läden geschlossen sind, zieht’s die Menschen in die Natur: Seespaziergang statt Shopping. Leider kommen die meisten mit dem Auto statt mit dem Fahrrad; der kleine Parkplatz ist voll, die Fahrradständer sind dagegen fast leer.

Der See hat sich seit Anfang des Jahres verändert, aber das passt ja zu dem Jahr, in dem sich unser Leben so drastisch verändert hat. Nur dort, wo der Rundweg um den See beginnt und endet, scheint die Seewelt noch halbwegs in Ordnung.

Weil der Seeboden dort tiefer ausgebaggert wurde, gibt es dort noch eine – die einzige – zusammenhängende Wasserfläche. Aber sie bedeckt nicht einmal ein Viertel der Seefläche, sie reicht gerade mal bis zu dem Steg, auf dem die Badende sitzt. Vielleicht steigt sie doch noch mal herab und nimmt ein Bad. Es könnte die letzte Gelegenheit sein.

Normalerweise steigt der Wasserspiegel in den Herbst- und Wintermonaten wieder, der See erholt sich nach den trockenen Sommermonaten.  Doch jetzt ist er bis auf wenige Wasserlöcher ausgetrocknet – und das wird sich wohl auch nicht mehr ändern. Zu tief ist der Grundwasserspiegel rund um den See gesunken; geregnet hat es in den letzten Monaten nur selten: Wasser in den See zu pumpen wäre, als schütte man es in ein Fass ohne Boden oder in eine Badewanne, aus der der Stöpsel gezogen wurde.

Das Boot auf der gegenüberliegenden Seeseite erreicht man inzwischen auch ohne Steg trockenen Fußes. Und einige Spaziergänger gehen nicht wie gewohnt um den See, sondern durch den See.

Die tierischen Ureinwohner – Torffresser, Fuchs, Hase, Kröte, Eisvogel und Reiher – lassen sich dadurch scheinbar nicht aus der Ruhe bringen. Sie harren an ihren Plätzen aus, denken sich wahrscheinlich nur den Teil. Ihre lebenden Verwandten haben den See verlassen. Ob sie wohl wiederkommen im nächsten Jahr, an den See, der kein See mehr ist?

Ich werde es beobachten, wenn ich den See im neuen Jahr fotografiere – jeden Monat, aus neuen Blickwinkeln.

Würmsee im November

Die Meteorologen prophezeien schlechtes Wetter. Und bevor der Novemberfrühling – der gefühlte Frühling im Herbst – endet, fahre ich mit dem Rad zum Würmsee, um meine Chronistenpflicht zu erfüllen und den See, der eigentlich keiner mehr ist, aus immer den gleichen Blickwinkeln zu fotografieren.

Ein wenig Wasser mehr ist da als bei meinem letzten Besuch vor gut zwei Wochen, so scheint es. Oder wirkt alles nur viel freundlicher, weil heute die Sonne scheint? Denn auch dieser Sonntag macht seinem Namen alle Ehre; die herbstlich gelben Blätter leuchten im Sonnenlicht. So macht November Spaß.

Auch die Badende genießt das ungewöhnlich schöne Wetter. Ich leiste ihr ein bisschen Gesellschaft: Ich mache es mir auf einer der beiden Holzliegen bequem – allerdings nicht im Badeanzug, sondern im Anorak – und lege eine Schreibpause ein. Wie oft kann man das schon Mitte November? Auf einen Kaffee muss ich verzichten; die Gaststätte am Seeufer ist geschlossen – nicht nur, weil die Saison vorbei ist, sondern vielleicht für immer.

Den Torffressern geht das frische Grün allmählich aus – das Gras um sie herum ist herbstlich braun und die Bäume sind fast kahl. Aber sie haben keine Angst vor dem bevorstehenden Winter. Denn sie haben ihre Schaufeln, mit denen sie nach Nahrung graben können, immer dabei. Torf werden sie aber nicht mehr finden. Der Torf ist längst abgebaut und auch die Moore gibt es nicht mehr. Die Landwirte haben das Land ringsum entwässert – und damit ungewollt auch den Würmsee.

Das Boot – im Sommer mein Lieblingsplatz – lädt nicht mehr zum Verweilen ein: zu trostlos der Anblick auf den fast wasserlosen See. Grün- und Matschfläche statt Wasserfläche.

Die fünf von der Bank stört es nicht. Vielleicht nutzen sie die Gelegenheit, abends, wenn alle Besucher verschwunden sind, auf dem kürzesten Weg, quer durch den See, zum gegenüberliegenden Ufer zu gehen und dort ihre Freunde, die Torffresser, zu besuchen.

Würmsee im August

Vorgestern bin ich zum Würmsee gefahren, aber er war – wie auch bei meinem Besuch in der vorletzten Woche – nicht da. Überrascht hat mich das nicht, denn im Sommer verschwindet der See fast immer. Zurück bleibt, wenn überhaupt, nur ein bisschen Wasser in der Mitte, kaum mehr als eine überdimensionale Pfütze.  

Der Regen in den letzten Tagen hat daran nichts geändert; er war kaum mehr als ein Tropfen in den trockenen See. Wo vor ein paar Monaten noch Wasser war, wachsen jetzt Pflanzen; die Badende könnte den Steg jetzt verlassen und ihr Sonnenbad auf dem Seegrund fortsetzen.

Mein „Boot“ am gegenüberliegenden Ufer liegt natürlich auf dem Trockenen, auf meinem Lieblingsplatz sitzend, sehe ich, wie weit der Wasserspiegel abgesunken ist.

Blick vom Boot vor zwei Wochen …
… und aufs Boot vorgestern

Ein bisschen erinnert mich der Anblick an die Serengeti in Afrika, wo Flüsse und Seen in der Trockenzeit verschwinden, Millionen Tiere dem Wasser nachwandern und sich um die verbleibenden Schlammlöcher scharen.

Schlammloch oder See?

Das ist hier anders. Gänse und Reiher habe ich bei meinen letzten Besuchen am See nicht mehr gesehen – sie fliegen zumindest tagsüber zu Plätzen, wo es mehr Wasser und mehr Nahrung für sie gibt. Die Torffresser bleiben dagegen in ihrem Reservat: Sie lassen sich den Appetit nicht verderben und grasen seelenruhig zwischen den austrocknenden Torfhaufen. Die Letzten ihrer Art haben vielleicht deshalb überlebt, weil sie so genügsam und anpassungsfähig sind. Und zur Not können sie ja auch mit ihren Schaufeln nach Wasser graben

Und auch die fünf von der Bank – Eisvogel, Kröte, Reiher, Fuchs und Hase – harren noch aus. Aber ich frage mich, wie lange noch. Sie blicken, so scheint es mir, sorgenvoll auf den kleiner werdenden See. Das, was sie wirklich zum leben brauchen, nämlich Wasser, wird allmählich knapp. Und vielleicht werden auch sie demnächst auswandern wie die Tiere aus dem Talerwald, an die sie mich bei jedem Besuch wieder erinnern.

Was brauchst du wirklich zum Leben: Wasser. Das wird auch hierzulande langsam knapp