Willkommen zurück, begrüßt mich mein Computer jedes Mal, wenn ich eine Datei öffne. Und er schlägt mir vor: „Machen Sie genau dort weiter, wo sie aufgehört haben“ – wahlweise vor neun Minuten, vor drei Stunden, vor zwei Tagen, vor einem Monat oder vor einem halben Jahr. Denn mein Computer hat, wie es so Computerart ist, ein ausgezeichnetes Gedächtnis: Er merkt sich genau, viel besser als ich, was ich wann geschrieben oder verändert habe.
Ja, sage oder denke ich meist und lasse mich mit einem Mausclick an die entsprechende Stelle in der Datei leiten. Doch immer öfter frage ich mich bei der Gelegenheit, ob ich das auch im richtigen Leben will: Genau dort weitermachen, wo ich aufgehört habe, also im Prinzip weitermachen wie bisher. Und ich merke: Eigentlich will ich das nicht. Ich habe das Gefühl, dass ich mein Leben ändern müsste – oder zumindest sollte.
Vielleicht liegt es daran, dass ich vor Kurzem 65 Jahre alt geworden bin, vielleicht daran, dass in diesem Jahr kurz nacheinander eine Freundin und ein Freund gestorben sind. Und natürlich führt uns – oder zumindest mir – Corona ständig vor Augen, wie schnell und radikal sich das Leben ändern und wie schnell es zu Ende sein kann.
Ich gebe es zu: Obwohl ich auf die Impfung – irgendwann im Januar ist es auch bei mir die dritte -, die Vorsichtsmaßnahmen, die ich einhalte, und natürlich auch auf meine ziemlich robuste Gesundheit vertraue, macht SARS-CoV-19 mir zunehmend Angst. Und immer öfter denke ich an eine Meldung, die ich irgendwann vor Jahren im Radio gehört und die ich nie vergessen habe. Irgendwo im Osten Europas, in Armenien, in der Ukraine, in Aserbeidschan oder in irgendeinem anderen Staat, der früher zur Sowjetunion gehörte, wird auf Grabsteinen neben Namen, Geburts- und Todesjahr auch die Lebenszeit notiert. Gelebt X Jahre, stehe dann dort in Stein gemeißelt, und (fast) immer sei die „Lebenszeit“ deutlich niedriger als das Alter.
Das wäre bei mir sicher auch so: Ich habe in den vergangenen Jahren oft zu viel gearbeitet und zu wenig gelebt. Zum einen, weil mir meine Arbeit Spaß macht, zum anderen aber auch, um finanziell unabhängig zu sein. Und dabei habe ich mich nicht immer genug um meine Gesundheit und um die wirklich wichtigen Dinge gekümmert.
Vielleicht muss ich dem Coronavirus ja sogar ein bisschen dankbar sein, weil es die Reißleine gezogen hat, bevor es mein Körper tun wollte. Ich habe coronabedingt wie viele Kolleginnen und Kollegen einige Aufträge verloren. Das ist natürlich bedauerlich, aber es tut mir gut, beruflich kürzer zu treten. Nicht nur, aber auch weil ich nicht mehr so belastbar bin wie früher. Es fällt mir schwerer, ohne Pause durchzuarbeiten, wie ich es jahrelang getan habe: den ganzen Tag, die ganze Woche, den ganzen Monat. Ich brauche mehr Pausen, und die gönne ich mir jetzt öfter.
Ich will, ja, ich kann nicht dort weitermachen, wo ich aufgehört habe – vor Corona. Ich habe mir vorgenommen, künftig zu arbeiten, um zu leben, und nicht länger zu leben, um zu arbeiten. Einen Plan, wie es weitergeht, bis ich im nächsten Jahr in Rente gehe und danach, habe ich noch nicht. Aber Corona hat mir ohnehin klar gemacht, wie wenig planbar unser Leben ist. Vielleicht befolge ich einfach Rainer Maria Rilkes Rat. „Lassen Sie sich das Leben geschehen. Glauben Sie mir: das Leben hat recht, auf alle Fälle“, schreibt er in seinem Buch „Du mußt dein Leben ändern.“ Ich habe das Buch irgendwann wohl wegen des Titels gekauft, und jetzt – wohl aus dem gleichen Grund – in meinem Regal wiederentdeckt. Und noch ein anderes Buch habe ich dort gefunden: „Es ist nie zu spät, neu anzufangen“ von Julia Cameron. Na denn.