Top Ten aus zehn Jahren

Nach unseren liebsten Blogartikeln fragte Birgit Lorz in ihrer Blogparade – und nach den Gründen, warum du/oder Sie sie lesen sollten. Eigentlich wollte ich nur fünf Beiträge auswählen – doch beim Lesen haben sich dann noch ein paar andere aufgedrängt. Am Ende waren es dann zehn. Aber ich denke, das ist in Ordnungfür einen Blog, in dem ich seit zehn Jahren mehr oder weniger regelmäßig über das schreibe, was mich bewegt: über Bücher, Reisen, übers Schreiben und natürlich auch über mein Leben und über (gesellschafts)politische Ereignisse.  

Tag des Tagebuchs – in Memoriam Anne Frank

Ich liebe Bücher und ich lese viel. Aber kaum ein Buch hat mein Lesen, mein Schreiben und damit auch mein Leben so beeinflusst wie das Tagebuch der Anne Frank. Kurz nachdem ich es vor mehr als einem halben Jahrhundert zum ersten Mal gelesen hatte, fing ich an, selbst (Tagebuch) zu schreiben – und habe nie wieder damit aufgehört. Die Ausgabe, die ich mir Anfang der 70er-Jahre gekauft habe, steht noch heute in meinem Bücherregal – neben mehreren neueren Ausgaben und einem Graphic Diary. Und sie ist mir noch die liebste, auch wenn die Blätter inzwischen vergilbt und teilweise brüchig sind. Den Blogbeitrag habe ich am 12. Juni 2021 am Tag des Tagebuchs veröffentlicht, an Annes 92. Geburtstag.

Die Stadt der Tagebücher

Ich bin nicht nur eine notorische Tagebuchschreiberin, sondern ich lese auch gerne Tagebücher, die andere geschrieben haben. Seit ich Barbara Bronnens Buch „Die Stadt der Tagebücher. Vom Festhalten des Lebens durch das Schreiben“ gelesen habe, stand Pieve Santo Stefano auf meiner To-visit-Liste. Dort hat der italienische Journalist Saverio Tutino Anfang der 80er-Jahre das nationale Tagebucharchiv (Archivio Diaristico Nazionale) initiiert, in dem inzwischen mehrere tausend Tagebücher und andere zeitgeschichtliche Dokumente aufbewahrt werden. Im Frühjahr 2023 war ich endlich in der kleinen Stadt am Rande der Toskana, die im Zweiten Weltkrieg von deutschen Soldaten fast völlig zerstört wurde.

In Memoriam: Orlando Orlandi Posti

Bei meinem Besuch im Tagebuchmuseum, dem piccolo museo del diario, in Pieve Santo Stefano habe ich von Orlando Orlandi Postis Schicksal erfahren.  Der 17-Jährige wurde Anfang Februar 1944 von der SS verhaftet, als er seine Freunde vor einer geplanten Razzia der deutschen Besatzer warnen wollte. Während seiner fast zwei monatigen Gefangenschaft gelang es ihm, Briefe an seine Mutter zu schreiben und aus dem Gefängnis zu schmuggeln. Am 24. März 1944 wurden er und 334 andere Menschen in den Fosse Ardeatine von deutschen Soldaten ermordet. Das Buch mit Orlando Orlandi Postis Briefen und Tagebuchnotizen aus dem Gefängnis gibt es nur auf Italienisch – und meine Italienischkenntnisse reichen leider nicht aus, es zu lesen. Aber in meinem Blogbeitrag wollte ich an ihn und an das Massaker in den Ardeatinischen Höhlen erinnern, von dem die meisten Menschen in Deutschland wenig oder gar nichts wissen.

Ruth Maier: Das Leben könnte gut sein

Ruth Maier wurde nur 22 Jahre alt. Mit 18 floh sie vor den Nazis aus Wien ins scheinbar sichere Norwegen. Dort wurde sie am Morgen des 26. November 1942 bei einer Razzia in ihrem Wohnheim verhaftet, mit 531 jüdischen Frauen, Männern und Kindern nach Auschwitz deportiert und ermordet. Zehn Jahre lang schrieb Ruth Maier Tagebuch ­– über die Judenverfolgung und die Reichspogromnacht in ihrer Heimat Österreich ebenso wie über ihr Leben als Emigrantin in Norwegen. Ihre Tagebücher erinnern daran, wie wichtig es ist, Menschen, die vor Krieg und Verfolgung fliehen, Schutz zu gewähren.

Nie wieder ist jetzt

Am 9. November 2023, am 85. Jahrestag der Pogromnacht von 1938, stand ich mit knapp drei Dutzend meist älteren Frauen und Männern vor dem Holocaust Mahnmal auf dem Opernplatz in Hannover. Wir wollten ein Zeichen setzen – gegen den wachsenden Antisemitismus im Land und an die Opfer von Rassenhass und Antisemitismus erinnern – nicht nur in Nazi-Deutschland.

Auch in meinem Heimatort wurden in der Pogromnacht die Synagoge und die Wohnungen von Jüdinnen und Juden verwüstet. Auch meine drei Onkel, damals 19, 17 und 13 Jahre alt, machten mit. Zumindest der jüngste hatte eigentlich keine Chance, kein Nazi zu werden. Er war erst sieben, als Hitler an die Macht kam und die Indoktrination in der Schule, in Hitlerjugend und sicher auch in der Familie begann. Mit 18 starb er in der Normandie, kurz nach der Landung der Alliierten.

Heute sind in Deutschland Judenwitze, abfällige Bemerkungen, körperliche Angriffe oder Attentate auf jüdische Menschen und Einrichtungen leider wieder Alltag – und die Mehrheit schweigt, wie damals. Doch es ist Zeit, aufzustehen. Nie wieder ist jetzt.  

Kleiner Satz mit großen Folgen

An Elisabeth Selbert habe ich mit dem Blogbeitrag vom 23. Mai 2024, am 75- Jubiläum des Grundgesetzes, erinnert. Die Sozialdemokratin war eine von nur vier Müttern des Grundgesetzes. Vor allem ihr ist es zu verdanken, dass der Satz „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ ins Grundgesetz aufgenommen wurde – und das Leben nicht nur der Frauen veränderte.

Mit der Gleichberechtigung der Frauen hatten die meisten (männlichen) Mitglieder des Parlamentarischen Rats, der als verfassungsgebende Versammlung seit Herbst 1948 das Grundgesetz erarbeitete, wenig im Sinn. Elisabeth Selbert kämpfte dafür, dass Frauen nicht in staatsbürgerlichen Dingen, sondern auf allen Rechtsgebieten den Männern gleichgestellt wurden. Weil auf ihre Initiative eine Übergangsregelung im Grundgesetz festgeschrieben worden war, setzte das Bundesverfassungsgericht Ende 1953 die Gesetze außer Kraft, die dem Gleichberechtigungsgrundsatz nicht entsprachen. Erst am 1. Juli 1958 beendete das „Gesetz über die Gleichberechtigung von Mann und Frau auf dem Gebiet des bürgerlichen Rechts“ viele rechtliche Benachteiligungen von Frauen. Danke Elisabeth Selbert.

Wahl- und andere Frauenrechte

Im Februar 2016 habe ich über den Film „Suffragette – Taten statt Worte“ geschrieben und darüber, wie es auch in Deutschland noch in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhundert um die Rechte der Frauen bestellt war.  Bis 1958 durften Frauen nämlich ohne Zustimmung ihres Mannes nicht erwerbstätig sein. Der Mann entschied in allen Eheangelegenheiten; er bestimmte über die Kinder, das Geld und sogar über das Vermögen, das die Frau mit in die Ehe gebracht hatte. In einer Zeit, in der Tradewives Trend sind und junge Frauen wieder von der traditionellen Rollenverteilung träumen, ist es höchste Zeit, daran zu erinnern, wie rechtlos Frauen in den 50er Jahren waren.

Wenn Männer Frauen die Welt erklären

(Fast) alle Frauen haben es schon erlebt. Sie tun etwas – und werden ungefragt von einem Mann belehrt, wie es anders und natürlich besser geht. „Mansplaining“ heißt das Phänomen,  das sich aus den Worten Man (Mann) und explaining (erklären) zusammensetzt. Die amerikanische Schriftstellerin Rebecca Solnit hat das Wort zwar nicht erfunden, aber das Phänomen in ihrem Essay „Men Explain Things to Me“ – „Wenn Männer mir die Welt erklären“ eindrucksvoll beschrieben. Der Essay verbreitete sich rasant – und wurde erstmals 2014 auf Deutsch im gleichnamigen Buch veröffentlicht, das sechs weitere Essays von Rebecca Solnit enhält.

Aus Wien nach Hannover

Virginia Woolfs Aussage, dass Frauen ein eigenes Zimmer und ein eigenes Einkommen brauchen, um erfolgreich schreiben zu können, kennt wahrscheinlich jede schreibende Frau. Und auch ich möchte mein eigenes Zimmer natürlich nicht missen. Aber Alleinsein beim Schreiben tut vor allem Frauen offenbar nicht immer gut – ein Zimmer allein ist nicht genug. Wie inspirierend und motivierend es ist, gemeinsam mit anderen (Frauen) zu schreiben und sich auszutauschen, habe ich zum ersten Mal bei zwei Schreibtagen in Wien erlebt – und die Schreibtreff-Idee nach Hannover exportiert.

Seit 2020 schreiben interessierte Frauen einmal im Monat gemeinsam – jede an ihren eigenen Texten, ohne vorgegebenes Thema, ohne Anleitung. Anders als zu Hause lassen wir uns in dieser Schreibzeit nicht von Alltagsdingen ablenken, wir nehmen uns Zeit – für uns und unsere Schreiben. Und das ist für unsere Texte erfahrungsgemäß sehr ergiebig.

Neues Orchideenleben

Dieser Beitrag passt nicht so recht zu den anderen, die ich ausgewählt habe. Aber ich mag ihn,  so, wie ich die Orchidee mag, die vor fast sechs Jahren auf meiner Fensterbank ein neues Zuhause gefunden hat. Wie es dazu kam, verrate ich in diesem ziemlich privaten Blogpost, den einige LeserInnen berührend fanden, andere kitschig und sentimental. Aber manchmal darf es eben auch sentimental sein.

Wir sind bunt, wir sind viele

Als Friedrich Merz vor gut einem Jahr, am 22. Januar 2024, in Caren Miosgas Talksendung zu Gast war, begrüßte er laut Tagesschau.de ausdrücklich, dass „in ganz Deutschland … in den vergangenen Tagen Hunderttausende Menschen auf die Straße gegangen (waren), um gegen die AfD zu demonstrieren. Anlass waren die Enthüllungen über konspirative Treffen von AfD-Mitgliedern, bei denen Pläne besprochen wurden, Menschen mit Migrationshintergrund aus Deutschland auszuweisen.“

„Ich halte das für ein sehr, sehr ermutigendes Zeichen unserer lebendigen Demokratie‘“, wird Merz auf der Tagesschau-Website zitiert und weiter:  „Er sei kein ängstlicher Mensch, teile aber die Sorgen der Demonstranten“ – auch wenn er selbst nicht an den Demos teilnehmen konnte. Markus Söder habe in München mitdemonstriert.

13 Monate später beschimpfte Friedrich Merz bei einer Veranstaltung die Menschen, die „da draußen“ gegen rechts demonstrieren, als „grüne und linke Spinner“, die „nicht mehr alle Tassen im Schrank haben“, die „nicht klar denken können“ (#omasgegenrechts_hannover). Für sie – und also auch für mich – will er als Kanzler keine Politik machen. Denn auch ich gehöre zu den linken und grünen Spinnern.

Wirklich überrascht hat mich Friedrich Merz Sinneswandel nicht. Schließlich ist ja bekannt, wie schnell er das, was er einmal gesagt hat, vergisst. So schlug der CDU-Kanzlerkandidat laut Spiegel.de Grünen und SPD im November 2024 nach dem Bruch der Ampelkoalition vor: „‚Wir sollten vereinbaren, dass wir nur die Entscheidungen auf die Tagesordnung des Plenums setzen, über die wir uns zuvor mit Ihnen von der SPD und den Grünen in der Sache geeinigt haben.‘ So könne man ‚eine zufällige oder tatsächlich herbeigeführte Mehrheit‘ mit der AfD vermeiden. ‚Denn das hätten diese Damen und Herren von Rechtsaußen doch gern, dass sie plötzlich die Mehrheiten besorgen.‘“ Und noch am 11. Januar sagte Merz zur Zusammenarbeit mit der AfD: „‚Ich wiederhole es hier zum Mitschreiben. Eine Zusammenarbeit unter meiner Führung wird es mit der CDU in Deutschland nicht geben.‘“ und weiter: „‚Wir arbeiten nicht mit einer Partei zusammen, die ausländerfeindlich ist, die antisemitisch ist, die Rechtsradikale in ihren Reihen, die Kriminelle in ihren Reihen hält, eine Partei, die mit Russland liebäugelt und aus der Nato und der Europäischen Union austreten will.‘“  Doch schon 18 Tage nachdem er „das Aufrechterhalten der Brandmauer (…) zur Chefsache“ machte und sein „Schicksal als Parteivorsitzender der CDU an diese Antwort“ knüpfte, ließ er über seinen „5-Punkte-Plan“ zur Verschärfung der Migration abstimmen – und erreichte nur mit Stimmen der AfD eine knappe Mehrheit. Seine Aussage „Eine richtige Entscheidung wird nicht dadurch falsch, dass die Falschen zustimmen. Sie bleibt richtig“, lässt ahnen, wo er in Zukunft seine Mehrheiten suchen wird: nicht bei grünen und linken Spinnern, die es wagen, von ihrem Recht Gebrauch zu machen und friedlich zu demonstrieren  

An der Demonstration gegen den Rechtsruck beteiligten sich gestern in Hannover nach Polizeiangaben immerhin etwa 2.000 Menschen, die VeranstalterInnen, unter andererm Studis gegen rechts und Students for Future, zählten sogar 6.000 TeilnehmerInnen. Die Wahrheit liegt wahrscheinlich wie bei den meisten Demonstrationen irgendwo dazwischen. Auch wenn die Beteiligung diemal geringer war als noch vor zwei Wochen, sind wir keine kleine Minderheit. Ich weiß, dass viele meiner Bekannten meine politischen Ansichten und Ängste teilen, aber nur wenige gehen für ihre Überzeugung auf die Straße.

Für andere ist das Maß jetzt voll. Zum Beispiel für den Mann, der bei der Demo gestern zufällig eine Zeit lang neben mir ging. Als wir ein paar Minuten in der Nähe des AfD-Stands stoppen mussten, kamen wir, beide wohl über 60, ins Gespräch. Er sei lange CDU-Mitglied gewesen und dies sei seine erste Demo, erzählte er. Auf dem Weg zur Demo hatte uns ein junges Paar angesprochen, weil wir unsere Omas- und Opas-gegen-rechts-Westen trugen. Auch sie outeten sich als CDU-Mitglieder, fanden es aber gut, dass die Omas und Opas auf die Straße gehen.

Oma und Opa gegen rechts

Ihre beiden Kinder waren etwa so alt wie unsere Enkelkinder – und wenn ich gegen rechts demonstriere, tue ich es auch ihretwegen und für sie. Denn was soll ich ihnen sagen, wenn sie mich irgendwann fragen, wo ich war, was ich getan habe, als es angefangen hat. Als die Brandmauer gefallen ist, als CDU und FDP im Bundestag mit Hilfe der AfD die Migrationspolitik verschärfen wollten. Ich habe mich immer dafür geschämt, dass meine Onkel mitgemacht haben, als in der Pogromnacht 1938 Jüdinnen und Juden in ihrem/meinem Heimatort angegriffen, ihre Häuser zerstört wurden. Ich möchte nicht, dass meine Enkelkinder sich irgendwann für mich schämen müssen.

Ja, ich gebe zu, das Video, das ich gestern Abend auf dem Instagram-Kanal der #Omasgegenrechts gesehen habe, macht mir Angst. Angst vor dem, was auf uns zu kommt, wenn dieser Mann Bundeskanzler wird. Und ich fürchte, dass die Demonstration gestern nicht die letzte sein wird. Auch nach der Wahl werden wir „linken und grünen Spinner“ wohl wieder auf die Straße gehen und demonstrieren: gegen die sich ausbreitende Geschichtsdemenz in unserem Land, gegen rechtsextreme und gegen die, die mit ihnen gemeinsame Sache machen.

All die, die immer noch schweigen, möchte ich an Martin Niemöllers Aussage erinnern, die „viel zitiert, oft abgewandelt, manchmal missbraucht, immer noch aktuell“ ist:

Als die Nazis die Kommunisten holten,
habe ich geschwiegen,
ich war ja kein Kommunist.

Als sie die Sozialdemokraten einsperrten,
habe ich geschwiegen,
ich war ja kein Sozialdemokrat.

Als sie die Gewerkschafter holten,
habe ich geschwiegen,
ich war ja kein Gewerkschafter.

Als sie mich holten,
gab es keinen mehr,
der protestieren konnte.

Nachzulesen unter https://martin-niemoeller-stiftung.de/martin-niemoeller/als-die-nazis-die-kommunisten-holten

Nie wieder ist jetzt

Am vergangenen Donnerstag war ich bei einer Mahnwache vor dem Holocaust Mahnmal auf dem Opernplatz in Hannover, zu der die „Omas gegen rechts“ aufgerufen hatten. Wir wollten am 9. November, am 85. Jahrestag der Pogromnacht, nicht nur an die Holocaust-Opfer, sondern auch an die Opfer des Massakers der Hamas in Israel erinnern. Und wir wollten ein Zeichen setzen – gegen den wachsenden Antisemitismus in Deutschland und in vielen anderen Ländern.

In dem Mahnmal, das vom Verein Memoriam initiiert, aus privaten Spenden finanziert und 1994 nach einem Entwurf des italienischen Künstlers Michelangelo Pistoletto gestaltet wurde, sind 1.935 Namen von deportierten und ermordeten Menschen in Stein gemeißelt. Auf einer zentralen Inschrift ist zu lesen: „Dieses Mahnmal ist zur bleibenden Erinnerung an über 6800 Juden Hannovers errichtet worden: Viele Familien lebten hier seit Generationen. Ab 1933 wurden sie von den Nationalsozialisten gedemütigt, entrechtet, verjagt, in den Selbstmord getrieben oder getötet: Die verbliebenen jüdischen Kinder, Frauen und Männer mussten 1941 ihre Wohnungen räumen und wurden unter Mithilfe der Stadtverwaltung in „Judenhäusern“ zusammengepfercht. Von dort aus wurden sie ohne nennenswerten Widerstand der übrigen Bevölkerung aus der Bürgerschaft herausgerissen, deportiert und ermordet.“ https://de.wikipedia.org/wiki/Mahnmal_für_die_ermordeten_Juden_Hannovers

1.935 Namen – 1.935 Menschen jüdischen Glaubens, die aus Hannover deportiert wurden. Die meisten wurden ermordet.

Während ich da stehe, schweifen meine Gedanken ab in meinen Heimatort an der Mosel. Dort gab es seit dem Mittelalter eine große jüdische Gemeinde, eine jüdische Schule und bis 1938 sogar eine Synagoge. Im Jahr 1933 lebten in Neumagen und im Nachbarort Niederemmel immerhin noch 75 Jüdinnen und Juden, 1938 – nach fünf Jahren Hetze und Schikane – waren es nur noch 20. Nach dem November-Pogrom verließen weitere jüdische Familien Neumagen, einige emigrierten in die USA. „Die letzten Einwohner jüdischen Glaubens wurden 1942 deportiert“, heißt es bei Wikipedia ( https://de.wikipedia.org/wiki/Synagoge_(Neumagen). „Das Gedenkbuch – Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft 1933–1945 und die Zentrale Datenbank der Namen der Holocaustopfer von Yad Vashem führen 18 Mitglieder der jüdischen Gemeinschaft Neumagen (die dort geboren wurden oder zeitweise lebten) auf, die während der Zeit des Nationalsozialismus ermordet wurden.“

Die Neumagener Synagoge in der Bogengasse wurde in der Pogromnacht „nur“ verwüstet, sicher auch, weil der Mob befürchte, ein Feuer könnte in der engen Gasse auf die Nachbarhäuser übergreifen. „Heute drangen SA-Leute in die Wohnungen der wenigen noch hier lebenden Juden ein, sie zerschlugen alles, was ihnen in die Hände fiel. Altes Porzellan, Schränke u.w; die Synagoge ist im Innern vollständig zertrümmert, alle Möbel zerschlagen. Alle Fenster, auch die Eisenteile zertrümmert, die Thorarollen und alten Bücher entfernt“, steht in der Neumagener Chronik (Seite 171).

An der Pogromnacht im November 1938 beteiligten sich nicht nur SA-Leute, sondern ganz normale Bürgeer. Auch meine drei Onkel, damals 19, 17 und 13 Jahre alt, machten wohl mit. Offen wurde darüber in unserer Familie nicht gesprochen. Wie in vielen Familien waren Kriegs- und NS-Zeit auch bei uns tabu. Nur wenn meine Tante und mein Onkel gleichzeitig bei uns zu Besuch waren, kam es gelegentlich zu heftigen Diskussionen: Dann warf meine Tante, die Jüngste in der Familie, dem Ältesten – dem einzigen Bruder, der den Krieg überlebt hatte – vor, seinen kleinen Bruder in jener Nacht mitgenommen, in den braunen Sumpf hineingezogen zu haben. „Er war damals 13, allein hätte Mama ihn nicht gehen lassen“, empörte sie sich einmal.

Wenn ich an meinen jüngsten Onkel denke, kommt mir eine Passage aus Jorge Sempruns Buch „Die große Reise“ in den Sinn. Er erzählt darin, wie ein etwa zehnjähriger Junge bei einem Halt im Bahnhof Trier einen Stein gegen die Gitter des Wagons schleuderte, in dem Semprun im Januar 1944 mit Hunderten anderer Gefangener ins KZ Buchenwald deportiert wurde.

„Ich frage mich, wie viele Deutsche noch umgebracht werden müssen, damit dieses deutsche Kind Aussicht hat, kein Boche zu werden. Er kann nichts dafür, und doch kann er dafür. Er hat sich nicht selber zu einem kleinen Nazi gemacht und doch ist er ein kleiner Nazi. Vielleicht hat er schon gar keine andere Wahl mehr, als jetzt ein kleiner Nazi zu sein und später ein großer Nazi zu werden“, schreibt er. „Das einzige, was uns vorderhand übrigbleibt, damit dieser Junge noch Aussicht hat, kein kleiner Nazi mehr zu sein, ist die Vernichtung der deutschen Armee.“ (Jorge Semprun, Die große Reise, S. 37) 

Er hatte recht. Zumindest mein jüngster Onkel hatte eigentlich keine Chance, kein Nazi zu werden. Er war erst sieben, als Hitler an die Macht kam und die Indoktrination in der Schule, in Hitlerjugend und sicher auch in der Familie begann. Ein wirklich großer Nazi wurde er zum Glück aber nicht, weil die Alliierten in der Normandie landeten. Er starb dort mit 18 Jahren, kurz nach dem D-Day. Und ich frage mich immer wieder, ob er bis zum Schluss überzeugter Nazi blieb oder ob ihm irgendwann Zweifel kamen.

Heute gibt es, anders als damals, unabhängige Medien. JedeR kann sich informieren – oder könnte es, wenn er oder sie es wollte. Trotzdem nimmt der Antisemitismus weltweit zu – auch in Deutschland und nicht erst seit dem Terroranschlag der Hamas auf Israel.

Abfällige Bemerkungen, Judenwitze, Aufkleber mit antisemitischen Symbolen, Verschwörungsmythen, körperliche Angriffe oder gar Attentate auf jüdische Menschen und Einrichtungen sind in Deutschland schon lange wieder Alltag. „Der Hass auf Jüdinnen und Juden eint mitunter sogar Gruppen, die sich sonst eher feindlich gegenüberstehen, zum Beispiel rechte, linke und/oder muslimische Jugendliche“, habe ich im Frühjahr 2021 in einem Artikel geschrieben (https://www.friedrich-verlag.de/bildung-plus/schulleben/meet-a-jew/).

Nie wieder – das sagen viele, aber es ist leider oft nur ein Lippenbekenntnis. Die Solidarität mit Jüdinnen und Juden ist begrenzt, die Mehrheit schweigt, wie damals. Zur Mahnwache der Omas gegen rechts kamen gestern gerade mal 30 bis 40 Menschen – meist ältere Frauen und einige ältere Männer. Die meisten Passantinnen und Passanten gingen nach einem kurzen Blick auf unsere Gruppe achtlos weiter. Wen interessiert schon, was ein paar Omas und Opas zu sagen haben. Nicht einmal die Polizei kam, um unsere Berechtigung zu überprüfen. Denn die hatte an diesem Tag leider Wichtigeres zu tun. Hierzulande müssen nämlich wieder Synagogen, Schulen, Kitas und Menschen jüdischen Glaubens geschützt werden.

Es ist Zeit, aufzustehen. Nie wieder ist jetzt.  

Wer mag, kann auch meinen Artikel über Klassenreisen gegen Antisemitismus und Rassismus lesen.

https://www.friedrich-verlag.de/bildung-plus/schulleben/auf-den-spuren-anne-franks/