Der 27. September oder „Jedertag“

Jedes Jahr Ende September kommt mir ein Schreibprojekt in den Sinn, das Maxim Gorki vor 90 Jahren initiiert hat. Er rief im Jahr 1935 seine SchriftstellerkollegInnen in aller Welt auf, einen ganz gewöhnlichen Tag in ihrem Leben möglichst genau zu beschreiben und auf diese Weise einen „Jedertag“ zu porträtieren.

Remember: 27. September

Das Leben der meisten Menschen besteht aus eher banalen „Alltagen“, in der Literatur kommen ereignislose Tage dagegen kaum vor. „Die Literatur liebt es, das Leben zu dramatisieren. Sie strafft und konzentriert die Ereignisse, sie inszeniert sie, sie spitzt sie zu, sie verdichtet sie im doppelten Sinne des Wortes. In der Literatur ist das Leben überlebensgroß. Noch aus der Ereignislosigkeit möchte sie ein Ereignis machen – doch zum Wesen des Jedertags gehört, kein Ereignis zu sein“, schrieb der Autor und Literaturkritiker Uwe Wittstock am 27. September 2009 in einem Artikel in der Welt.

Den 27. September wählte Gorki wohl eher zufällig aus. Das Projekt „Ein Tag der Welt“ soll zwar auf positive Resonanz gestoßen sein, es wurde aber nach Gorkis Tod im Jahr 1936 nicht weitergeführt. Erst 25 Jahre später wiederholte die Zeitschrift Istwestja den Aufruf, von dem ich sicher nie etwas erfahren hätte, wenn, ja wenn Christa Wolf, damals noch eine junge, unbekannte Autorin, nicht von der Idee begeistert gewesen wäre: Sie beschrieb den 27. September 1960 – und alle folgenden 27. September bis zum Jahr 2011. Die letzten Aufzeichnungen brach sie ab, weil sie keine Kraft mehr hatte.

Die gesammelten Texte sind im Suhrkamp Verlag erschienen, der erste Band im Jahr 2003 unter dem Titel „Ein Tag im Jahr, 1960–2000“. Die Tagesberichte der Jahre 2001 bis 2011 – „Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert“ – veröffentlichte Gerhard Wolf nach dem Tod seiner Frau. Christa Wolf beschreibt darin ihren Alltag als berufstätige Mutter und zeitgeschichtliche Ereignisse. Sie gibt Einblicke in ihr Leben als Schriftstellerin – und in die Gesellschaft.

Mich fasziniert das Projekt, seit ich die beiden Bücher gelesen habe, und ich überlege immer wieder, wie diese Tradition fortgeführt werden kann. Die Altusrieder Autorin Angelika Jesse von Borstel tut dies seit 2012. Sie ruft schreibende Frauen ihrer Region dazu auf, ihren 27. September zu protokollieren. Anfang Dezember – um den Todestag Christa Wolfs – treffen sich die Schreiberinnen dann im Frauenzentrum in Kempten zu einer Literarischen Gesprächsrunde, lesen ihre Tages-Notizen vor und tauschen ihre Gedanken aus.

Vielleicht motiviert ja auch dieser Blogbeitrag Schreibende in anderen Regionen diesem Beispiel zu folgen.

PS:

Natürlich darf in meinem Blogbeitrag über den 27. September das Gedicht von Thomas Brasch nicht unerwähnt bleiben. Das Gedicht, das Braschs bekanntesten Gedichtband „Der schöne 27. September“ den Namen gab, ist vermutlich eine Antwort auf ein Tagesprotokoll von Christa Wolf. Die schrieb wiederum das Nachwort zu dem 2004 im Suhrkamp Verlag veröffentlichten Gedichtband.

Laut Uwe Wittstock kannten und respektierten sich beide, obwohl es zwischen ihnen nicht viele (literarische) Gemeinsamkeiten gab. „Der eine war ein Rebell, die andere eine Zweifelnde“, schrieb Wittstock in der Welt. Und: „Als Christa Wolf 1987 gebeten wurde, als alleinige Jurorin den Kleistpreis an einen Schriftsteller ihrer Wahl zu vergeben, sprach sie ihn Thomas Brasch zu“, der damals schon die DDR verlassen hatte und in der Bundesrepublik lebte.

Nachzulesen ist Thomas Braschs  Gedicht unter https://marionbrasch.de/2018/09/27/der-schoene-27-september/

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