Blick zurück nach vorn

Letzte Woche habe ich die beiden letzten Artikel für eine Zeitschrift abgegeben, die ich einige Jahre als verantwortliche Redakteurin betreut habe, heute dann die gestalteten Seiten korrigiert. Jetzt ist dieses Kapitel abgeschlossen. Ich habe vier Jahrzehnte lang mit Schreiben meinen Lebensunterhalt verdient. Jetzt nehme ich keine Schreibaufträge mehr an, sondern schreibe „nur noch“, was mir gefällt. Blogbeiträge wie diesen zum Beispiel.

Ist es Zufall oder ein Zeichen, dass jetzt der richtige Zeitpunkt ist, aufzuhören? Vor genau 40 Jahren, im August 1983, habe ich ein Praktikum im Verlag Heinen, einem kleinen Verlag an der Mosel, begonnen. Das war zwar unbezahlt, aber ich war trotzdem überglücklich. Denn ich wollte auf keinen Fall Lehrerin werden – und Jobs in Verlagen damals waren rar und heiß begehrt. Ohne Praktika oder Kontakte hatte frau keine Chance, den Einstieg ins Verlagswesen oder bei einer Zeitung zu schaffen.

Auch mir hat damals ein Bekannter geholfen: Wir hatten ein paar Jahre zusammen in einer Leichtathletikgruppe trainiert und uns dann während meines Studiums aus den Augen verloren. Bei einem Weinfest trafen wir uns wieder und kamen ins Gespräch: Er erzählte mir, dass er Geschäftsführer eines Verlags sei, ich ihm, dass ich eine Stelle in einem Verlag suchte. So hat alles angefangen.

Ich bin dann wieder zurück in meinen Heimatort gezogen, denn aus dem Praktikum wurde nach drei Monaten ein bezahltes Volontariat. Gelernt habe ich in dem Verlag viel, vor allem „by doing“. Ich war von Anfang an für eine Buchreihe zuständig und habe nicht nur Texte lektoriert, sondern auch viele selbst geschrieben und für die Bücher fotografiert. Drei Jahre lang habe ich an der Mosel gearbeitet und gelebt – wahrscheinlich in dieser Reihenfolge wie so oft, vielleicht allzuoft, in meinem Leben. Dann bin ich der Liebe wegen in den Norden gezogen und habe beruflich neu angefangen.

Meine Erfahrung im Verlag hat mir nach dem Umzug Türen geöffnet. Die vier Bücher, an denen ich als Autorin und Fotografin mitgearbeitet hatte, haben bei Bewerbungen beeindruckt. Trotzdem war die Chance, eine feste Stelle zu finden, als Mutter eines kleinen Kinden gleich null: Krippenplätze gab es damals in meinem neuen Wohnort noch nicht, den ersten Kindergartenplatz bekam meine Tochter mit dreieinhalb Jahren in der Nachmittagsgruppe: Betreuungszeit von 14 bis 17 Uhr. Aber wenn ich wirklich einmal erst um 17 Uhr kam, um Nele abzuholen, erntete ich böse Blicke. Ich hatte als einzige Mutter in meinem Bekanntenkreis meinen Beruf nicht aufgegeben und galt als Rabenmutter, weil ich lieber arbeitete, statt mich um mein Kind zu kümmern. Und ich überließ seine Betreuung „Fremden“, wenn ich Termine hatte oder am Schreibtisch saß – gelegentlich meinen Eltern oder meiner Nachbarin, deren Tochter mit meiner befreundet war, meist aber meinem Mann, also Neles Vater.

Natürlich hatte ich ein schlechtes Gewissen. Dass es eigentlich ein Kompliment, eine Rabenmutter zu sein, wurde mir erst später bewusst. Raben sind nämlich nicht nur sehr intelligent, sondern auch ausgesprochen gute Eltern: Sie kümmern sich sehr lange und intensiv um ihren Nachwuchs; bis zu vier Jahre bleiben die kleinen Raben im Nest und lernen von ihren Eltern in dieser Zeit auch komplexe Dinge (https://www.ardalpha.de/wissen/natur/tiere/intelligenz-kraehen-raben-rabenvoegel-voegel-100.html). Außerdem betreuen Rabenväter und -mütter die Kleinen oft gemeinsam, sind also ein Vorbild in Sachen partnerschaftliche Arbeitsteilung und in der Vereinbarkeit von Beruf und Familie.

Solche Vorbilder braucht es in der Menschenwelt noch immer, auch wenn sich bei der Kinderbetreuung und in der Einstellung zur Erwerbstätigkeit von Müttern in Deutschland vieles geändert hat. Seit zehn Jahren haben Kinder ab dem ersten Geburtstag das Recht auf einen Betreuungsplatz, aber nicht alle bekommen einen. Nach einer Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (https://www.bib.bund.de/Publikation/2022/pdf/15-Jahre-Elterngeld-Erfolge-aber-noch-Handlungsbedarf.pdf?__blob=publicationFile&v=2) arbeiten inzwischen mehr als die Hälfte (56 Prozent) der Mütter mit Kindern unter drei Jahren. Viele Väter nehmen Elternzeit, die meisten der Studie zufolge allerdings nur zwei Monate – und fast immer zusammen mit ihren Partnerinnen. Dass Väter ein ganzes Jahr aus dem Beruf aussteigen und sich hauptberuflich um Haushalt und Kinder kümmern, ist immer noch die Ausnahme. Der Fortschritt ist halt (manchmal) eine Schnecke. Und womöglich dauert es noch einmal vierzig Jahre, bis sich Väter und Mütter die Familien- und Erwerbsarbeit wirklich partnerschaftlich teilen.

Aber vielleicht gelingt der Wandel ja auch schneller. Denn die Arbeitsbedingungen haben sich in vielen Berufen – auch in meinem – rasant geändert. Zwar schrieben wir unsere Texte schon in den 1980-Jahren am Computer, doch sie wurden im Vor-Internet-Zeitalter noch auf Disketten gespeichert und in die Lithoanstalt gebracht oder geschickt. Die dort gefertigten Schwarz-Weiß-Filme montierte mein Kollege, gelernter Schriftsetzer, von Hand mit den Vierfarb-Lithos der Fotos zu (druck)fertigen Seiten. Bei nachträglichen Korrekturen mussten neue Filme gezogen und in die Seiten einmontiert werden – ein ziemlich arbeits- und kostenaufwendiger Prozess. Fotos nachträglich auszutauschen, war für uns völlig tabu. Ein Vierfarb-Litho von einem etwa 10 x 15 cm großen Foto kostete damals rund 400 DM – viel Geld für einen kleinen Verlag mit einem begrenzten Budget.

Längst gebe ich meine Texte selbst in das Layoutprogramm ein und korrigiere die gestalteten Seiten – von meinem Computer zu Hause oder wo immer ich gerade bin. Und auch Fotos können heute ohne großen Aufwand getauscht, vergrößert oder verschoben werden. In manchen Verlagen gestalten die RedakteurInnen die Seiten, Zeitschriften oder ganze Bücher selbst und übernehmen „nebenbei“ viele organisatorische und administrative Aufgaben. Zum Schreiben und zum Redigieren bleibt ihnen oft nur noch wenig Zeit, zu wenig, wie manche bedauern. Und vielleicht übernehmen das Texten in Zukunft künstliche Intelligenzen.

Ich bin gespannt, wo die Reise hingeht, aber ich bin froh, dass ich es ab jetzt von außen beobachten kann. Ich habe die Entscheidung gegen die Schule, für den Journalismus nie bereut. Ich wäre keine gute Lehrerin geworden, aber ich war eine recht gute Journalistin – und ich war es gerne. Recherchieren und schreiben haben mir immer Spaß gemacht – es war für mich mehr als ein Job und ich werde es weiter tun. Aber vier Jahrzehnte „Lohnschreiberei“ sind genug – ich freue mich, dass ich künftig schreiben kann, was und für wen es mir gefällt. Zum Beispiel für die LeserInnen meines Blogs.

Das Schreiben ist der Wanderin Lust

„Schreibst du mal wieder einen Blog“, fragte mein Mann am Sonntag. Und als kurz danach Dorothees Mail mit dem Link zu den gesammelten Fotos unserer Wandergruppe und zu ihrem Blogbeitrag (https://wandernundschreiben.de/rueckblick-zeit-fuers-ich-schreibwanderungen-im-allgaeu/) in meinem E-Mail-Postfach landete, war klar, dass ich – endlich – selbst über das Schreibwanderwochenende in Bad Hindelang schreiben musste.

Ich bin noch nie im Hochgebirge gewandert, möchte aber irgendwann in nicht allzu ferner Zukunft die Alpen zu Fuß überqueren. Das von Schreibtrainerin Dorothee Köhler und Wanderführerin Cilli Bauer angebotene Schreibwanderwochenende war daher eine gute Gelegenheit, meine Alpentauglichkeit zu testen. Die Anforderungen – drei bis vier Stunden Gehzeit und bis zu 500 Höhenmeter im Aufstieg pro Tag mit (Schreib)Pausen zwischendurch – schienen machbar und waren es auch.

Die Kombination von Schreiben und Wandern (https://timetoflyblog.com/wandern-und-schreiben) hat mich natürlich ebenfalls gereizt. Während ich erst regelmäßig wandere und walke, seit ich wegen meiner Knie – genau genommen wegen des rechten – nicht mehr laufen kann, schreibe ich seit einem halben Jahrhundert. Und wenn ich wandere oder auch nur spazieren gehe, habe ich mein Notizheft, mein Tage- und mein Skizzenbuch immer dabei.

Immer dabei: ein Notiz- und Schreibheft

In den Alpen war ich bislang noch nie; ich bin nur auf dem Weg nach Italien mit dem Auto durch das Gebirge gefahren. Die Tage in Bad Hindelang waren für mich also eine Premiere – und zwar eine gelungene. Meine erste Wanderung in den Alpen wird, das habe ich mir fest vorgenommen, nicht die letzte sein.

Mit 300 Kilometern gut ausgeschilderten Wanderwegen ist Bad Hindelang, im Naturschutzgebiet Allgäuer Hochalpen gelegen, ein sehr guter Ausgangspunkt für Wanderungen. Und die Ausblicke sowohl von der Terrasse unserer Unterkunft, der Jugendbildungsstätte des Deutschen Alpenvereins im Hindelanger Ortsteil Bad Oberndorf, als auch bei unseren Wanderungen haben mich wirklich beeindruckt. Ich hätte stundenlang schauen können.

Auseinanderhalten konnte ich die vielen Gipfel jedoch nicht, obwohl sich Cilli Bauer redlich bemühte, uns die Umgebung zu erklären. Sie war für Technik- und Ausrüstungstipps zuständig, Dorothee Köhler für die Schreibimpulse während und nach den Wanderungen. Die Touren, die beide gemeinsam ausgesucht haben, waren landschaftlich toll – und trotzdem selbst für eine kniegeschädigte Flachländerin wie mich gut zu bewältigen. Wir sind am ersten Tag zum Schleierfall und zum Wildfräuleinstein gewandert, am zweiten dann durch den Hirschbachtobel auf den 1.479 Meter hohen Hirschberg gestiegen.

Wo die wilden Frauen wohnen: der Wildfräuleinstein

Noch höher hinaus – aufs 1.655 Meter hohe Imberger Horn – ging es am Sonntag, dem leider letzten Wandertag. Die meisten der insgesamt 800 Höhenmeter haben wir allerdings nicht zu Fuß zurückgelegt, sondern mit Hornbahn, einer Gondelbahn, die in Bad Oberndorf beginnt und auf 1.314 Meter endet.

Ich war in unserer Gruppe nicht nur die älteste Teilnehmerin, sondern auch die einzige ohne Wandererfahrung im Hochgebirge. Doch meine Kondition ist dank jahrelangem Ausdauertraining, durchschnittlich (fast) 10.000 Schritten täglich und gelegentlichen Wanderungen mit meiner Tochter noch recht gut. Beim Bergauf-Gehen hatte ich selbst in steilen Passagen gar keine Probleme; ich bin, wie mein früherer Schwager behauptete, (immer noch) klein, wetterfest und geländegängig. Temperaturen über 25 Grad machen mir, anders als vielen anderen, nichts aus. Und gegen schmerzende Knie beim Bergab-Gehen halfen meine Wanderstöcke und Cillis Techniktipps.

Und so bin ich, was die Alpenüberquerung angeht, recht optimistisch. Mit ein bisschen Training kann ich es sicher schaffen. Weil aber weder mein Mut noch mein Orientierungsvermögen und meine Erfahrung ausreichen, um eine so lange und wohl auch schwierige Strecke alleine zu bewältigen, kommt für mich eigentlich nur eine geführte Wanderung in Frage.

Aber ich bin, auch das ist ein Fazit des Schreibwanderwochenendes, nur bedingt wandergruppentauglich. Dass unsere Gruppe in Hindelang – acht Frauen und ein Mann – in der kurzen Zeit zusammengewachsen ist und so gut harmonierte, lag sicher auch daran, dass wir alle nicht nur wandern, sondern auch schreiben wollten. Die gemeinsamen Interessen verbinden. Doch so viel Rücksicht aufeinander gibt es vielleicht nicht in jeder Gruppe.

Aber die Begleitung muss stimmen. Denn es ist es für mich gerade bei längeren Wanderungen wichtig, mein eigenes Tempo zu finden: Bergauf gehe ich gerne schneller, bergab darf oder muss es dann auch wegen meiner Knie etwas langsamer sein. Irgendwo zu warten, macht mir nichts aus, im Gegenteil: Ich nutze solche Pausen gerne, um zu schreiben, zu zeichnen, zu lesen oder einfach nur nachzudenken. Schwieriger ist es für mich, wenn ich das Gefühl habe, dass alle anderen auf mich warten müssen. Deshalb suche ich jetzt nicht nur nach einer schönen, nicht allzu überlaufenen Route, sondern auch nach einer passenden (Klein)Gruppe resp. Mitwanderinnen.

Aber manchmal geschehen ja bekanntlich hilfreiche Dinge wie von selbst, wenn wir uns ein Ziel setzen, einen Traum oder ein Projekt verwirklichen wollen. Und vielleicht landet ja demnächst wieder – wie schon im Februar – eine Einladung zu einer Wanderung in meinem elektronischen Postfach. Diesmal für eine längere.

2023 einhalb

5. Juli, die zweite Jahreshälfte hat vor ein paar Tagen begonnen, Zeit also, darüber nachzudenken und darüber zu schreiben, was – frei nach Reinhard Mey – „aus all dem geworden (ist), was ich mir am Neujahrsmorgen, ganz fest vorgenommen hab?“

Meine guten Vorsätze für das Jahr 2023 waren, das stelle ich beim Blättern in alten Tagebüchern und beim Scrollen durch alte Blogbeiträge fest, fast die gleichen wie in den vergangenen Jahren. Und wie in den Jahren davor habe ich auch in diesem vieles, was ich mir vorgenommen habe, nicht durchgehalten. „Die zweite Yogaeinheit am Abend beispielsweise oder das tägliche Meditieren sind ebenso hehre Ziele geblieben wie die tägliche Skizze“  – den Satz brauchte ich nicht neu zu formulieren, sondern konnte ihn unverändert aus der Halbjahresbilanz 2021 in diesen Text kopieren (https://timetoflyblog.com/2021-einhalb). Ich trinke immer noch (viel) zu wenig und auch was die tägliche Bewegung angeht, bleibe ich – allerdings nur knapp – hinter meinen Vorsätzen zurück. Durchschnittlich 9.898 Schritte bin ich seit Anfang des Jahres jeden Tag gegangen. Die angestrebten 10.000 Schritte täglich sind also immerhin in Reichweite.

Gelesen habe ich in diesem Jahr nach meiner wahrscheinlich nicht vollständigen Liste 33 Bücher, das sind mehr, als ich mir vorgenommen habe (ein Buch je Woche). Und ich bin erfreulicherweise mehr gereist als in den vergangenen Jahren. Wir waren mit dem Wohnmobil drei Wochen in Italien und ein paar Tage auf Fehmarn.

Dank des 49-Euro-Tickets kann ich es mir leisten, zwischendurch einfach mal mit der Bahn irgendwohin zu fahren– beispielsweise zu meiner Tochter in den Harz, zu den Enkelkindern nach Hamburg, zum Stadtbummel nach Lüneburg oder zu einem Vortrag nach Würzburg. Die Reise nach Franken war irgendwo auch eine Reise in die Vergangenheit: Als ich in den 1980er-Jahren mein Volontariat in einem kleinen Buchverlag machte, war der Bildband über Franken das erste Projekt, für das ich verantwortlich war, für das ich viele Texte geschrieben und auch Fotos gemacht habe – analog natürlich. Damals war ich oft im Juliusspital, in dem der Vortrag stattfand, allerdings nicht im Krankenhaus, sondern im Weingut, das zum Krankenhaus gehört. Oder umgekehrt.

Bei meinen Besuchen in Würzburg habe ich auch den Leiter des Weinguts des Bürgerspitals kennengelernt, das wie das Juliusspital zu den großen Weingütern der Stadt und in Franken gehört. Rudolf Frieß schenkte mir dann zwei Jahre später zwei Bocksbeutel mit Frankenwein: einen zur Geburt meiner Tochter, den anderen zu unserer Hochzeit – ja, in dieser Reihenfolge. Die beiden Flaschen mit meiner fränkischen Lieblingssorte Rieslaner liegen noch im Keller. Vielleicht öffne ich eine, wenn ich demnächst meine beiden letzten beiden Auftragsartikel abgegeben habe und nach fast 40 Jahren aufhöre, als Journalistin zu arbeiten. So schließt sich der Kreis.

In der ersten Jahreshälfte habe ich noch mehr Schreibaufträge angenommen als geplant. Das wird sich ändern. Künftig will ich nur noch für mich schreiben, das habe ich mir fest vorgenommen: Blogbeiträge, Essays und vielleicht auch wieder ein Buch. Vielleicht schaffe ich es ja dann auch, regelmäßig am Ende des Monats Bilanz zu ziehen wie Anke auf ihrem Blog https://www.goingandflowing.de/ oder – Fernziel – wie stancerbn allwöchentlich auf die vergangene Woche zurückzublicken https://alltaeglichesundausgedachtes.com/. Und vielleicht erreiche ich dann ja zumindest in der zweiten Jahreshälfte mein Ziel: zwei Blogartikel vor Woche. Im ersten Halbjahr war es gerade mal ein Post je Woche. Immerhin.

Mehr schreiben, lesen, zeichnen, wandern, reisen – und endlich FreundInnen wiedersehen, die ich schon ewig nicht mehr gesehen, steht auf der Wunschliste, die ich letzte Woche geschrieben habe. Morgen Abend fahre ich zu einem Schreib- und Wanderwochenende in die Alpen und bessere dabei hoffentlich auch meine Schrittebilanz auf. Mein kleines Skizzenbuch nehme ich natürlich auch mit. Ein guter Start also in eine – frei nach Reinhard Mey –

„gute zweite Halbzeit
Und ein gutes altes Jahr
Werde, was Ihr Euch wünscht Wirklichkeit
Bis zum 1. Januar!“
https://www.songtexte.com/songtext/reinhard-mey/71-12-4bda0706.html

In Memoriam: Orlando Orlandi Posti

In meinem Blogbeitrag über die Stadt der Tagebücher im Mai habe ich über die Briefe eines jungen Mannes geschrieben, die mich sehr beeindruckt und an Anne Franks Tagebuch erinnert haben (https://timetoflyblog.com/die-stadt-der-tagebuecher). Seinen Namen hatte ich mir leider nicht gemerkt – es waren wohl einfach zu viele Informationen und Eindrücke an diesem Vormittag. Inzwischen habe ich ihn von Silvia Gennaioli von der Fondazione Archivio Diaristico Nazionale in Pieve Santo Stefano, die mich Anfang Mai durch das Tagebuchmuseum führte, erfahren.

Orlando Orlandi Posti war Student, Mitbegründer der Italienischen Revolutionären Studentenvereinigung (ARSI) und eine der Geiseln, die im Zweiten Weltkrieg von deutschen Soldaten beim Massaker in den Ardeatinischen Höhlen ermordet wurden. Der 17-Jährige wurde Anfang Februar 1944 von der SS verhaftet, als er seine Freunde vor einer geplanten Razzia der deutschen Besatzer im Bezirk Monte Sacro warnen wollte. Während seiner fast zwei monatigen Gefangenschaft in der Via Tasso gelang es ihm, Briefe an seine Mutter zu schreiben und aus dem Gefängnis zu schmuggeln.

Über das Massaker in den Ardeatinischen Höhlen (Fosse Ardeatine) wissen die meisten Menschen in Deutschland wenig oder gar nichts. Ich gebe zu: Auch ich musste zuerst recherchieren, was dort geschehen war, bevor ich diesen Beitrag schreiben konnte. Dabei habe ich mich immer für Geschichte interessiert und das Fach – allerdings vor sehr langer Zeit – studiert.

Am 24. März 1944 ermordeten deutsche Soldaten 335 Menschen –  als Vergeltungsmaßnahme für den Tod von 33 Südtiroler Polizisten, die am Tag zuvor bei einem Bombenanschlag von italienischen Widerstandskämpfern in der Via Rasella ums Leben gekommen waren (https://de.wikipedia.org/wiki/Massaker_in_den_Ardeatinischen_Höhlen). Die Hinrichtungen dauerten einen ganzen Nachmittag; die jüngste ermordete Geisel war 15 Jahre alt, die älteste 74. Orlando Orlandi Posti starb ein paar Tage nach seinem 18. Geburtstag. Seine Träume, nach dem Krieg und der deutschen Besatzung Medizin zu studieren, zu reisen, in Freiheit zu leben, konnte er nicht verwirklichen.

Seine Mörder durften weiter leben, alt werden und in Freiheit sterben. Herbert Kappler, der Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD in Rom, der das Kriegsverbrechen organisierte und einige Geiseln selbst ermordete, wurde zwar 1948 zu lebenslanger Haft verurteilt. Aber er konnte vor seinem Tod im Februar 1978 aus dem Gefängnis fliehen (https://de.wikipedia.org/wiki/Herbert_Kappler). SS-Hauptsturmführer Erich Priebke, der die Erschießungen protokollierte und auch selbst Geiseln erschoss, tauchte nach dem Krieg unter und floh mit seiner Familie nach Südamerika – unterstützt von katholischen Geistlichen. Ein halbes Jahrhundert lebte der Kriegsverbrecher unbehelligt in Argentinien. Erst 1998 wurde er in Italien zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt, die jedoch wegen seines Alters in Hausarrest umgewandelt wurde.

„Im Prozess 1996 vor dem Militärgericht berief sich Priebke auf den Befehlsnotstand“, schrieb Malte Herwig in einem Artikel, der im Oktober 2013, kurz nach Priebkes 100. Geburtstag, im Magazin der Süddeutschen Zeitung erschien (https://sz-magazin.sueddeutsche.de/geschichte/der-letzte-fall-79973). Seine Beteiligung am Massaker bereute er auch kurz vor seinem Tod nicht, ein Fehler sei nur gewesen, dass „Leider Gottes … fünfe zu viel erschossen worden“ sind, nämlich 335 Menschen statt 330: für jeden getöteten Polizisten zehn unschuldige Geiseln. Er bemitleidete nur sich selbst und seine Mittäter. „Für uns war das ja furchtbar“, sagte Priebke, der sich selbst als gläubigen Christ bezeichnete. Mögen er und alle seine Helfer und Helfershelfer ewig in der Hölle schmoren.

Als ich den Artikel las, kam mir der Begriff von der „Banalität des Bösen“ in den Sinn, den die Philosophin Hannah Arendt 1963 beim Prozess gegen Adolf Eichmann prägte. Treffender kann man die „massive Gleichgültigkeit, mit der die Verbrechen begangen“ und die moralische Verantwortung dafür abgegeben wurde, wohl nicht beschreiben (https://www.deutschlandfunkkultur.de/outsourcing-moralischer-verantwortung-die-banalitaet-des-100.html).

2004, zum 60. Jahrestag des Massakers in den Adreatinischen Höhlen, wurden Orlando Orlandi Postis Briefe und Tagebuchnotizen aus dem Gefängnis veröffentlicht. Bislang gibt es das Buch* leider nur auf Italienisch. Aber vielleicht findet sich ja ein Verlag, der zum 80. Jahrestag im März 2024 die „Lettere dal carcere di via Tasso“ ins Deutsche übersetzen lässt und herausgibt. Damit sich künftig auch Menschen in Deutschland an das Kriegsverbrechen erinnern und Orlando Orlandi Posti und die anderen Opfer nie vergessen werden.

*Orlando Orlandi Posti: Roma ’44. Lettere dal carcere di via Tasso di un martire delle Fosse Ardeatine  Italienische Ausgabe, Rom, Donzelli 2004, 9,99 Euro

Quer durchs Land

Vor gut einem Monat sind wir von unserer Wohnmobiltour durch die Toskana zurückgekommen. Seitdem reise ich – viel umweltfreundlicher und auch preiswerter – mit dem 49-Euro-Ticket durchs Land.

Dass es das lang angekündigte Ticket nur als Abo gibt, stört mich nicht. Ein bisschen Verbindlichkeit – und Planungssicherheit für die Verkehrsbetriebe – darf’s für mich durchaus sein. Schwerer tue ich mich damit, dass es die Fahrkarte nur als digitale Version gibt. Ich gehöre nämlich zu denen, die gerne etwas in der Hand haben – schließlich habe ich früher mal gelernt, dass ich getrost nach Hause tragen kann, was ich schwarz auf weiß besitze. Und ich frage mich, warum das, was bei Fahrkarten und Bahnkarten problemlos funktioniert, nicht auch beim Deutschlandticket möglich sein soll. Aber was nicht ist, ist nicht. Und so gewöhne ich mich notgedrungen daran, statt meiner Fahrkarte mein Smartphone zu zeigen, wenn ich kontrolliert werde.

Wie oft ich das Ticket im Mai genutzt habe, kann ich nicht genau sagen. Aber ich war ziemlich viel unterwegs. Für meine Fahrten nach Hannover, zum Künstlerhof in Mehrum oder in die Nachbarorte hätte auch das preiswertere Seniorenticket für die Region Hannover ausgereicht. Aber die Mehrkosten für das 49-Euro-Ticket haben sich allein durch die die beiden Fahrten in den Harz zu meiner Kollegin Foe amortisiert.

Die Kosten sind ohnehin nur ein Aspekt. Mindestens ebenso wichtig – oder noch wichtiger – ist für mich die neu gewonnene „Bewegungsfreiheit“. Ohne das Ticket wären wir sicher nicht spontan an einem Samstagvormittag nach Lüneburg gefahren.

Und wahrscheinlich hätte ich mich bei der Suche nach einem „zeitnahen“ Termin bei einem Facharzt auf die ÄrztInnen der Region beschränkt. So habe ich in ganz Niedersachsen nach einem Radiologen gesucht – und ihn in Goslar gefunden. Und ganz nebenbei habe ich auf dem Weg zu der Praxis auch den Romanischen Garten entdeckt.

Bei meinem nächsten Abstecher in den Harz werde ich nicht auf direktem Weg nach Bad Harzburg fahren, sondern über Bad Gandersheim. Dort möchte ich nicht nur die Landesgartenschau besuchen, sondern auch auf den Spuren von Roswitha von Gandersheim wandeln. Sie gilt als erste deutsche Dichterin und hat um 950 in ihrem Epos: „Das Gedicht von dem Gandersheimischen Klosters“ über die Anfänge des Stifts und der Stiftskirche Gandersheim geschrieben.

Bis jetzt bin ich nur durch Niedersachsen gereist, aber die ersten Fahrten quer durchs Land sind geplant. So stehen Hamburg, Lübeck, Leipzig und Potsdam auf meiner Liste. Außerdem möchte ich endlich meine Museumstour durch Süddeutschland starten. Denn ich liebäugle schon lange mit dem Museums-PASS-Musées. Mit diesem Pass kann ich für 119 Euro ein Jahr lang mehr als 300 Museen, Schlösser und Gärten in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, Frankreich und der Schweiz besichtigen (https://www.museumspass.com/de) . Wenn ich meine Freundin in Süddeutschland besuche, sind viele Museumsorte mit Öffis gut zu erreichen. Es gibt also viel zu entdecken …

Kunst, Kloster, Gärten

Ich mag Kunst und ich mag schöne Gärten: Und so war der Tag der offenen Gartenpforte im Kunsthof Mehrum eine willkommene Gelegenheit, einen alten Landhausgarten und die Werke von drei Künstlern – Arne Stahl (Malerei), Lothar Feige (Metallskulpturen) und Bernd Rutkowski (Glasobjekte) – zu sehen.

Der Kunsthof stand schon lange auf meiner To-visit-Liste, aber bislang hatte mich die ziemlich lange Fahrt abgeschreckt. Denn Mehrum liegt am anderen Ende der Region Hannover, an der Grenze zu den Landkreisen Hildesheim und Peine. Mit Öffis braucht man für eine Strecke gut zwei Stunden und muss mindestens zweimal umsteigen.

Auf der Hinfahrt am Sonntagmorgen waren die Busse und die Straßenbahn glücklicherweise ziemlich leer; auf der Rückfahrt leider nicht, weil die Fans von Hannover 96 zum letzten Heimspiel ihrer Mannschaft fuhren. Hätten sie geahnt, was auf sie zukommt – eine 1:5-Klatsche gegen Holstein Kiel und eine laut Hannoverscher Allgemeiner Zeitung ziemlich unterirdische Leistung – wären einige sicher zu Hause geblieben.

Ich habe die Fahrt dagegen nicht bereut: In dem fast 3.000 Quadratmeter großen Garten des Kunsthofs gibt es neben Obst-, Gemüse-, Kräuter- und Blumenbeeten auch eine Streuobstwiese und andere naturbelassene Bereiche mit Sitzecken und einem Skulpturenpfad. Besonders gut haben mir die Glasarbeiten von Bernd Rutkowski gefallen; die eine oder andere würde sich sicher auch in unserem Garten gut machen. Außer vielen Anregungen und schönen Impressionen habe ich auch die Broschüren mit Informationen über die Offenen Gartenpforten in den Landkreisen Peine und Hildesheim mit nach Hause genommen. Und sicher werde ich auch einmal einen Blick in die Gärten der Nachbarregionen werfen.

Einen Garten am Harzrand hatte ich zwei Tage zuvor auf dem Weg zu einem Arzttermin eher durch Zufall entdeckt: An dem Romanischen Garten in Goslar bin ich bislang immer achtlos vorbeigegangen, obwohl er ganz in der Nähe des Bahnhofs auf dem Weg in die Altstadt liegt. Allerdings versteckt er sich wie die Neuwerkkirche hinter einer hohen Mauer. Die romanische Kirche gehörte früher zum Kloster „St. Maria in horto“, Maria im Garten. Es wurde im 12. Jahrhundert als Benediktinerinnenkloster gegründet, nach der Reformation im Jahr dann 1528 evangelisch und in ein Damenstift umgewandelt, in dem die unverheirateten Töchter wohlhabender Goslarer Familien lebten.

Die Klostergebäude und den Kreuzgang gibt es nicht mehr, in einem Teil des früheren Klostergartens wachsen allerdings heute wieder Pflanzen, die in den mittelalterlichen „Gartenbüchern“ verzeichnet sind – neben heute noch bekannten wie Pfingstrose oder Salbei auch fast vergessene Nutzpflanzen wie die afrikanische Kuhbohne. Schilder an den Beeten verraten nicht nur den deutschen Namen, sondern auch die botanische Bezeichnung und die Herkunft der Pflanzen, in normaler und in Brailleschrift.

Ich werde künftig sicher öfter hier Station machen. Und vielleicht wandere ich auch einmal auf dem Harzer Klosterweg, der an der Neuwerkkirche beginnt und unter anderem über die Klöster Wöltingerode, Ilsenburg und Himmelspforte bis zur Klosterkirche Sankt Marien in Quedlinburg führt.

Umbau in den Herrenhäuser Gärten

Die Herrenhäuser Gärten überraschen mich bei jedem Besuch aufs Neue. Diesmal mit zahlreichen Zitruspflanzen, die rund um den Schmuckhof, zwischen Bibliothekspavillon, Subtropenhof und den Schauhäusern, aufgereiht sind. Zur Citrus-Sammlung der Herrenhäuser Gärten sollen mehr als 70 verschiedene Arten und Sorten gehören – historische ebenso wie Neuzüchtungen.

Die meisten der kälteempfindlichen Zitruspflanzen können Otto-Normal-BesucherInnen wie ich nur im Sommer bewundern. Im Winter verschwinden sie dann wieder in den Überwinterungshäusern, die nicht öffentlich zugänglich sind (https://orangeriekultur.de/pages/orangerien/orangerien-und-glashaeuser-in-deutschland/niedersachsen/orangerie-sammlung-der-herrenhaeuser-gaerten-hannover.php).

Das ändert sich, wenn das neue Schauhaus fertig ist. Es soll das alte Kanarenschauhaus ersetzen, das  – 1984 gebaut – „abgängig und auch viel zu niedrig“ für Phönixpalmen, Kanarische Kiefern und Co. war (https://www.hannover.de/Herrenhausen/Herrenhäuser-Gärten/Berggarten/Neues-Ausstellungshaus/Ein-neues-Schauhaus-für-den-Berggarten).

Das neue Schauhaus wird etwa 1.000 Quadratmeter groß, bis zu 9 Meter hoch und in drei Bereiche gegliedert. Neben den Pflanzen von den Kanarischen Inseln und aus dem Mittelmeerraum finden dort künftig auch Zitrus- und andere Kübelpflanzen sowie – in einem speziellen Warmwasserbecken – die tropische Victoria-Riesenseerose eine neue Heimat. Die Riesenseerose, auch Amazonas-Riesenseerose genannt, gilt mit einem Blattdurchmesser von bis zu drei Metern als größte Seerosen-Art der Welt. Sie war schon Mitte des 19. Jahrhunderts in den Herrenhäuser Gärten zu bewundern, doch das nach ihr benannte Victoriahaus wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört.

Das neue Schauhaus ist vermutlich erst 2025 fertig. Eine andere „Baustelle“ gleich nebenan wird hoffentlich schneller beseitigt. Wo im vergangenen Jahr noch Pfingstrosen, Rittersporn und andere Schmuckstauden standen, hatte sich die Ackerwinde ausgebreitet. Winden sehen zwar hübsch aus, überwuchern aber schnell andere Pflanzen. Die Senkwurzeln der Ackerwinde reichen bis zu zwei Meter tief. Um die Schlingpflanzen zu bekämpfen, wurde der Boden in einem Teil des Schmuckstaudenbeets ausgehoben. Doch im nächsten Jahr grünt und blüht es hier hoffentlich wieder.

Die Pfingstrosen halten sich derzeit noch etwas zurück, doch pünktlich zu Pfingsten am kommenden Wochenende werden die meisten Knospen sich wohl öffnen.

Die Akeleien blühen dagegen schon in den verschiedensten Farben, ebenso die Rhododendren im Rhododendronhain.

Im Staudengrund ist der kleine künstliche Bach kaum noch zu sehen; dafür entdecke ich eine Mohnpflanze, die ich bislang noch nicht kannte: Der Marienkäfer-Mohn, eine Zwergmohn-Art, verdankt seinen Namen einem großen schwarzen Fleck auf jedem seiner vier leuchtend roten Blütenblätter. Wie gesagt, die Herrenhäuser Gärten überraschen mich bei jedem Besuch aufs Neue.

Die Stadt der Tagebücher

Überschwemmungen in Italien, viele Dörfer und Städte stehen unter Wasser. Besonders betroffen ist die Emilia Romagna, die Region, durch die wir auf unserer Rückreise aus der Toskana gefahren sind. Auch an jenem Tag regnete es ohne Unterlass – zum ersten Mal, seit wir drei Wochen zuvor den Brenner überquert haben. Der Regen setzte am Nachmittag des Vortags ein, gerade als wir Pieve Santo Stefano, den letzten Ort auf meiner To-visit-Liste, verlassen hatten.

Natürlich frage ich mich, wie es dort aussehen mag. Schließlich liegt Pieve Santo Stefano direkt am Tiber – und schon einmal, im Jahr 1855, hat eine Überschwemmung in dem kleinen toskanischen Ort an der Grenze zur Emilia Romagna große Schäden angerichtet. Damals wurden viele Gebäude und Kunstwerke beschädigt und zerstört, ebenso bei den beiden Erdbeben im April 1917 und im Juni 1919.

Der Tiber fließt durch Pieve Santo Stefano, Anfang Mai ruhig und mit wenig Wasser.

Weit schlimmer aber waren die Zerstörungen durch die deutschen Soldaten im Zweiten Weltkrieg. Seit 1943 fanden in der Region schwere Kämpfe statt, Ende August 1944 verminten die Deutschen auf ihrem Rückzug den Ort und sprengten fast alle Gebäude. Nur der Palazzo del Comune und die Kirche blieben erhalten. Fast 99 Prozent der Gebäude und über 100 Kilometer Straßen waren laut Wikipedia zerstört (https://de.wikipedia.org/wiki/Pieve_Santo_Stefano). Als die Bewohner zurückkehrten und ihr Dorf wieder aufbauten, wurden die alten Gebäude im Renaissance-Stil durch moderne Häuser ersetzt.

So schön wie viele andere toskanische Städte ist Pieve Santo Stefano daher nicht. Und vielleicht ist der Ort in Deutschland deshalb fast unbekannt. Doch für mich steht seit 1996 fest, dass ich irgendwann nach Pieve Santo Stefano muss. Damals habe ich, begeisterte Tagebuchschreiberin, Barbara Bronnens Buch* „Die Stadt der Tagebücher. Vom Festhalten des Lebens durch das Schreiben“ gelesen: Die Erzählerin besucht mit ihrer Freundin Eva das Fest der Tagebücher, das alljährlich im September in Pieve Santo Stefano stattfindet. Seit 1984 gibt es in der Stadt der Tagebücher (Città del Diario) das nationale Tagebucharchiv (Archivio Diaristico Nazionale), in dem inzwischen mehrere tausend Tagebücher und andere zeitgeschichtliche Dokumente aufbewahrt werden.

Die Idee, autobiografische Schriften – Tagebücher, Briefwechsel und persönliche Lebenserinnerungen – ganz „normaler“ Menschen zu sammeln und Interessierten zugänglich zu machen, hatte der italienische Journalist Saverio Tutino.. „Das Archiv will nicht nur, wie ein Museum, die persönlichen Texte aufbewahren sondern ihren inneren Reichtum auf verschiedenste Weisen fruchtbar machen“, schreibt er (http://www.archiviodiari.org/index.php/archivio/423-das-tagebucharchiv-von-pievesanto-stefano). Ziel sei es, bislang verborgene Texte zu neuem Leben und neues Interesse an autobiografischen Texten zu wecken. Das ist gelungen: Der Tag der Tagebücher im September ist inzwischen Tradition; alljährlich werden Tagebücher prämiert und von Verlagen veröffentlicht. Und auch in anderen Ländern sind inzwischen Tagebucharchive entstanden, in Deutschland in Emmendingen.  

Meine Italienischkenntnisse reichen leider für einen Besuch im Tagebucharchiv nicht aus, doch zum Glück gibt es seit fast zehn Jahren – seit dem 7. Dezember 2013 – das „piccolo museo del diario“ im ersten Stock des Palazzo Pretorio, einem der wenigen von den deutschen Soldaten nicht zerstörten Gebäude.

Das Museum ist wirklich klein, es besteht nur aus vier Räumen. Original-Tagebücher und -Dokumente gibt es hier leider nur wenige – die meisten im zweiten Raum, in dem eine Ecke an Saverio Tutino, den Gründer des Archivs der Tagebücher, erinnert. Aber man kann mithilfe von Multimedia-Tools die Tagebücher und Briefe aus drei Jahrhunderten ansehen und anhören. Bekannte Schauspieler lesen Auszüge aus den Dokumenten vor.

Im ersten Raum verstecken sich die virtuellen Dokumente – wie manche echte Tagebücher – in Schränken und Schubladen. Öffnet man sie, werden sie lebendig und geben ihre Geheimnisse preis. Besonders beeindruckt haben mich die Auszüge aus Tagebüchern und Briefen, die ein junger Mann geschrieben hat, der im Zweiten Weltkrieg von den deutschen Besatzern gefangen genommen wurde. Er träumte von einem Leben nach dem Krieg, wollte reisen, studieren – wie Anne Frank. Doch wie sie konnte er seine Wünsche nicht verwirklichen. Auch er wurde ermordet. Aber das Tagebucharchiv und das Tagebuchmuseum verhindern, dass das, was er in der Zeit vor seinem Tod gefühlt, gedacht und gehofft hat, in Vergessenheit gerät.

Sein Landsmann Vincenzo Rabito, geboren 1899, hat den Krieg überlebt, sich das Schreiben selbst beigebracht – und seit Ende der 60er-Jahre bis zu seinem Tod im Jahr 1981 seine Erinnerungen und die Geschichte des Jahrhunderts aufgeschrieben. Entdeckt wurden die Aufzeichnungen erst nach Rabitos Tod durch das Nationale Tagebucharchiv; 2007 wurden sie unter dem Titel „Terra Matta“ teilweise veröffentlicht und mit dem Literaturpreis Racalmare Leonardo Sciascia ausgezeichnet. Fotos aus dem Leben des Autors und von Manuskriptseiten werden im dritten Raum des kleinen Museums an die Wand projiziert, Auszüge aus dem mehr als tausendseitigen Text sind zu hören.

Im letzten Raum ist schließlich das größte und wohl ungewöhnlichste „Tagebuch“ der Sammlung zu sehen. Nach dem Tod ihres Mannes schrieb die Bäuerin Clelia Marchi ihre Erinnerung an das Leben mit ihm nieder – zuerst auf Papier, dann, als sie kein Papier mehr hatte, auf einem Betttuch. Ein Abdruck des Tuchs ziert auch das Cover des Buches von Barbara Bronnen, das leider vergriffen ist. Aber mein Exemplar hat mich auf unserer Reise durch die Toskana natürlich begleitet.

Besichtigungen des kleinen Museums sind nur mit Führung möglich. Weil ich an diesem Morgen die einzige Nicht-Italienerin war, führte mich Silvia Gennaioli durch die Räume, erklärte mir alles und beantwortete meine Fragen auf Englisch. Die gesprochenen Tagebuch-Texte konnte ich auf einem Audio-Guide auf Englisch hören. Ganz herzlichen Dank noch einmal dafür.

Das piccolo museo del diario ist täglich geöffnet. Wer es besuchen möchte, sollte sein Ticket vorher buchen, weil die Zahl der TeilnehmerInnen an den Führungen begrenzt ist. Es lohnt sich wirklich. Mehr Informationen und Tickets unter

www.piccolomuseodeldiario.it 

*Dieser Beitrag enthält unbezahlte Werbung

Barbara Bronnen: Die Stadt der Tagebücher. Vom Festhalten des Lebens durch Schreiben. Krüger Verlag, 1996

Wechsel im Wintergarten

Die Eisheiligen sind vorbei, aber schon vor dem Besuch der kalten Dame Sofie hatten wir fast alle Blumen aus ihrem Winterquartier im Wintergarten auf die Terrasse gebracht. Nur die Yucca darf in diesem Jahr drinnen bleiben: Sie ist einfach zu groß und schwer, um sie rauszutragen – und mit dem Seitenast passt sie kaum mehr durch die Wintergartentür.

Die anderen Pflanzen haben die ersten Nächte draußen recht gut überstanden, obwohl es noch ziemlich frisch ist. Aber unter null sind die Temperaturen hier nicht mehr gesunken; außerdem stehen zumindest Zitruspflanzen, Strelitzie, Osterkaktus und Drachenbaum an der Hauswand recht geschützt.

Zu den Zimmerpflanzen haben sich gestern die Kräuter gesellt, die ich bei „meiner“ Kräuterfrau auf dem Markt gekauft habe. Ananassalbei und Strauchbasilikum leisten der Olive Gesellschaft. Ihre Vorgänger haben, wie auch der große Salbeistrauch im runden Kräuterbeet, den Winter nicht überstanden. Ich hoffe, dass sein noch junger Nachfolger an der gleichen Stelle genauso gut wächst und gedeiht.

Den Knoblauch hat mein Mann zu den Tomaten in sein Hochbeet gepflanzt, die essbaren Blüten stehen jetzt neben der Künstlerrose im Beet vor dem Wintergarten, wo wir Anfang des Jahres den vom Buchsbaumzünsler befallenen Buchsbaumstier ausgraben mussten. Vielleicht werde ich die ersten blauen Blüten schon heute pflücken und über den Salat streuen. Sie schmecken lecker und wachsen immer wieder nach, hat die Kräuterfrau versprochen, und auf ihren Rat ist eigentlich immer Verlass.  

Nach dem Auszug der Pflanzen gehört der Wintergarten wieder uns. Aber so aufgeräumt wie jetzt wird er wohl nicht lange bleiben. Meine Kiste mit Büchern, Schreib- und Zeichenutensilien steht schon bereit; und auch mein Mann wird seine Hobbyutensilien schon bald hier ausbreiten. Denn vom Mai bis in den Herbst hinein wird der Wintergarten zum viel genutzten Schreib-, Mal-, Lese-, Arbeits-, Ess-, Wohn- und Hobbyzimmer.

In Florenz

Als der französische Schriftsteller Marie-Henry Beyle, besser bekannt unter dem Namen Stendhal, 1817 Florenz besuchte, war er überwältigt: „Ich befand mich bei dem Gedanken, in Florenz zu sein, und durch die Nähe der großen Männer, deren Gräber ich eben gesehen hatte, in einer Art Ekstase“, schrieb er in seinem Buch „Reise in Italien“. „Als ich Santa Croce verließ, hatte ich starkes Herzklopfen; in Berlin nennt man das einen Nervenanfall; ich war bis zum Äußersten erschöpft und fürchtete umzufallen.“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Stendhal-Syndrom).

So wie Stendahl geht es immer wieder TouristInnen, die die Stadt besuchen, die zu Zeiten der Medici das Macht- und Kunstzentrum war und als „Wiege der Renaissance“ gilt. Sie bekommen Herzrasen, Bauchschmerzen oder Panikattacken, manche fallen sogar in Ohnmacht (https://www.gesund-vital.de/stendhal-syndrom/) – alles Symptome des  sogenannten Stendhal-Syndroms, das wohl erstmals Ende der 70er-Jahre von der italienischen Psychologin Graziella Magherini beschrieben und nach dem französischen Schriftsteller benannt wurde. Betroffen sind vor allem junge, unverheiratete, alleinreisende Frauen aus Nordeuropa und den USA.

Bei mir, nicht zur besonders gefährdeten Gruppe gehörend und zudem bekennender Kunstbanause, löste Florenz keine psychosomatischen Symptome aus. Unbehagen bereitete mir auf der Fahrt nach Florenz lediglich die Frage, welche der unzähligen Museen ich besuchen, welche Kunstwerke ich mir anschauen sollte. Weil sich unsere Reise verschoben hatte, erledigten sich die Überlegungen dann von selbst. Kombi-Tickets zu buchen, war so kurzfristig nicht mehr möglich. Und als ich die Schlangen vorangemeldeter! BesucherInnen vor den Uffizien, der Galleria dell’Academia oder dem Dom sah, war mir klar, dass ich die kurze Zeit in Florenz nicht damit verbringen wollte, mit hunderten anderer Menschen auf Einlass zu warten und dann im Pulk an Kunstwerken vorbeizudefilieren.

Ich beschränkte mich also darauf, durch die historische Innenstadt zu spazieren, die eigentlich ein großes Freiluftmuseum ist und 1982 von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt wurde. Ich ließ mich treiben, schlenderte durch die Gassen und über die Plätze, die wohl schon zu Zeiten Dantes, Michelangelos und Galileo Galileis ähnlich ausgesehen haben. Palazzo Vecchio, Galleria Degli Uffizi, Palazzo Pitti, Dom und die meisten anderen Sehenswürdigkeiten, deren Besichtigung für kunst- und kulturinteressierte Menschen eigentlich ein Muss ist, konnte ich nur von außen bewundern. Und auch Michelangelos David habe ich nicht im Original, sondern nur als Kopie gesehen – auf der Piazza della Signoria und, etwas weniger umlagert, weil früher am Morgen und etwas außerhalb des Stadtzentrums gelegen, auf dem Piazzale Michelangelo.

Ich war, ich gestehe es, nur in einem einzigen Museum, im Museum Dante, für das sich außer mir kaum jemand interessierte, obwohl es in der Innenstadt liegt. Auch die Basilica Santa Croce mit den Grabmälern von Machiavelli, Michelangelo, Galileo Galilei und Gioachino Rossini und Gedenkstätten für andere berühmte Italiener habe ich besichtigt.

Ja, ich war beeindruckt, aber spätestens in der unter anderem mit Fresken von Giotto prächtig ausgestatteten Kirche wurde mir klar, dass meine Entscheidung gegen die Besichtigungstour durch Kirchen und Museen richtig war: Ich bin kein Fan der Renaissance-Kunst, ich mag sie, so genial sie auch sein mag, nur wohldosiert, in Maßen. 50 Säle mit mehr als tausend Renaissancekunstwerken in den Uffizien wären einfach zu viel (des Guten) gewesen. Und wenn auch (manche) ExpertInnen die Werke von Michelangelo, da Vinci, Tiziano, Boticelli, Tintoretto, Cranach und Co für die einzig (wahre) Kunst halten, bevorzuge ich modernere Bilder und Skulpturen. Deshalb bedaure ich es im Nachhinein ein bisschen, dass ich nicht im Museo Novecento, dem Museum italienische Kunst des 20. Jahrhunderts, war. Aber aufgeschoben ist bekanntlich nicht aufgehoben.

Gefallen haben mir die Blicke in die vielen kleinen Ateliers, Galerien und Ausstellungen abseits der vielbesuchten Gassen und Plätze …

… und natürlich die beiden Gärten, die ich auf dem Weg ins und aus dem Zentrum entdeckt habe: den Giardino delle Roses unterhalb der Piazzale Michelangelo und den bekannteren Giardino Bardini, der damit wirbt, der Garten mit dem schönsten Blick auf Florenz zu sein.

Der Blick vom Giardino Bardini auf Florenz ist wirklich traumhaft. Und im Giardino delle Roses fand ich neben dem Blick auf Florenz die Mischung aus Pflanzen und Skulpturen des belgischen Bildhauers Folon toll. Leider blühten von den 400 Rosensorten, die es im Giardino delle Roses geben soll, erst wenige. Ein paar Wochen später ist es hier sicher noch schöner, aber gewiss auch nicht mehr so ruhig. Ich war an jenem Morgen die einzige Besucherin im Garten.

Die schönsten Orte waren für mich die, wo ich die Stadt von außen betrachten konnte. „Zu viel Prunk, zu viel Kultur – und vor allem: zu viele Menschen“, habe ich in meinem Art Journal notiert. Und obwohl man diversen Reiseführern zufolge mindestens drei Tage nur für die wichtigsten Sehenswürdigkeiten braucht, sind wir schon nach zwei Tagen weitergefahren, an ebenso schöne, aber etwas ruhigere Orte. Florenz mag vielleicht die Wiege der Renaissance und eine der schönsten Städte der Welt sein; meine Stadt ist es nicht – und leben könnte ich dort gewiss nicht.