Fastenaktion 7 Wochen Ohne

Am vergangenen Mittwoch, am Aschermittwoch, hat die Fastenzeit begonnen. Und wie in den letzten Jahren habe ich mir auch in diesem Jahr einiges vorgenommen. Eigentlich das Übliche: Ich möchte bis Ostern auf Eis und Süßigkeiten verzichten, ja auch auf meine geliebten sauren Brause-Kaubonbons. Die lasse ich noch problemlos liegen; schwerer – unerwartet schwer – fällt mir dagegen in diesem Jahr der Verzicht auf Schokolade. Noch bin ich tapfer, aber ich bedaure schon jetzt den ersten Schokohasen, der mir am Ostersonntag arglos über den Weg hoppeln wird. Ihm droht ein grausames Schicksal (https://timetoflyblog.com/arme-hasen).

Weil ich mehr Ordnung in meinen Räumen und in meinem Leben schaffen möchte, habe ich mir wieder vorgenommen, mich jeden Tag von etwas zu trennen. Anders als vor zwei Jahren werde ich in diesem Jahr allerdings nicht „ansteigend ausmisten“, das heißt mich in der ersten Woche täglich von einem, in der zweiten Woche dann täglich von zwei Gegenständen usw trennen. Denn das wird spätestens in den beiden letzten Wochen ziemlich stressig.

An den ersten Tagen hat das Wegwerfen recht gut geklappt. Und damit der gewonnene Platz nicht gleich wieder mit anderem gefüllt werden soll, möchte ich auch „konsumfasten“: Ich will mir außer Lebensmitteln und anderen Dingen des „täglichen Bedarfs“ nichts Neues kaufen.* Neues Gebrauchtes ist ebenfalls bis Ostern tabu, weil ich vor allem Bücher, aber auch Kleidung meist secondhand kaufe – nicht nur weil es preiswerter ist, sondern auch, weil viele gebrauchte Sachen noch tadellos erhalten und zum Wegwerfen einfach zu schade sind.

Last, but not least beteilige ich mich auch in diesem Jahr wieder an der Fastenaktion „7 Wochen Ohne“ der evangelischen Kirche. Mit dem Motto „Leuchten! Sieben Wochen ohne Verzagtheit“ fremdle ich allerdings noch ein bisschen. Und die erste Fastenmail, die ich am vergangenen Mittwoch erhalten habe, hat mich auch nicht wirklich erleuchtet. Es gehe darum, „selbst hell zu werden, wenn die Zeiten dunkel sind. Dazu möchten wir Sie in diesem Jahr ermutigen. Lassen Sie uns gemeinsam sieben Wochen lang auf das verzichten, was uns einschüchtern will. Geben wir acht auf alles, was leuchtet, und stellen wir auch unser eigenes Licht nicht unter den Scheffel!“, schreibt Frank Muchlinsky.

Während ich diesen Blogbeitrag schreibe, fällt mir ein, dass ich Letzteres gerade gestern einer Schreibfreundin geschrieben habe. Und vielleicht ist das Motto ja doch genau das richtige für mich. Denn ich bin Meisterin im Sorgen machen: Ich sorge mich um alles Mögliche und Unmögliche. Meist oder zumindest oft erweisen sich die Sorgen im Nachhinein als unbegründet. Also ab jetzt sechs Wochen ohne …

Wer sich für die Fastenaktion interessiert oder mitmachen möchte, kann sich unter 7wochenohne.de informieren und kostenlos anmelden.

* Für mich gilt eigentlich: kein Tag ohne Bücher! Bücher sind aus meinem Leben nicht wegzudenken. Und trotzdem zählen sie weder zu den Lebensmitteln noch zu den Dingen, die gekauft werden dürfen. Also keine neuen Bücher bis Ostern. Aber Ausleihen ist zum Glück erlaubt.

Ilon Wikland: Eine lange Reise

Zurück in die Kindheit – oder in die Welt der Kinderbücher. Im Museum Wilhelm Busch habe ich noch einmal die Ausstellung „Von Haapsalu bis Bullerbü“ besucht, in der Bilder von Ilon Wikland gezeigt wurden. Bei meinem ersten Besuch vor einem Monat war es voll, zu voll, um sich die Zeichnungen in Ruhe anzusehen. Jetzt, kurz vor dem Ende der Ausstellung, war sie immer noch – oder wieder – ziemlich gut besucht.

Das Museum für Karikatur und Zeichenkunst in Hannover, kurz Museum Wilhelm Busch

Kein Wunder – Ilon Wiklands Bilder kennen die meisten Kinder und viele Erwachsene. Denn sie hat außer „Michel aus Lönneberga“ und „Pippi Langstrumpf“ alle Kinderbücher von Astrid Lindgren, aber auch Bücher anderer AutorInnen illustriert.

Ich habe die Bücher von Astrid Lindgren erst spät entdeckt, die Illustrationen von Ilon Wikland sogar erst, als ich meiner Tochter die Bücher von Astrid Lindgren gekauft und vorgelesen habe. Als Kind habe ich nur „Rasmus, Pontus und der Schwertschlucker“ gelesen, eine Detektivgeschichte, die ich nicht sonderlich spannend fand.

Pippi Langstrumpf, Astrid Lindgrens wohl bekanntestes Buch, habe ich, wenn ich mich recht erinnere, erst Anfang der 70er-Jahre kennengelernt, als die Geschichten mit Inger Nilsson verfilmt wurden. Denn bei uns im Dorf gab es keinen Buchladen – und die kirchliche Leihbücherei war meist geschlossen. Pippi Langstrumpf habe ich dort ohnehin nicht gesehen, obwohl ich in der Bücherei geholfen habe. Die Geschichte eines selbstbewussten Mädchens, das alleine lebt, sich von Erwachsenen nichts vorschreiben lässt und sich die Welt macht, wie es ihm gefällt, in den Augen der für die Bibliothek und unser Seelenheil Verantwortlichen – und auch für meine Eltern – wohl keine geeignete Lektüre. Für „Die Kinder von Bullerbü“ konnte ich mich nie begeistern. Irgendwie war mir das im Buch geschilderte Dorf- und Familienleben viel zu idyllisch und mit meinen eigenen Erfahrungen nicht kompatibel.

Auch viele Zeichnungen von Ilon Wikland sind bunt und fröhlich, zeigen eine idyllische, heile Welt, wie man es (damals) in Kinderbüchern erwartete. Spielende, tobende Kinder oder Tischszenen ziehen sich wie ein roter Faden durch die Bücher und das Werk der Illustratorin. Aber immer wieder tauchen auch Kinder auf, die einsam und allein am Fenster, an der Tür oder wie auf dem Titel des autobiografischen Buchs einsam auf dem Bahnsteig stehen.

Traurig und tröstlich zugleich ist die Geschichte der „Brüder Löwenherz“. Ich habe sie vor zwei Jahren wiederentdeckt und wieder gelesen, als kurz nacheinander ein Freund und eine Freundin starben.

Meiner Tochter habe ich am liebsten die Geschichten von Lotta aus der Krachmacherstraße vorgelesen. Und als meine Enkelin neulich bei uns zu Besuch war, haben wir uns gemeinsam die alten Lotta-Filme angesehen und dann verschiedene Astrid-Lindgren-Bücher gelesen, die ich immer noch aufbewahre und in die ich immer wieder gerne hineinschaue.

Foto aus der Ausstellung. Die Rechte an den Zeichnungen liegen bei Ilon Wikland.

Dass Ilon Wikland ein Buch über ihre Kindheit in Estland und ihre Flucht nach Schweden gezeichnet hat, habe ich erst in der Ausstellung erfahren. Die Illustratorin, 1930 in Estland geboren, lebte nach der Trennung der Eltern bei ihren Großeltern in Haapsalu. Aus Furcht vor den Deportationen der Roten Armee schickte die Großmutter ihre erst 14 Jahre alte Enkelin 1944 allein nach Schweden. Dort wurde sie von einer Tante aufgenommen, besuchte die Schule und studierte anschließend an der Kunstakademie in Stockholm und in London. Seit den 1950er-Jahren arbeitete Ilon Wikland als Grafikerin für verschiedene Verlage und wurde von Astrid Lindgren entdeckt, die sie mit Probe-Illustrationen zu ihrem Kinderbuch „Mio, mein Mio“ beauftragte.

Inzwischen ist Ilon Wikland über 90 Jahre alt. Ihre Erlebnisse in der Kindheit in Estland, auf der Flucht nach und im Exil in Schweden hat sie in dem Buch „Die lange, lange Reise“ thematisiert und verarbeitet. Es ist laut Pressemitteilung des Wilhelm Busch Museums, „das einzige von ihr illustrierte Buch, bei dem es erst die Bilder und dann den Text gab“. Den Text dazu hat Rose Lagercrantz geschrieben.

Ich würde die Geschichte gerne lesen, denn die Zeichnungen in der Ausstellung haben mich wirklich beeindruckt. Doch leider ist das Buch derzeit vergriffen. Aber vielleicht findet sich ja ein Verlag, der es neu auflegt. Denn die Themen Panzer, Krieg, Flucht und Exil sind ja zurzeit leider aktueller denn je.

Tage-, Skizzen-, Notizbücher und Co

Alle, die meinen Blog regelmäßig oder gelegentlich lesen, wissen es: Ich schreibe gerne und viel mit der Hand und liebe Tage- und Notizbücher aller Art. Ich starte jeden Morgen mit Morgenseiten in den Tag und beende ihn am Abend mit einigen Zeilen in meinem Fünf-Jahresbuch. Ein Kalender und eine Art Bulletjournal sollen mir helfen, den Überblick über meine Termine und die Dinge zu behalten, die ich erledigen möchte oder muss. Außerdem „beherbergt“ der Ledereinband ein Notizheft für Schreibideen, also eine Art Schreibjournal.

In diesem Jahr habe ich ein neues Journal begonnen, in das ich regelmäßig abends eintrage, was am Tag geschehen ist. Ich habe in den vergangenen Jahren schon mehrere Versuche gestartet, aber über ein paar Seiten kam ich nie hinaus.

Das ist mit dem neuen Journal hoffentlich anders. Es hat eine Seite für jeden Tag, die mich vorwurfsvoll ansehen würde, wenn sie leer bliebe. 22 Tage habe ich schon durchgehalten; bis etwas wirklich zur Gewohnheit wird, dauert es nach einer Studie von Phillippa Lally vom University College in London im Durchschnitt allerdings genau dreimal so lange, nämlich 66 Tage. Ein Tag Pause macht der Studie zufolge nichts aus, längere oder öftere Auszeiten sollte man sich dagegen nicht gönnen, wenn frau wirklich eine Routine etablieren möchte.

Auch mit einem anderen guten Vorsatz bin ich auf einem guten Weg: Ich möchte endlich zeichnen lernen und habe mir deshalb vorgenommen, in diesem Jahr jeden Tag eine Skizze anzufertigen. Zu „One Day One Sketch“ hat mich Jens Huebner animiert, bei dem ich vor zwei Jahren mal einen Urban-Sketching-Workshop belegt habe (https://www.facebook.com/jens.huebner.berlin.germany/).

Jeden Abend zeichne ich also irgendwas in mein Skizzenbuch – und vielleicht wird dann auch mein Tagebuch irgendwann wirklich zu einer Art Visual diary. Weil meine Tagebücher bunter werden sollten, habe ich im vergangenen Jahr meine geliebten Claire-Fontaine-Kladden durch Skizzenbücher aus dickerem Papier ersetzt. Wirklich gut funktioniert hat die Kombination von Zeichnen und Schreiben allerdings nicht, Zeichnungen sind in meinen Tagebüchern bislang nur Ausnahmen. Und so bin ich wieder zu Claire Fontaine zurückgekehrt: Das Papier ist für mich – bekennender Papierfreak – zum Schreiben wirklich das beste. Außerdem haben die Hefte – ein weiteres Plus – einen flexiblen Einband.

Neu ist, dass ich meine Tagebücher von beiden Enden beschreibe – vorne Tagebuch, hinten Morgenseiten. Und irgendwann treffen sie sich in der Mitte. Zwei in eins – das macht Sinn. Denn zumindest inhaltlich gehen bei mir Tagebucheinträge und Morgenseiten ineinander über. Und auch den Unterschied zwischen Tagebuch und Journal habe ich, nebenbei bemerkt, nicht wirklich verstanden. Praktisch ist die Tagebuch-Morgenseiten-Kombi allemal: Es verkleinert den Bücherstapel neben meinem Bett – und das Gewicht der Bücher, die ich mitschleppen muss, wenn ich einmal verreise.  

Gewichtig: Fast 2,5 Kilo wiegen die Notiz- und Skizzenbücher, die ich täglich nutze.

PS: Heute ist der Tag der Handschrift. Viele Kinder und auch immer mehr Erwachsene können nicht mehr flüssig schreiben. Dabei ist Schreiben mit der Hand auch im Computerzeitalter keine überflüssige Kulturtechnik . Mehr dazu in einem Artikel von mir in der Zeitschrift Bildung + Lernen (https://viewer.ipaper.io/friedrich-verlag/bildung/bildung-lernen-22019/?Page=20&page=18).


Gelesene Bücher 2022

Der Blogbeitrag von Christof Herrmann (https://www.einfachbewusst.de/2022/12/gelesen-buecher-2022/) hat mich animiert, in diesem Jahr auch mal die Liste der von mir gelesenen Bücher zu veröffentlichen. Es waren 49, zehn weniger als im Jahr 2021.

Vor allem im Sommer, als ich an der Zeitschrift bildungSpezial gearbeitet habe, habe ich bei der Recherche zwar viele Fachartikel und Sachtexte, aber wenige Bücher gelesen. Und auch Bücher, in denen ich nur einzelne Texte oder Kapitel gelesen habe, zum Beispiel verschiedene Essaybände von Siri Hustvedt und Rebecca Solnit oder diverse Reiseführer, erscheinen nicht in dieser Liste.

Immerhin: Mein Ziel, ein Buch je Woche zu lesen, habe ich fast erreicht, obwohl ich das  eine oder andere Buch möglicherweise vergessen habe. Als ich diese Liste zusammengestellt habe, ist mir wieder einmal bewusst geworden, wie unzuverlässig ich gelesene Bücher notiere – und wie sehr sich meine Lese-Vorlieben verändert haben.

Jahrelang habe ich sehr viele Krimis gelesen – in diesem Jahr waren es nur drei. Die Bücher von Donna Leon lese ich, weil ich Familie Brunetti und Venedig mag; der dritte Krimi hat es auf die Liste geschafft, weil er in dem Ort spielt, in dem wir im Oktober zwei Wochen Urlaub gemacht haben: in Jokkmokk in Lappland. Zurzeit lese ich am liebsten autobiografische Bücher und/oder Essays – und ich bewundere jedes Mal aufs Neue, was die Essayistinnen alles wissen, wie viele und welche Bücher sie gelesen und verstanden haben. Um so belesen zu werden, müsste ich nicht nur viel mehr, sondern auch gezielter lesen. Aber ich bin, ich gebe es zu, eine unstrukturierte Leserin: Ich lese vor allem, was mir gefällt (https://timetoflyblog.com/die-unstrukturierte-leserin).

Anders als Christof Hermann vergebe ich keine Punkte für die gelesenen Bücher – denn eigentlich haben mir fast alle Bücher auf dieser Liste gefallen. Das liegt auch daran, dass ich Bücher, die mich nicht fesseln, nicht zu Ende lese, sondern angelesen zur Seite lege. Einige bekommen dann irgendwann eine zweite oder dritte Chance. So hatte ich mir Marion Braschs Buch „Aber jetzt ist Ruhe“ schon vor zwei Jahren einmal ausgeliehen. Jetzt beim zweiten Versuch hat es mir richtig gut gefallen.

Auch für Daniel Schreibers Essay Allein brauchte ich zwei Anläufe. Doch dann hat mich das Buch wirklich beeindruckt. Ulysses werde ich dagegen wohl nie zu Ende lesen. Ich habe pflichtschuldigst mehrere Leseversuche gestartet, den wohl allerletzten im Februar, als der Suhrkamp Verlag zum 100. Jubiläum der Erstausgabe und zum 140. Geburtstag von James Joyce 30 Tage lang jeden Morgen kurze Abschnitte aus dem ersten Teil des Romanklassikers verschickte. Nach einem Monat hätte man dann den ersten Teil komplett gelesen. (https://timetoflyblog.com/ulysses-haeppchenweise). Aber ich habe schon nach zwei Wochen aufgegeben.

Anita Brookner und Tove Ditlevsen habe ich erst in vergangenen Jahr entdeckt. Ihre Bücher „Ein Start ins Leben“ und die Kopenhagen-Trilogie stehen weit oben auf meiner Empfehlungsliste – und „Gesichter“ von Tove Ditlevsen und „Hotel du Lac“ von Anita Brookner auf meiner Leseliste für 2023.

Gelesene Bücher  2022

  1. Hans-Jürgen Ortheil: Ombra
  2. Dora Heldt: Drei Frauen, vier Leben
  3. Walter Tevis: Damengambit
  4. Katherine May. Überwintern
  5. Selene Marian: Ellis
  6. Simone de Beauvoir: Die Unzertrennlichen
  7. Sabine Bode: die vergessene Generation
  8. Erling Kagge: Gehen
  9. Sigrid Damm: Tage- und Nächtebücher aus Lappland
  10. Elke Heidenreich: Hier geht’s lang
  11. Maja Lunde: Als die Welt stehenblieb
  12. Roswitha Quadflieg: Über das Sterben meiner Mutter
  13. Nina Rigg: Die helle Stunde
  14. Sabine Bode: Nachkriegskinder
  15. Romalyn Tilghman: die Bücherfrauen
  16. Pascale Hugues: Mädchenschule
  17. Alena Schröder: Junge Frau, am Fenster stehend, blaues Kleid
  18. Ken Krimstedt: Die drei Leben der Hannah Arend (Graphic Novel)
  19. Tove Ditlevsen: Kindheit
  20. Tove Ditlevsen: Jugend
  21. Tove Ditlevsen: Abhängigkeit
  22. Eva Schmidt: Die untalentierte Lügnerin
  23. Alice Walker: Die Farbe Lila
  24. Alice Walker: Beim Schreiben der Farbe Lila
  25. Deborah Levy: Was das Leben kostet
  26. Bettina Flitner: Meine Schwester
  27. Donna Leon: Himmlische Juwelen
  28. Uta Scheub: Das falsche Leben: Eine Vatersuche
  29. Meike Scharff: Laufet, so werdet ihr finden: Meine Reise auf dem Jakobsweg
  30. Mason Currey: Mein kreatives Geheimnis sind bequeme Schuhe
  31. Anita Brookner: Ein Start ins Leben
  32. Ein glückliches Leben
  33. Bas Kast: Das Buch eines Sommers
  34. Veronika Peters: Das Herz von Paris
  35. Brigitte Helbling: Meine Schwiegermutter, der Mondmann und ich
  36. Simone de Beauvoir: Ein sanfter Tod
  37. Annie Erneaux: Eine Frau
  38. Marion Brasch: Aber jetzt ist Ruhe
  39. John Strelecky: Überraschung im Café am Rande der Welt
  40. Klara Nordin: Septemberschuld
  41. Djaili Amadou Amal: Die ungeduldigen Frauen
  42. Donna Leon: Milde Gaben
  43. Jürgen Becker:  Die folgenden Seiten. Journalgeschichten
  44. Katharina Hacker: Darf ich dir das Sie anbieten
  45. Daniel Schreiber: Allein
  46. Deborah Levy: Was ich nicht wissen will
  47. Thea Dorn: Trost
  48. Zoe Beck: Depression
  49. Mariana Leky: Kummer aller Art

Darf ich dir das Sie anbieten?

Auf der Suche nach einem anderen Buch entdeckte ich im Freihandbestand der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek zufällig ein schmales Büchlein von Katharina Hacker. Ich musste es mit nach Hause nehmen, nicht nur, weil ich die Autorin mag und gerne Essays lese, sondern weil der Titel mir aus dem Herzen sprach: „Darf ich Dir das Sie anbieten?“.*

Nun habe ich eigentlich überhaupt nichts gegen das Duzen. Im Gegenteil. Ich – Nach-68erIn – bin in einer Zeit groß geworden, in der sich selbst Erwachsene, die sich lange und recht gut kannten, oft mit Sie ansprachen. Die Eltern meiner SchulfreundInnen oder gar LehrerInnen zu duzen, wäre mir und anderen Kindern nie in den Sinn gekommen. Als ich erwachsen wurde, änderte sich das allmählich. Und weil es schien, als würden mit dem Sie irgendwie auch ein bisschen die verstaubten Traditionen und verkrusteten Hierarchien der 50er- und 60er-Jahre über Bord geworfen, machte ich, wie viele meiner Generation, gerne beim Duzen mit.

Allerdings habe ich nicht alle und jeden geduzt: Zu den Bekannten meiner Eltern habe ich bis zuletzt „Sie“ und Herr oder Frau xy gesagt, einen früheren Lehrer und Trainer habe ich so lange gesiezt, bis er mir irgendwann das du angeboten hat. Und auch manchen Gleichaltrigen blieb ich beim Sie – und auf Distanz. Meist zu Recht, wie sich im Nachhinein herausstellte.

Dass ich, inzwischen auf die 70 zugehend, von Jüngeren geduzt werde, ist für mich im Allgemeinen kein Problem: Von KollegInnen zum Beispiel, mit denen ich zusammenarbeite, von Menschen, mit denen ich zusammen Sport treibe oder mit denen ich gemeinsam schreibe. Aber wenn mich wildfremde Menschen mit du ansprechen oder anschreiben, fremdle ich zugegebenerweise immer häufiger. Dem Marketing-Menschen, der mich fragt: „Hast du unsere Weihnachtspost gelesen“ und der mich auffordert „lass deine Lieben gewinnen“, möchte ich antworten: „Kenne ich Sie? Sind wir miteinander in die Schule gegangen“. Und ein Los kaufe ich von jemand, der so tut, als seien wir befreundet, obwohl wir uns gar nicht kennen, gewiss nicht.

Ich bin offenbar nicht die einzige, die die „Inflation des Duzens“ nervt. Mit demBeitrag auf dem Blog Alltägliches + Ausgedachtes – nebenbei bemerkt einer der wenigen Blogs, die ich fast immer lese – landete heute Morgen ein Link zu einer wie der Autor schreibt „lesenswerten Kolumne im General-Anzeiger zum allüberall grassierenden Duz-Zwang“ in meinem E-Mail-Postfach.

Ich konnte die Kolumne von Ulrich Bumann lesen, weil sie mir „von einem Abonnenten empfohlen“ wurde. Ob der Link auch bei einer Empfehlung der Empfehlung funktioniert, wird sich zeigen, wenn dieser Beitrag online ist.

Die Kolumne ist wirklich lesenswert, ebenso wie die Minutenessays von Katharina Hacker. Das Buch „Darf ich dir das Sie anbieten“ ist im Berenberg Verlag GmbH erschienen und kostet 18 Euro.

*Dieser Beitrag enthält unbezahlte Werbung

NaNoWriMo

Heute, am 1. November, beginnt der „National Novel Writing Month” („Nationaler Monat des Roman-Schreibens”), kurz der NaNoWriMo – und ich habe beschlossen, in diesem Jahr bei dem Schreibprojekt mitzumachen. Ich will zwar keinen Roman schreiben und auch das offizielle Ziel des Projekts – in nur 30 Tagen ein Buch von mindestens 50.000 Wörten zu schreiben – ist für mich, bekennende Langsamschreiberin, völlig utopisch: Ich bin schon zufrieden, wenn ich bei in einem Monat 50.000 Zeichen aufs Papier oder in die Datei bringe.

Denn ich gehöre – zumindest bei meinen „privaten“ Schreibprojekten – zu denen, für die der Amerikaner Chris Baty das Projekt vor mehr als 30 Jahren eigentlich erfunden hat: Ich komme bei Blogs, Geschichten und Co oft nur langsam voran, weil mein innerer Zensor gerne mit am Schreibtisch oder am Computer sitzt und an allem, was ich schreibe, herummäkelt. Leider gelingt es mir nicht immer, ihn – oder genauer gesagt sie – zum Schweigen zu bringen. Und so überarbeite ich schon während ich schreibe, das Geschriebene immer, immer wieder.

Natürlich weiß ich, dass das kontraproduktiv ist – und ich bewundere wirklich alle, die in einem Monat 50.000 Wörter schreiben können. Im Jahr 2009 schafften das laut Wikipedia immerhin mehr als 30.000 der mehr als 165.000 AutorInnen, die sich offiziell am NaNoWriMo beteiligen. Das Schreibprojekte wird übrigens immer beliebter: Im ersten Jahr waren es gerade mal 21 MitschreiberInnen, im vergangenen Jahr haben laut Neobooks-Newsletter mehr als 400.000 teilgenommen, darunter 17.600 aus Deutschland.

Ich zähle nicht dazu, denn ich habe mich nicht offiziell zum NaNoWriMo angemeldet: Ich bin zu alt – oder vielleicht auch zu klug –, unerreichbaren Zielen hinterherzuhecheln. Weil mir aber die Idee gefällt, veranstalte ich meinen eigenen, privaten Schreibmonat und setze mir Ziele, die zu mir passen: So habe ich mir vorgenommen, jeden Tag mindestens eine Stunde zu schreiben – und im November an jedem zweiten Tag einen Blogbeitrag zu veröffentlichen. Auf diese Weise bessere ich meine Blogbilanz auf. Was ich mir am Neujahrsmorgen vorgenommen habe – zwei Blogbeiträge pro Woche – schaffe ich in diesem Jahr wohl nicht mehr; aber vielleicht gelingt es mir ja mindestens, mehr Beiträge als im vergangenen Jahr zu veröffentlichen.

Alle, die jetzt der Schreibehrgeiz gepackt hat, können sich auf der offiziellen Website informieren und registrieren (https://nanowrimo.org/). Infos auf Deutsch gibt es natürlich bei Wikipedia (https://de.wikipedia.org/wiki/NaNoWriMo) oder auch im Epubli-Blog (https://www.epubli.de/blog/nanowrimo).

Notabene: 50.000 Worte in 30 Tagen – das sind etwa 1.650 Wörter täglich. Dieser Blogbeitrag hatte bis zu diesem Nachsatz etwa 420 Wörter. Um das NaNoWriMo-Tagessoll zu erreichen, müsste ich fast viermal so viel schreiben – jeden Tag, auch am Wochenende.

Üben

Halbzeit. Drei Wochen der sechswöchigen Fastenzeit sind vorbei. Und wie schon in einigen Jahren zuvor beteilige ich mich auch in diesem Jahr an der evangelischen Fastenaktion. Denn das Motto gefällt mir: „Üben! Sieben Wochen ohne Stillstand“. Ich will die Fastenzeit nutzen, um neben der Morgen- auch eine Abendroutine zu etablieren.

Sechs Wochen reichen nach manchen Studien aus, um alte Gewohnheiten zu ändern oder neue in den Alltag zu integrieren. Nach der Kaizen-Philosophie dauert es dagegen 66 Tage. Allerdings muss man dann nur täglich eine Minute aufwenden (https://timetoflyblog.com/die-macht-der-gewohnheit). Ich brauche für mein Abendritual deutlich länger.  

(Fast) jeden Tag beginne ich auf die gleiche Weise: Während ich eine Tasse Kaffee aufbrühe, mache ich einige Yogaübungen, danach schreibe ich meine Morgenseiten und höre dabei Musik (https://timetoflyblog.com/same-procedure-every-day). Ähnlich entspannt wie in den Tag hinein möchte ich auch hinausgleiten. Ohne Kaffee zwar, dafür aber mit Lesen.

Ich lese vor dem Einschlafen im Bett, seit ich denken beziehungsweise lesen kann. Neben meinem Bett stapeln sich Bücher. Überwiegend Romane, Biografien, Bildbände und Sachbücher. Seit Aschermittwoch sind auch zwei (oder manchmal drei) Gedichtbände dabei. Denn ich habe mir – nicht zum ersten Mal – vorgenommen, jeden Abend ein Gedicht zu lesen.

Statt die Sonne am Morgen (für die Yogafans unter meinen LeserInnen: Surya Namaskar) grüße ich abends jetzt den Mond (Chandra Namaskar), statt Morgenseiten schreibe ich abends in mein Fünf-Jahres-Buch und in mein Tagebuch.

Mein Tagebuch soll, wie mein gesamtes Leben, bunter werden: Das habe ich mir schon lange vorgenommen, und damit wenigstens in mein Tagebuch Farbe einzieht, steht auf meinem Fastenzeit-Übungsplan eine Zeichnung täglich – oder, wie es auf Neudeutsch heißt „one sketch a day“.  Zwar zählt Zeichnen nicht zu meinen besonderen Talenten, aber es macht mir immer mehr Spaß – und Übung macht ja bekanntlich den Meister oder die Meisterin.

Womit ich wieder beim Motto der evangelischen Fastenaktion wäre: „Üben! Sieben Wochen ohne Stillstand“. Die ersten drei Wochen sind geschafft. Und bis Ostern halte ich auch noch durch.

Rezept fürs neue Jahr*

Nun ist sie vorbei, die erste Arbeitswoche im neuen Jahr, das für mich das letzte Arbeitsjahr sein wird. Denn im Oktober gehe ich in Rente: Ich höre dann zwar nicht ganz auf zu arbeiten, denn mein Beruf macht mir immer noch Spaß. Aber ich werde sicher weniger arbeiten als in der Vergangenheit.

Der Übergang zum neuen Dasein als Rentnerin gestaltet sich fließend. Denn wie viele Selbstständige im Medienbereich habe ich seit Beginn der Corona-Pandemie Aufträge verloren. So wurden beispielsweise viele Korrekturaufträge, die an Freie wie mich vergeben waren, vor nun fast zwei Jahren storniert; die meisten wohl auf Dauer. Zeitschriften leben ja bekanntlich von Anzeigen – und wenn es weniger Anzeigenaufträge gibt, wird eben da gespart, wo es am einfachsten scheint. Wem fällt es schon auf, wenn „dass“ nur mit einem s geschrieben wird, wo eigentlich zwei hingehören – und umgekehrt? Oder dass der ehemalige Oberbürgermeister von Hannover nicht Stephan, sondern Stefan heißt?

Dass ich Aufträge verloren habe, belastet mich nicht (mehr): Den meisten weine ich keine Träne nach. Und einen Auftrag hätte ich eigentlich schon lange kündigen wollen oder sollen, weil er mir mehr Frust als Lust bereitete. Ich habe natürlich gut reden. Finanziell bin ich durch die freiwillige Arbeitslosenversicherung für Selbstständige und natürlich auch durch die Pension meines Mannes abgesichert. Und um meine berufliche Zukunft muss ich mir – anders als viele jüngere Kolleginnen und Kollegen – keine Sorgen mehr machen: Ich gleite auf die Rente hin, kann mich allmählich an den arbeitsfreien Zustand gewöhnen. Das tue ich – und ich tue es gerne. Es gefällt mir, dass ich Aufträge loslassen kann, die keinen Spaß machen, sondern nur belasten. Und dass ich nicht mehr jeden Auftrag annehmen muss, auch wenn er noch so ungelegen kommt, aus Angst, ich könnte mir durch eine Absage einen Folgeauftrag vermasseln. Das Los vieler Freier.

Natürlich schaue ich nicht sorgenfrei in die Zukunft oder auch nur in das vor uns liegende Jahr. Im Gegenteil: Ich bin ausgesprochen gut im Sorgen machen, wie ein winziger Auszug aus meiner ungeschriebenen Sorgenliste zeigt. Reicht meine Rente? Wie geht es mit Corona weiter? Werden die Impfgegner noch radikaler, noch gefährlicher – hierzulande und anderswo? Ja, die Leerdenker-Bewegung macht mir zunehmend Angst: Hier verbünden sich scheinbar ganz normale Bürgerinnen und Bürger mit Geistern, die sie vielleicht nicht mehr los werden. Haben sie aus der Geschichte wirklich nichts gelernt. Fackelaufzüge, Todesdrohungen und Todeslisten erinnern an Deutschlands dunkelste Zeiten, die wir doch für immer hinter uns geglaubt hatten.

Mascha Kaléko, meine Lieblingslyrikerin, hat diese Zeit erlebt und erlitten: Die Nazis haben ihre Karriere zerstört; weil sie Jüdin war, wurden ihre Bücher als „schädliche und unerwünschte Schriften“ verboten. 1938 floh sie mit Mann und Kind in die USA, aber der berufliche Neustart war dort für eine Dichterin und einen Musikwissenschaftler nicht leicht. Mascha Kaléko hielt die Familie mit Werbetexten über Wasser und veröffentlichte Texte in der deutschsprachigen jüdischen Exilzeitung Aufbau. Im amerikanischen Exil schrieb sie, sicher in prekären Verhältnissen lebend, unter anderem auch „Rezept“, eines mein Lieblingsgedicht. Es beginnt mit den Zeilen

„ Jage die Ängste fort
und die Angst vor den Ängsten.
Für die paar Jahre
wird wohl alles noch reichen“

Ich finde, das ist ein guter Rat. Ich möchte ihn mir zu Herzen nehmen, für das noch neue Jahr und für meine Zukunft.

Wer das Gedicht nachlesen will, findet es in dem von Gisela Zoch-Westphal und Eva-Maria Prokop herausgegeben Buch: „Sei klug und halte dich an Wunder“. Es ist und enthält neben dem Gedicht noch viele andere lesenswerte Gedanken Mascha Kalékos über das Leben. Eine Leseprobe aus dem bei dtv erschienenen Buch mit dem Gedicht gibt es im Internet unter https://www.dtv.de/_files_media/title_pdf/leseprobe-14256.pdf

*Dieser Beitrag enthält unbezahlte Werbung

Mascha Kaléko: Sei klug und halte dich an Wunder, Gedanken über das Leben. Hrsg. von Gisela Zoch-Westphal und Eva-Maria Prokop, ‎ dtv Verlagsgesellschaft, 2013, 10 Euro

Fünf Jahre im Blick

Manchmal bin ich meiner Zeit voraus. Als „neue Tradition für 2022 bis 2027“ wird in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Freundin das Fünf-Jahres-Tagebuch angepriesen. „Toll zum Zurückschauen und zum Alltag-Entknoten“, heißt es.

Ich habe das Fünf-Jahres Tagebuch bereits vor mehr als fünf Jahren entdeckt, und zwar in einem Schreibwarenladen in Tromsö. Die Möglichkeit, fünf Jahre in Folge ein paar Zeilen auf jeweils eine Seite zu bannen, hat mich sofort fasziniert. Trotzdem habe ich keines der Bücher mit nach Deutschland genommen: Bei den einen missfiel mir, dass die Seiten liniert waren – Schreiben auf liniertem oder kariertem Papier geht bei mir bekanntlich ja gar nicht. Bei den anderen störten mich die Fragen oder Stichworte, die Tagebuch-Neulingen vielleicht das Notieren erleichtern. Mich stören sie aber. Ich möchte schreiben, was mir in den Sinn kommt. Wieder zurück zu Hause, musste ich lange suchen, bis ich endlich das für mich ideale Fünf-Jahres-Buch gefunden hatte.

Der erste Eintrag stammt vom 1. September 2017; seither habe ich fast jeden Abend ein paar Sätze notiert, eben wie der Titel des Buches sagt: some lines a day. Es gibt in den fünf Jahren nur wenige Lücken. Wenn ich verreise, habe ich meist Kopien einer leeren Doppelseite dabei, die ich später in das Buch einklebe. Notfalls tun es auch einfache Blätter.

In der Silvesternacht habe ich die letzten Zeilen in das alte Buch geschrieben und am Neujahrtag die ersten in das neue. Ein Tagebuch zu beginnen, ist für mich immer noch ein besonderer Moment, obwohl ich in den letzten 50 Jahren wohl weit mehr als 100 Tagebücher vollgeschrieben und ebenso viele angefangen habe. Der Zauber, der nach Hermann Hesse ja jedem Anfang innewohnt, gilt um so mehr, wenn ein Tagebuch mich nicht nur einige Monate, sondern fünf Jahre lang begleiten soll.

In meinen alten Tagebüchern lese ich fast nie; aber wenn ich abends etwas in mein Fünf-Jahres-Buch schreibe, schaue ich oft, was ich vor einem oder vor fünf Jahren am gleichen Tag gemacht habe. Und manchmal bin ich erstaunt, wie sehr sich die Tage, die Gedanken und auch die Einträge gleichen.

Dass aufs erste Fünf-Jahres-Buch das nächste folgen würde, war für mich klar. Nach dem neuen Buch habe ich lange gesucht: Ich war in drei Städten in vier Schreibwarenläden und in drei Buchhandlungen, die Leuchtturm-Kladden verkaufen. Nur eine große Buchhandlung hatte Fünf-Jahres-Bücher des Herstellers, allerdings nur in Schwarz. Dabei gibt es inzwischen mehr und schönere Farben. Fündig wurde ich schließlich im im Papier Kontor, einem kleinen, aber feinen Schreibwarenladen in Hannover. Manchmal sind die Kleinsten eben doch die Besten.

Wer Hermann Hesses Gedicht Stufen nachlesen will, findet es im Internet zum Beispiel unter https://www.lyrikline.org/de/gedichte/stufen-5494

Die unstrukturierte Leserin

Ich lese gern – und recht viel. Wenn die Statistiken nicht lügen, deutlich mehr als der Durchschnitts-Deutsche, wie immer er oder sie aussehen mag. Nach einer Umfrage des Stern aus dem Jahr 2015 lesen nämlich nur 27 Prozent mehr als zehn Bücher jährlich, 14 Prozent lesen gar keine Bücher. 39 Prozent der Befragten lesen bis zu fünf Bücher, (https://www.presseportal.de/pm/6329/2969695) – so viele liegen meist neben meinem Bett, weil ich parallel mehrere Bücher lese (und weil ich die gelesenen Bücher nicht immer sofort wegräume. Aber das ist ein anderes Thema).

Welche Bücher ich – vollständig – gelesen habe, notiere ich unter anderem in meinem Büchertagebuch. Das habe ich vor Jahren in der Livraria Bertrand in Lissabon gekauft, die angeblich die älteste Buchhandlung der Welt sein soll. 58 Bücher stehen bis jetzt in diesem Jahr auf meiner Gelesen-Liste. Und weil ich zwar Listen liebe, sie aber leider nicht sehr akribisch führe, sind es wahrscheinlich sogar ein paar mehr. Mein selbst gestecktes Jahresziel – ein Buch pro Woche – habe ich in diesem Jahr schon erreicht.

Belesen, wie manche jetzt vielleicht mutmaßen, bin ich aber nicht. Denn Duden online und Googles Deutsche Wörterbuch definieren „belesen“ als „durch vieles Lesen reich an [literarischen] Kenntnissen“. Ich habe, wenn überhaupt, nur ein gesundes Halbwissen. Und obwohl ich in meinem früheren Leben Germanistik studiert habe, kenne ich nicht einmal die Klassiker der Weltliteratur.

So bin ich bei „Ulysses“ von James Joyce ebenso wie bei Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“ nie über die ersten 50 Seiten hinausgekommen. Die Bibel und Homers Ilias – ebenfalls Must-Reads für wirklich belesene Menschen – habe ich nur auszugsweise gelesen. Und die Lektüre von Buddenbrooks und Goethes Wahlverwandtschaften liegt so lange zurück, dass es schon fast verjährt ist.

Im Studium habe ich mich noch brav durch diverse Literaturlisten gelesen, seit ich der Uni den Rücken gekehrt habe und auch dem Schuldienst erfolgreich aus dem Weg gegangen bin, bin ich eine unstrukturierte Leserin. Ich lese just for fun.

Ich lese, was mir mehr oder weniger zufällig in die Finger fällt oder vor besser vor die Augen kommt. Bestsellerlisten interessieren mich bei der Auswahl meiner Lektüre eigentlich gar nicht, die Empfehlungen verschiedener Kulturseiten und -sendungen nur bedingt. Viele Bücher finde ich auf der Neuerscheinungsliste der örtlichen Bücherei und warte dann geduldig, bis ich an der Reihe bin: Helga Schuberts „Vom Aufstehen“ zum Beispiel oder „Die Unsterblichen“ von Axel Schumann. Manchmal frage ich das Bücherei-Team, ob ein Buch, das ich gerne lesen würde, nicht auch für andere LeserInnen interessant wäre. Und manchmal überzeugen meine Buchwünsche die Mitarbeiterinnen und sie kaufen das Buch für die Bücherei (vielen Dank für beides). Beispielsweise Gabriele von Arnims „Das Leben ist ein vorübergehender Zustand“. Das Buch, in dem Sie über das Zusammenleben mit ihrem pflegebedürftigen Mann schreibt, hat mich sehr berührt, vielleicht auch, weil ich es zu einer Zeit gelesen habe, als eine Freundin und ein Freund schwer krank waren.

Wenn ich in eine Buchhandlung gehe, komme ich meist mit einem neuen Buch heraus. Aber ich entdecke auch oft Bücher wieder, die seit Jahren in meinem Bücherschrank stehen. Manchmal springen mich die Titel an. Oder besser gesagt sie schreien: „Lies mich“ – weil sie gerade (wieder) zu meinem Leben passen. Zum Beispiel Rainer Maria Rilkes „Du musst dein Leben ändern“, „Auszeit“ von Anja Meulenbelt oder „Ein sanfter Tod“ von Simone de Beauvoir.

Manchmal führt mich ein Buch auf einen Pfad, dem ich dann lesend folge: Nachdem ich Antonio Iturbos „Bibliothekarin von Auschwitz“ gelesen habe, habe ich mir Dita Kraus Memoiren „Ein aufgeschobenes Leben: Kindheit im Konzentrationslager – Neuanfang in Israel“ ausgeliehen. Dita Kraus war noch ein Teenager, als sie im sogenannten „Familienlager“ des Venichtungslagers Birkenau die Bücher vor den Nazis versteckte. Sie wurde von Birkenau zunächst nach Auschwitz und dann ins KZ Bergen-Belsen deportiert. Dort hielten die Nazis auch Anne Frank und Renata Laqueur gefangen; Anne Frank wurde dort ermordet. Renta Laqueur überlebte. Ihre Tagebücher stehen in meinem Bücherregal, und natürlich habe ich noch einmal in sie hineingelesen. 

Oft verlasse ich mich bei der Auswahl der Bücher auf Empfehlungen von Freundinnen und Bekannten – und werde nur selten enttäuscht: Tante Martl von Ursula März hat mir eine Bekannte empfohlen und ausgeliehen; Nevermore von Cécile Wajsbrot habe ich mir selbst gekauft, nachdem eine Bücherfrau aus unserer Regionalgruppe es erwähnt hat. Jetzt liegt es auf dem Stapel der zu lesenden Bücher, der seinen Platz in einem meiner Bücherregale hat.

Ein Buch, das schon lange – ungelesen – in meinem Bücherregal steht, hat es jetzt auch auf diesen Stapel geschafft: „Der Zauberberg“ von Thomas Mann. Ein Bekannter hat mir den Zauberberg ans Herz gelegt, weil es eines seiner Lieblingsbücher ist. Dass er es schon mehrmals gelesen hat, hat mich beeindruckt, immerhin hat das Buch fast tausend Seiten. Ich gebe dem Klassiker also noch eine Chance – und vielleicht ist die Vorweihnachtszeit der richtige Zeitpunkt für einen Roman, der in den Schweizer Bergen spielt und in dem ein Schneetraum zu den Höhepunkten zählen soll.

PS: Auch dieser Blogbeitrag hat mich zu einem Buch geführt: Als ich über den Text und über den Titel nachdachte, kam mir Alan Bennett „Die souveräne Leserin“ in den Sinn. Ich kannte das Buch nicht, habe es mir gekauft und kann es nur empfehlen. Natürlich ohne Gewähr, denn anders als die Queen, die Heldin des Buches, bin ich keine souveräne, sondern nur eine unstrukturierte Leserin. .

 

P