Krisenmanagement by Bahn oder Wandern im Bahnhof

Wenn eine eine Reise tut, dann kann sie was erzählen – und manchmal ist die Abreise fast so aufregend wie der Urlaub selbst. Weil meine Reisebegleiterin ungern fliegt, ging‘s mit dem Zug zum Wandern nach Ligurien. Die Hinfahrt mit Zwischenhalt in Bologna war lang, aber problemlos. Zurück gab’s im Zug von Mailand nach Zürich einen Saunagang gratis, weil die Klimaanlage nicht funktionierte. Dass nur unser Abteil betroffen war, tröstete uns wenig.

Richtig heiß wurde es dann auf dem Hauptbahnhof in Zürich. Als wir in den gebuchten Zug einsteigen wollte, erklärte uns der Schaffner, dass wir – und mit uns alle Reisenden mit Reservierungen in vier Wagons – leider nicht mitfahren könnten: Die Wagons seien defekt, ohne festen Platz ist im City-Nightliner keine Mitfahrt möglich. Ausnahmen gibt’s auch im Notfall keine.

Wie wir von Zürich nach Hannover kommen sollten, konnte uns der Schaffner nicht sagen: Mit seinem Zug jedenfalls nicht. Er schickte uns zu seiner Kollegin von der Schweizer Bahn, die immerhin auf dem gleichen Bahnsteig anderen Fahrgästen Auskunft gab. Die Schweizer Schaffnerin schickte uns zurück zum City-Nightliner. Wir sollten alle hier ein- und in Basel wieder aussteigen. Dort würden Busse auf uns warten und uns nach Hannover, Hamburg oder Amsterdam fahren. Alle zurück in den Zug; statt auf Abteilsitze zwängten wir uns in Schlafwagenabteile, was dem für die Wagen zuständigen Schaffner sehr missfiel: Die Plätze seien reserviert, für andere, es sei nicht gestattet, sich auf die Betten zu setzen oder das Gepäck darauf abzustellen, schimpfte er. Wo sich rund 200 Gäste mit gültiger Fahrkarte und Reservierung, aber ohne Platz aufhalten sollten, wusste er nicht, sicher aber nicht in seinem Wagon.

Kaum war der Zug angefahren, gab‘s eine neue Ansage: die Reisenden mit Reservierungen, aber ohne Wagon, sollten nicht erst in Basel, sondern bereits beim nächsten Halt in schweizerischen Baden aussteigen. Auf dem Bahnhofsvorplatz sollten Busse warten, die uns nach Hamburg, Hannover und Amsterdam bringen. Große Lust, die Nacht im Bus zu verbringen, hatte niemand. Doch in Ermangelung wirklicher Alternativen stiegen rund 200 Reisende brav aus, schoben und trugen rund 400 Gepäckstücke vom Gleis die Treppe runter in Richtung Bahnhofsvorplatz. Dort war allerdings kein Bus in Sicht. Busse, erklärten uns die Einheimischen, würden in der Regel hinter dem Bahnhof losfahren. Alles zurück, durch den Bahnhof, hoch zur Bushaltestelle hinter dem Bahnhof. Dort warteten lediglich ein paar Schweizer Jugendliche und ein Bus nach Freimertsdorf, wo immer das liegt. Nach ein paar Minuten zogen ein paar Reisende los, um nach den Bussen zu suchen – und kamen mit der Nachricht zurück, dass die Busse wohl doch auf dem Bahnhofsvorplatz warten würden. Wieder hinunter, in der Unterführung dann eine neue Anordnung: Alle auf Bahnsteig 5, mit einem ICE weiter nach Basel. Wir schöpften Hoffnung – bis zur nächsten Durchsage: In Basel wartete auf Gleis 8 eben jener City-Nightliner auf uns, aus dem wir ein paar Minuten zuvor aussteigen mussten. Er würde uns in fünf Minuten zum Deutschen Bahnhof in Basel bringen, wo wir dann in Busse umsteigen sollten. Von Hannover oder Hamburg war allerdings keine Rede mehr. Die Bahn hatte sich für uns ein neues Ziel ausgedacht: Frankfurt.

Wieder Treppe runter, Treppe rauf. Wir waren dank unseres einwöchigen Wanderurlaubs bestens gerüstet; nur meine Knieverletzung machte sich ohne Bandagen und Schmerzmittel schmerzhaft bemerkbar. Dem älteren Schweizer Ehepaar, das seinen Urlaub auf Norderney verbringen wollte, fiel die Bahnhofs-Wanderung mit mehreren Koffern sichtbar schwer. Die Engländerin, die bei ihren Mitwandernden mehrmals nachfragte, wohin sie denn nun müsse, konnte ihr Erstaunen über das deutsch-schweizerische Organisationschaos kaum verhehlen.

Déjà-vu: Wieder im Euro-Nightliner, wieder drängen sich 200 heimatlose Reisende in den Gängen vor den Liegewagen, hinein in die leeren Kabinen wagt sich keiner mehr, der unfreundliche Schaffner bewacht seine Schlafwagenabteile wie weiland Xerberus den Eingang zur Hölle. Wer nicht ausweicht – wohin nur in dem schmalen Gang – wird angerempelt. So manches Gepäckstück bekommt einen Tritt. Dann die Durchsage, die die Stimmung hebt: Nur für die Reisenden nach Amsterdam geht die Fahrt mit dem Bus weiter. Für alle, die in Richtung Hannover oder Hamburg wollen, werden an der Spitze des Zugs drei Abteile angehängt. Wir müssen auf dem Schweizer Bahnhof zwar noch einmal aussteigen, dürfen aber an der Spitze des Zuges wieder einsteigen, hoffentlich bis nach Hannover, irgendwann am Morgen. Zwei erste Klasse-Abteile versprechen eine recht angenehme Reise.

Es ist eine Art Murphysches Gesetz: Wenn man einen Schaffner sucht, weil man eine Auskunft oder Hilfe braucht, findet man keinen. Kurz vor fünf am Morgen taucht ein junger Mann in unserem Abteil auf: Ob wir einen Schaffner gesehen haben, fragt er, und ob wir eine Ahnung haben, wo wir sind. Er will nach Koblenz. Der Schaffner hatte ihn abends in Basel in die Abteile an der Spitze des Zuges geschickt – und damit in den falschen Zugteil. Die Wagen in Richtung Amsterdam kommen wahrscheinlich gerade in Koblenz an. Wir sind irgendwo in Hessen – zwischen Kassel und Göttingen – und damit kilometerweit von Koblenz entfernt. Er zieht resigniert ab: Seinen Termin in Koblenz kann er vergessen, hoffentlich war’s kein wichtiger. Wir wünschen ihm viel Glück bei der Suche nach dem Schaffner und bei der Weiterfahrt.

Übrigens: Unser Zug(teil) war pünktlich.

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