Würmsee im Oktober

Der erste Eindruck trügt. Vom Parkplatz sieht der Würmsee schon fast wieder wie ein See aus. Der Bagger ist verschwunden. Doch mehr als eine große Pfütze ist der See nicht – trotz der Vertiefung und obwohl es in den letzten Tagen teilweise heftig geregnet hat. Die Aussicht passt zu diesem Herbsttag: eher grau und trübe.

Die Badende könnte immerhin ihre Füße benetzen, doch sehr einladend sieht das Wasser nicht aus. Sie wird nicht vom Steg heruntersteigen, da bin ich mir sicher.

Die Pfähle des Stegs und das Boot auf der anderen Seeseite ragen weit aus dem trockenen Boden. Es ist, als habe man den Stöpsel gezogen, wie in einer Badewanne. Und das hat man ja auch. Die Moore ringsum sind trocken, zu wenig Grundwasser, kein Wasser im See.

Auch der begehbaren Pegel endet längst nicht mehr im Wasser, sondern auf dem ausgetrockneten Seegrund.

Ich fühle mich an Naturfilme aus Afrika erinnert, wo sich Tier um austrocknende Wasserlöcher scharen: Fast rechne ich damit, dass ein paar Gnus herantraben. Hier sind es nur die roten Torffresser, die Letzten ihrer Art, und ein einsamer Reiher, die ihren Hunger stillen. Zumindest der Reiher findet in den Wasserresten offenbar noch genügend Nahrung.

Vielleicht wartet er, bis sich der Reiher auf der Bank entschließt, mit ihm zu gehen pardon, zu fliegen. Doch der hat das Fliegen, so scheint es, schon lange verlernt. Oder er will seine Freunde nicht im Stich lassen, den Fuchs, den Hasen, den Eisvogel und die Kröte. Sie sitzen wie immer auf ihrer Bank und schauen dorthin, wo mal Wasser war. Doch trotz des eher traurigen Ausblicks wirken sie zufrieden. Vielleicht vertrauen sie darauf, dass es irgendwann wieder besser wird. Und vielleicht kennen sie schon die Antwort auf die Frage, die auf ihrer Bank geschrieben steht. Was brauche ich für mein Leben?

In Memoriam

Es gibt Worte und Sätze, die man nie vergisst, die einen begleiten, im Gedächtnis eingebrannt sind. Oft denkt man lange nicht an sie, doch dann kommen sie wieder hervor, wie ein Springteufel, dieses Kinderspielzeug, das aussieht wie eine harmlose Kiste und aus der dann eine Figur herausspringt, meist ein Teufel oder ein Clown.

Manchmal sind es ganz alltägliche Worte, von denen man nicht ahnte, welche Bedeutung sie haben würden, als man sie aussprach. „Man sieht sich“, habe ich vor mehr als 30 Jahren zum Vater eines Mädchens – nennen wir es Jule – gesagt. Jule und meine Tochter waren in der gleichen Trainingsgruppe, und während die Kinder sich beide bis ins Finale er Bezirksmeisterschaften spielten, unterhielt ich mich mit Jules Eltern. Sie wohnten im Nachbarort; wir kannten uns bis dahin nur vom Sehen und hatten nur gelegentlich ein paar Worte gewechselt, wenn wir unserer Töchter abholten. Wir verbrachten einen schönen Nachmittag, verstanden uns prächtig und wollten unser Gespräch bei nächster Gelegenheit fortsetzen.

Als wir am nächsten Tag weder Jule noch ihre Eltern auf dem Tennisplatz trafen, dachte ich mir nichts dabei. Die Anlage ist groß, und unsere Kinder spielten in verschiedenen Altersklassen. Jules Spiel sollte Stunden später stattfinden, als meine Tochter ihr Finale schon gewonnen hatte und wir wieder zu Hause waren.

Am Montag überbrachte meine Tochter die schlimme Nachricht: „Jules Vater ist tot“, sagte sie, als sie vom Training nach Hause kam, und sofort fiel mir siedend heiß ein, wie ich mich verabschiedet von ihm verabschiedet hatte. Und nicht nur mir. „Ich muss immer daran denken, was du zuletzt zu ihm gesagt hast“, sagte Jules Mutter zu mir, als wir uns zum ersten Mal wieder trafen und ich ihr sagte, wie leid es mir tue. Seither meide ich diesen Satz, als hätte er das Unglück heraufbeschworen, und auch noch nach mehr als 20 Jahren zucke zusammen, wenn jemand zu mir sagt „Man sieht sich“.

Als ich hörte, dass Thomas Oppermann gestorben ist, war die Erinnerung an sofort wieder da. Die Nachricht hat mich betroffen gemacht und sie lässt mich irgendwie nicht los. Ich kannte Thomas Oppermann nicht persönlich, nur aus dem Fernsehen. Er war mir sympathisch, ich schätzte ihn als Politiker, mochte seine Art, zu diskutieren. Vielleicht hätte ich mir deshalb auch die Sendung angesehen, bei der er auftreten sollte. Doch dazu kam es nicht mehr.

Man sieht sich leider nicht immer.

PS: Ich habe lange überlegt, welchen Titel ich diesem Beitrag geben sollte, und ich habe den Satz, um den es geht, hingeschrieben und wieder gelöscht. Er ist für mich eine Art Voldemort, etwas, das ich nicht aussprechen mag. Ich habe den Text in Memoriam genannt – Reminiszenz an Jules Vater, an Thomas Oppermann, an drei Trainingskameraden, die in den vergangenen Jahren gestorben sind, und an ein Buch von Connie Palmen, das ich sehr mag.

Von Namens- und anderen Ähnlichkeiten

Es gibt Orte, da fühlt man sich von Anfang an heimisch, auch wenn man noch nie dort gewesen ist. Bad Schandau ist so ein Ort. Schon der Name weckt Assoziationen. Das Haus, in dem ich geboren gehörte Familie Schander. Der Name Schander ist möglicherweise eine Abkürzung von Schandauer – vielleicht sind die Vorfahren aus Bad Schandau an die Mosel gezogen.

Im Ort selbst erinnert mich vieles an meinen Heimatort, wie er früher war, in meiner Kindheit in den 50er- und 60er-Jahren: die herrschaftlichen Häuser am Flussufer beispielsweise, auch wenn die in Bad Schandau deutlich größer sind als in Neumagen, die gepflasterte Dorfstraße, an der hier wie dort ein Blumenladen, ein Hotel und eine Metzgerei nah nebeneinander liegen.

Und da ist natürlich der Fluss: Die Elbe sieht irgendwie noch so aus wie die Mosel, bevor sie kanalisiert, also begradigt und schiffbar gemacht wurde. In Bad Schandau und in vielen Nachbarorten gibt es sogar noch Fähren, die Bewohner und Gäste von der einen auf die andere Flussseite bringen, Brücken sind dagegen seltener als an der Mosel.

In Neumagen wurde die Fähre Mitte der 60er Jahre stillgelegt, als die Brücke fertig war. Bis dahin musste man den Fährmann – Fährmanns Pittchen – rufen, wenn man von der einen auf die andere Moselseite übersetzen wollte. Und während ich diesen Text schreibe, klingt das „Holüber“ in meinem Ohr – auch wenn ich es wahrscheinlich selten gehört habe und nur aus Erzählungen meiner Eltern kenne. Denn mein Leben als Kind spielte sich auf der Neumagener, der rechten Moselseite ab. Auch die Bundesstraße auf der anderen Moselseite gab es damals nicht. Und so schlängelte sich der ganze Autoverkehr damals noch durch den Neumagen – wie heute noch durch Bad Schandau. Nur dass es damals viel weniger Autos gab.

Vor allem Winzer, die in ihre Weinberge auf der anderen Moselseite wollten, nutzten die Fähre in Neumagen. In Bad Schandau sind es die Touristen, die zum Nationalparkbahnhof wollen, der auf der anderen Elbseite liegt. Auch ich bin am Samstag mit der Fähre zum Bahnhof gefahren.

Eine typische Elbfähre, hier die bei Rathen

An den beiden Tagen davor habe ich mir aber Bad Schandau noch angesehen: Ich bin durch den Kurpark zum Botanischen Garten gewandert, der mich allerdings enttäuscht hat. Möglicherweise waren meine Erwartungen zu hoch, weil ich den Berggarten vor Augen hatte, sicher war auch die Jahreszeit für einen Gartenbesuch nicht optimal. Im Sommer sieht er vermutlich anders – attraktiver – aus. Viel besser als der Botanische Garten hat mir der kleine Kirchgarten an der Evangelischen Kirche gefallen – eine kleine grüne, stille Oase mitten in der Stadt.

Kirchgarten – kleines Idyll mitten in der Stadt

Apropos Stadt: Mit den acht Orts- pardon Stadtteilen hatte Bad Schandau am 31. Dezember 2019 gerade mal 3.600 Einwohner. Viel kleiner ist, so viel Lokalpatriotismus muss sein, mein Heimatort auch nicht. Obwohl Neumagen, pardon, Neumagen-Dhron, vor Kurzem selbst eingemeindet wurde, wohnen dort immerhin noch gut 2.200 Menschen.

Gefallen hat mir auch der Blick von der oberen Aufzugsplattform. Ja, in Bad Schandau gibt es einen Outdoor-Aufzug, der die Kernstadt unten an der Elbe mit dem Ortsteil Ostrau auf dem Berg verbindet. Zumindest halbwegs. Denn der Aufzug überwindet laut Wikipedia „nur“ einen Höhenunterschied von 47,76 Metern (https://de.wikipedia.org/wiki/Personenaufzug_Bad_Schandau). Danach geht’s zu Fuß durch den Wald weiter. Doch es lohnt sich, am Aufzug eine Pause einzulegen: Von der Aussichtsplattform und der fast 30 m langen Brücke hat man einen tollen Blick auf den Ort und auf die Elbe. Und auch der Aufzugsturm selbst im Jugendstil ist sehenswert.

Eine Straßenbahn gibt es in Bad Schandau übrigens auch. Sie heißt Kirnitzschtalbahn, ist quietschegelb, fährt – wie der Name sagt – durch das Kirnitzschtal vom Kurpark bis zum Lichtenhainer Wasserfall und wird vor allem von Wanderern benutzt, die an diversen Haltestellen aus- und in ihre Wandertouren einsteigen. Wir haben das auch getan; wir sind zum Beispiel vom Lichtenhainer Wasserfall zum Beuthenfall gewandert. Und auch im nassen Grund haben wir eine Wanderung begonnen – und ungeplant wieder beendet. Denn der Name erwies sich als (schlechtes) Omen. Es hat die ganze Zeit geregnet und wir haben die Tour irgendwann abgebrochen und sind wieder zum Ausgangspunkt zurückgekehrt.

Ein Muss für Eisenbahnfans – mit einem besonderen Gruß nach Neumagen an HS

An meinem letzten Tag in Bad Schandau war das Wetter besser, obwohl die Meteorolügen Regen vorausgesagt hatten. Und so habe ich am Elbufer gefrühstückt – keine Selbstverständlichkeit im Oktober – und konnte beobachten, wie die Festung Königstein aus dem Nebel auftauchte und wieder darin verschwand. Auch das hat mich an die Mosel erinnert – nur der im Herbst typische Duft nach Trauben, Hefe und jungem Wein fehlte.

Wandern in der Sächsischen Schweiz

Sächsische Schweiz oder Alpen, das war die Frage. Wir haben uns entschieden, in der Sächsischen Schweiz zu wandern, nicht nur, aber auch, weil die Anfahrt kürzer und wir in Bad Schandau noch eine Unterkunft für den gesamten Zeitraum gefunden haben. Ein Zimmer zwar nur statt der gesuchten Ferienwohnung. Aber es hatte immerhin einen Kühlschrank und eine kleine Kaffeemaschine – Letztere kombiniert mit einer ebenso kleinen Mikrowelle. Und auch die Lage stimmte – weit weg vom Trubel, fast im Grünen, aber nah genug am Ort, um zu Fuß überall hin zu kommen.

Pension im Grünen

Die Sächsische Schweiz hat ihren Namen wirklich verdient. Zerklüftete Felsen, die wie aus dem Nichts wachsen, grandiose Ausblicke, schmale, naturbelassene Waldwege, steile Auf- und Abstiege – und unendlich viele Stufen. Wenn ich je darüber nachdenken sollte, an einer Senioren-Treppenlauf-Meisterschaft teilzunehmen, habe ich sicher das ideale Trainingsgebiet gefunden.

Denn Stufen gibt es hier in den verschiedensten Größen und Materialien: in Stein gehauen oder im Laufe der Jahrhunderte ausgetreten, aus Holz oder aus Metall. Oft dienen Steine – aufgeschichtet oder zufällig daliegend – und Baumwurzeln als natürliche Steighilfen.

Gleich unsere erste Tour von der Neumannsmühle im Kirnitzschtal hinunter an die Elbe bot einen Vorgeschmack auf das, was uns in den nächsten Tagen erwartete: Sie endete mit einem langen Abstieg, bei dem ich erst nach gefühlt etwa der Hälfte der Strecke begonnen habe, zu zählen: Ich kam auf 712 Stufen. Den DIN-Normen für Treppenstufen entsprechen sicher nur wenige – und wenn, dann eher zufällig. Nur bei Treppen und Leitern aus Metall sind zwei aufeinanderfolgende Stufen (etwa) gleich groß.

Die Touren waren für mich – Flachländerin mit recht guter Kondition und einer vor allem im Harz und in den Moselbergen erworbenen Wandererfahrung – anspruchsvoll, die Kletterpartien zwischendurch teilweise eine echte Herausforderung.

In der Wilden Hölle Foto Foe Rodens

Zum Glück ging meine Wanderpartnerin meist voran und half an schwierigen Stellen: mal zog sie mich, wenn der Stein, der erklommen werden musste, zu hoch oder meine Beine zu kurz waren, mal stützte sie mich beim Abstieg, wenn mein ramponiertes Knie mich quälte. Auf diese Weise bin ich unter anderem durch die Wilde Hölle gekommen, habe die Heilige Stiege und den Wildschützensteig bewältigt. Bei dem ein oder anderen Weg habe ich allerdings gestreikt, da ich zwar trittfest, aber weder klettererfahren noch absolut schwindelfrei bin. Die frei in einer Höhle hängende Leiter zum Winterstein habe ich ebenso wenig erklommen wie die Rübezahlstiege, weil dort laut Beschreibung die für Kletterstiege übliche Absicherung fehlt. Vor ein paar Jahren hätte ich es vielleicht gewagt, doch jetzt sind solche Ziele nichts (mehr) für mich, auch wenn eine wunderschöne Aussicht lockt. Aber es gibt genügend andere beeindruckende Aussichtspunkte.

Allen voran die Bastei, die fast 200 m über die Elbe ragt. Die Felsformation gehört laut Wikipedia zu den markantesten Aussichtspunkten der Sächsischen Schweiz – und ist auch der meistbesuchte: Etwa 1,5 Millionen Besucher kommen jährlich. Deshalb haben wir den Rat unserer Vermieterin befolgt: Möglichst nicht am Wochenende hingehen, am besten früh morgens oder abends nach Sonnenuntergang. Und auch ein anderer Rat erwies sich als goldrichtig: Wir haben uns gleich nach der Ankunft in Bad Schandau ein Wochenticket für den ÖPNV besorgt, mit dem wir alle Wanderstart- und Zielpunkte bequem und stressfrei erreicht haben – auch die Bastei.

Als wir morgens kurz nach sieben Uhr mit der Fähre von Rathen nach Neurathen übersetzten, waren wir die einzigen Touristen. Beim Aufstieg begegneten uns einige junge Leute, die noch früher aufgestanden und schon wieder auf dem Weg ins Tal waren. Oben angelangt waren wir zwar nicht die ersten Besucher, aber es war noch erfreulich leer – als wir am späten Vormittag durch das Schwedenloch wieder zurück zur Fähre wanderten, kamen uns ab dem Amselsee Hunderte Menschen entgegen – an einem normalen Donnerstag im Oktober. Am Wochenende ist hier gewiss die Hölle los.

Keine Frage: Der Besuch lohnt. Die Bastei hat mich wirklich beeindruckt: die schroff abfallenden Felsen, die tollen Ausblicke, zum Beispiel auf Lilien- und Königstein und auf die Elbe tief unten im Tal. Und natürlich die Reste der Burg, die vielleicht schon vor fast 1.000 Jahren auf dem nur 100 m breiten, damals nur sehr schwer zugänglichen Plateau gebaut wurde – ohne die technischen Hilfsmittel, die den Handwerkern in den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts beim Bau des Hotels und des Restaurants auf der Bastei zur Verfügung standen.

Die Felsenburg als Modell

Die Felsenburg Neurathen wurde erstmals im Jahr 1289 urkundlich erwähnt. Sie soll etwa 220 × 100 Meter groß gewesen sein, die Gebäude bestanden weitgehend aus Holz. Schon 1530 war die Burg wohl nur noch eine Ruine, trotzdem haben die Menschen aus der Umgebung während des 30-jährigen und anderen Kriegen dort und im nahegelegenen Schwedenloch Schutz gesucht. Heute können die ausgehauenen Räume, Durch- und Wehrgänge, Zisterne und die Balkenauflager der einstigen hölzernen Aufbauten im Freilichtmuseum besichtigt werden (https://de.wikipedia.org/wiki/Felsenburg_Neurathen).

Die berühmte Basteibrücke aus Sandstein wurde in der Mitte des 19. Jahrhunderts errichtet. Sie ist fast 80 m lang und überbrückt eine etwa 40 Meter tiefe Schlucht, die Mardertelle. Auf Caspar David Friedrichs bekanntem Bild „Felsenpartie im Elbsandsteingebirge“, das in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts gemalt wurde, ist auch ihr Vorgänger, die hölzerne Basteibrücke, nicht zu sehen.

Neurather Felstor im Original – und auf dem bekannten Gemälde von Caspar David Friedrich

Caspar David Friedrich war übrigens nicht der einzige Maler, der die Bastei verewigte. Viele Künstler der Romantik wanderten zu dem Felsmassiv, obwohl der Weg damals noch sehr beschwerlich war. Ihren Spuren folgt heute der Malerweg, einer der beliebtesten Wanderwege Deutschlands.

Im Schwedenloch, einer engen Schlucht auf dem Weg zur Bastei, haben die Menschen früher in Kriegszeiten sich und ihr Hab und Gut versteckt.

Der Weg führt auch an den Schrammsteinen vorbei, die der schönen Aussicht wegen an Wochenenden ebenfalls zum Wander-Hotspot werden. Auch deshalb haben wir sie an unserem ersten Wander(sonn)tag nicht erklommen. Außerdem fühlten wir uns nach rund 20 Kilometern nicht mehr fit genug für eine Wanderung auf dem Grat. Aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben: Ich werde die Schrammsteine sicher noch ersteigen – beim nächsten Besuch in der Sächsischen Schweiz

27. September: Ein Tag im Jahr*

Maxim Gorki hat’s erfunden: Er rief im Jahr 1935 alle Schriftsteller auf, einen gewöhnlichen Tag im Jahr – zufällig der 27. September – möglichst genau zu beschreiben, um so weltweit einen „Jedertag“ zu porträtieren. Doch obwohl das Unternehmen „Ein Tag der Welt“ „nicht ohne Resonanz“ blieb, wie Christa Wolf im Vorwort zu ihrem Buch „Ein Tag im Jahr“ schreibt, wurde es nicht weitergeführt.

25 Jahre und einen Weltkrieg später wiederholte die Zeitschrift Istwestja den Aufruf, der Christa Wolf, damals noch eine junge, eher unbekannte Autorin, nach eigenen Aussagen „sofort gereizt“ hat: „Ich setzte mich also hin und beschrieb meinen 27. September 1960“– und alle folgenden bis zum Jahr 2011. Die Aufzeichnungen im Jahr 2011 brach sie ab – sie hatte, so ihr Mann, nicht mehr die Kraft zu schreiben. Anfang Dezember starb Christa Wolf. Gerhard Wolf veröffentlichte die Tagesberichte der Jahre 2001 bis 2011 nach ihrem Tod; der erste Band war bereits 2003 unter dem Titel „Ein Tag im Jahr, 1960–2000“ erschienen, beide im Suhrkamp (Taschenbuch) Verlag. Die Texte zu veröffentlichen, war für die engagierte Schriftstellerin „eine Art Berufspflicht“.

„Ein Tag im Jahr“ ist kein Tagebuch, sondern ein Tagesbuch. Zwischen 6 und 26 Seiten sind die Tageserzählungen lang, und nicht immer schrieb Christa Wolf sie sofort nieder. Die Einträge waren für sie auch „ein Test, was ich vom gestrigen Tag noch weiß, was ich aus der schnell verblassenden Erinnerung festhalten, ‚retten‘ kann.“ Sie wollte festhalten, wie das Leben zustande kommt, was das eigene Leben ausmacht. Und so schrieb sie von ihrer Arbeit, über Menschen in ihrem Umfeld, über ihren Alltag – über Alltägliches und Kleinigkeiten – und über das Wetter. Das findet immer statt, unabhängig von der politischen Wetterlage – in ihren Aufzeichnungen und im richtigen Leben. 1990, im Jahr der Wiedervereinigung, war sie versucht, „dieses Projekt abzubrechen, aus einer tiefer sitzenden Hemmung heraus als aus der gewöhnlichen Unlust. Ich sitze also seit einer halben Stunde untätig vor dem Blatt, auf dem ich mir Notizen machen will“, schrieb sie – und machte dann doch weiter. Zum Glück.

Das Projekt fasziniert nicht nur mich. Die Autorin Angelika Jesse von Borstel aus Altusried führt die Künstlertraditon seit fast einem Jahrzehnt mit dem Schreibprojekt „Ein Tag im Jahr“ weiter. Im Dezember treffen sich die Teilnehmerinnen dann im Frauenzentrum für Kultur, Bildung und Kommunikation in Kempten, um Texte und Erfahrungen auszutauschen. Ich werde zwar sicher nicht nach Kempten reisen, aber auch ich will meinen 27. September beschreiben – in diesem und vielleicht auch in den nächsten Jahren. 

Übrigens: Thomas Brasch, der aus der DDR stammende Lyriker, Dramaturg und Schriftsteller, hat dem 27. September ein Gedicht gewidmet. „Der schöne 27. September“ wurde erstmals 1980, vier Jahre nach seiner Ausreise aus der DDR, in dem gleichnamigen Gedichtband veröffentlicht, nachzulesen unter https://marionbrasch.de/2018/09/27/der-schoene-27-september/.

Christa Wolf:
Ein Tag im Jahr: 1960-2000 (suhrkamp taschenbuch)
Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (suhrkamp taschenbuch)

*Der Beitrag enthält unbezahlte Werbung.

Würmsee im September

Mit der Ruhe und der Idylle am Würmsee ist es vorbei. Mit dem Seesein auch. Denn der See ist verlandet – so wenig Wasser wie jetzt hatte der Würmsee noch nie, behaupten ältere Burgwedeler, die es wissen müssen. Und auch ich habe ihn in den vergangenen 30 Jahren noch nie in einem so jämmerlichem Zustand gesehen.

Nur noch ein paar Pfützen sind übrig geblieben – in ein paar Wochen werden auch sie nur noch Schlammlöcher sein. Folge der anhaltenden Trockenperiode und mehrerer trockener Jahre hintereinander. Der Klimawandel lässt grüßen – und man ahnt, dass ein ausgetrockneter See schon bald eines unserer geringsten Probleme sein wird.

130.000 Kubikmeter Wasser hat die Stadt seit Anfang des Jahres in den See gepumpt und damit das von der Region Hannover erlaubte Kontingent fast ausgeschöpft – vergeblich. Jetzt versucht man,  das Beste aus der Situation zu machen: Es wird kein Wasser mehr in den See gepumpt, weil es ohnehin nur verdunsten würde. Stattdessen wird die Gelegenheit genutzt, um den See zu entschlammen. Und so frisst sich jetzt ein Bagger in den Untergrund, wo vor ein paar Monaten noch Gänse und Blesshühner nach Futter suchten. Rund 30 cm Boden werden abgetragen, damit das Wasser nicht durch zu viel organisches Material belastet wird, wenn sich der See im Herbst und Winter wieder füllt – und die Wasservögel wiederkommen.

Die Badende schaut dem Treiben interessiert zu, vielleicht hofft sie, dass sie bald wieder – wie früher – von ihrem Steg ins Wasser springen und schwimmen kann. Doch sie irrt, die Zeiten sind wohl endgültig vorbei. Das Wasser umspült ihren Steg nur, weil die Bagger ganz in der Nähe mit der Arbeit begonnen haben.

Auch mein Badeboot auf der anderen Seeseite liegt längst auf dem Trockenen. Der Steg, der zu ihm führt, ragt mehr als einen halben Meter aus dem Seegrund. Ich bräuchte ihn nicht mehr, um zu meinem Lieblingsplatz zu kommen, ja, ich könnte sogar trockenen Fußes durch den See wandern zur Badende wandern, um sie zu besuchen. Doch ich weiß, dass sie keine Gesellschaft mag und lieber für sich ist.

Auch die Torffresser sind Einzelgänger; sie finden zwar noch genügend Grünfutter, doch auf ihre Lieblingsspeise – frischen Torf – müssen sie ebenso verzichten wie auf Frösche und Amphibien. Die sind längst ausgewandert.

Nur die Kröte am gegenüberliegenden Seeufer harrt noch an ihrem angestammten Platz unter der Bank aus. Aber auch sie und ihre vier Freunde werden wohl nicht mehr lange bleiben – ohne Wasser kein Leben am See.

Auch nicht in der Hütte, die immer noch leer steht und wie mir heute scheint still vor sich hin rostet.

Katzensitten mit Nebenwirkungen

Am Wochenende war ich zum Katzensitten im Harz. Ich bin eine erfahrene Katzensitterin – die Katzen unserer Nachbarn hüte ich seit Jahrzehnten, zur Zufriedenheit der Katzen und ihrer Besitzer. Fiene, die Nachbarkatze, fremdelt zwar anfangs noch immer ein bisschen, wenn ich ihre Betreuung übernehme. Doch nach ein paar Tagen akzeptiert sie mich als Familienmitglied, und als Anerkennung für meine Dienste als Tütenöffnerin legt sie mir gelegentlich eine Maus vor die Tür, meist mit einem Blättchen garniert. Den Sinn fürs Dekorative hat Fiene wohl von ihrer Besitzerin „geerbt“; vielleicht weiß sie aber auch, dass ich Salat eigentlich lieber mag als Fleisch.

Prinzessin K. kannte ich bislang zwar durch gelegentliche Besuche bei ihrer Besitzerin, aber „gesittet“ habe ich sie zum ersten Mal. Nun ist Katzensitten ja keine tagfüllende Angelegenheit. Meist möchten die Stubentiger – oder im Fall von Prinzessin K eher Stubenpanther – in Ruhe gelassen werden, wenn sie satt sind und die gewünschten Streicheleinheit bekommen haben. Prinzessin K. hat sich danach jedenfalls ganz tiefenentspannt auf ihren Katzenbaum zurückgezogen und ich war entlassen – frei nach Friedrich Schiller: „Der Mensch hat seine Arbeit getan, der Mensch kann gehen.“*

Ganz entspannt …

Ich habe die Gelegenheit genutzt, mir Bad Harzburg anzusehen. Jahrelang sind wir einfach daran vorbeigefahren; jetzt nehme ich mir Zeit, durch die Hauptstraße zu bummeln, die auch noch Bummelallee heißt. Das Städtchen hat Charme: Mir gefallen die hübsch renovierten Häuser, die teilweise noch aus einer Zeit stammen, in der Kur- und Badeaufenthalte noch den Herrschaften vorbehalten waren …

… die Radau, die durch den Ort fließt, und die vielen kleinen Teiche …

… und natürlich der Rosengarten. Vor allem die gelben Rosen haben es mir angetan, die intensiv nach Zitrone duften.

Auf dem Rückweg komme ich am Sophiengarten vorbei – die Wohnanlage ist ebenso neu wie der klassizistische Pavillon in der Mitte, aber die Inschrift gefällt mir: Freut euch nicht zu spät.

Ein kluger Rat, und ich nehme mir vor, ihn zu beherzigen. Ebenso wie den, der auf der Tasse steht, aus der ich hier meinen Kaffee trinke:

In der Sendung mit der Maus, die ich früher fast lieber gesehem habe als meine Tochter, würde es heißen: Das ist Lateinisch und heißt wörtlich „Pflücke den Tag“. Gemeint ist: „Genieße den Tag“.** Das tue ich leider zu selten. Aber das kann sich ja ändern.

Merke: Frau kann beim Katzensitten und beim Bloggen darüber offenbar manches lernen.

*Das Zitat stammt, anders als ich gedacht habe, nicht von Shakespeare, sondern es ist aus Friedrich Schillers Verschwörung des Fiesco, und zwar aus dem vierten Auftritt des dritten Akts. Und es heißt auch nicht Schuldigkeit, sondern Arbeit.

**Laut Wikipedia ist der Satz die Schlusszeile der Ode „An Leukonoë“ von  Horaz, der von 65 v. Chr. bis 8 v. Chr. lebte. Er fordert „als Fazit des Gedichtes dazu auf, die knappe Lebenszeit heute zu genießen und das nicht auf den nächsten Tag zu verschieben“. Das will ich tun. https://de.wikipedia.org/wiki/Carpe_diem

See-Seeing

Fast ein Jahr, nachdem ich am Natelsheidesee vor verschlossenen Toren stand, weil der gleichnamige Campingplatz schon geschlossen war, habe ich es nach endlich geschafft: Ich bin im Natelsheidesee geschwommen. Aber es war wie so oft im Leben, wenn man lange – zu lange – auf etwas wartet: Die Realität kann die inzwischen viel zu hohen Erwartungen nicht erfüllen.

Am See lag‘s nicht. Anders als die Ostsee, wo man gefühlt stundenlang durchs knietiefe Wasser waten muss, kann man im Natelsheidesee schon nach drei oder vier Metern schwimmen. Das Wasser war noch recht warm, fühlte sich gut – weich wie Regenwasser – an und an dem kleinen Badestrand war ich die einzige.

Natelsheide See in Bissendorf Wietze

Mehr los – für meinen Geschmack zu viel – war in dem kleinen Outdoor-Café/Restaurant am anderen Seeufer. Und weil das Wetter eher trist war und mich zudem das Dauergeräusch von der Autobahn direkt nebenan nervte, verzichtete ich auf den Kaffee, den ich eigentlich trinken wollte, stieg aufs Rad und fuhr weiter.

Den Kirchhorster See habe ich eher zufällig „wiederentdeckt“: Als ich vor fast 20 Jahren in einem kleinen Verlag in Kirchhorst gearbeitet habe, bin ich in der Mittagspause manchmal im See geschwommen – seither bin ich an dem kleinen See immer nur vorbei gefahren. Der Abstecher hat sich gelohnt: Ich hatte den See und den großen Badesteg ganz für mich allein.

Vielleicht lag’s daran, dass der Sommer zumindest nach der Definition der Meteorlügen schon seit 1. September zu Ende ist, vielleicht waren auch die Blaualgen schuld. Das Gesundheitsamt der Region hatte ihretwegen zur Vorsicht geraten. Da ich weder ein Kind bin noch vorhatte, viel Wasser zu schlucken, habe ich zuerst im See und dann ganz ungestört auf dem Steg in der Sonne gebadet.

Kirchhorster See

Auf dem Rückweg bin ich zu einem kleinen Seerosenteich geradelt, der am Rande der Gartenstadt Lohne liegt. Die ist, anders als der Name vermuten lässt, keine Stadt, nicht einmal ein richtiges Dorf, sondern ein Schlafort ohne Infrastruktur. Ich finde sie trostlos, mag aber den kleinen See, an dem ich früher auf dem Weg zur Arbeit manchmal Halt gemacht habe.

Biotop am Rande der Gartenstadt Lohne

Die Seerosen waren längst verblüht, dafür entdeckte ich am anderen Ufer zwischen den Pflanzen ein pelziges Tier. Für eine Bisamratte war’s zu groß, ob Biber oder Nutria wusste ich ebenso wenig wie die Frau, die vorbeikam und stehen blieb. Im Frühjahr seien noch vier kleine Biber/Nutrias im See gewesen, doch dann war die Familie verschwunden. Jetzt sehe sie sie zum ersten Mal nach Wochen wieder, erzählte sie.

Biber oder Nutria, das ist hier die Frage. Die gut erkennbaren Ohren und die langen Barthaare sprechen für Nutria.

Der Altwarmbüchener See musste bis zum nächsten Sonntag warten. Der See ist der zweitgrößte See in Hannover – und ein beliebtes Naherholungsgebiet. Die vielen Birken auf der kleinen Vogelschutzinsel und am Ufer und mehrere kleine Teiche am Rundweg vermitteln ein bisschen Finnland-Feeling.

Finnland? Nein …

Am See gibt es zwei offizielle Badestrände – einer in Hannover und einer in Altwarmbüchen – und mehrere inoffizielle, einen Bootsverleih und einen Wassersportverein. Man kann segeln, surfen, rudern, paddeln – und natürlich schwimmen. Aber dazu hatte außer mir offenbar niemand mehr Lust – und wieder hatte ich einen Badesee ganz für mich allein.

… der Altwarmbüchener See

Der Springhorstsee, See Nummer vier auf meiner Bade-Tour durch Burgwedel und die Nachbardörfer, liegt am Ortsrand von Burgwedel, also quasi vor meiner Haustür. Wenn mich die Sehnsucht nach Wasser packt, fahre ich oft zum See; geschwommen bin ich dort in diesem Sommer noch nicht.

Der Springhorstsee gehört wie der Natelsheidesee zu einem Campingplatz. Weil niemand am Eingang zu sehen war, habe ich befürchtet, zu spät zu kommen. Aber das Tor zum Strand ließ sich öffnen: Ich konnte zum See, den Blick aufs Wasser und das Schwimmen in aller Ruhe genießen. Merke: Manchmal ist es gut, wenn man spät kommt.

Strandfeeling in Großburgwedel

Es wird nicht der letzte Besuch in diesem Jahr sein. Denn die Seesucht geht weiter: Sie kann nämlich nur vorübergehend gestillt, aber nicht geheilt werden.

Würmsee im August

Vorgestern bin ich zum Würmsee gefahren, aber er war – wie auch bei meinem Besuch in der vorletzten Woche – nicht da. Überrascht hat mich das nicht, denn im Sommer verschwindet der See fast immer. Zurück bleibt, wenn überhaupt, nur ein bisschen Wasser in der Mitte, kaum mehr als eine überdimensionale Pfütze.  

Der Regen in den letzten Tagen hat daran nichts geändert; er war kaum mehr als ein Tropfen in den trockenen See. Wo vor ein paar Monaten noch Wasser war, wachsen jetzt Pflanzen; die Badende könnte den Steg jetzt verlassen und ihr Sonnenbad auf dem Seegrund fortsetzen.

Mein „Boot“ am gegenüberliegenden Ufer liegt natürlich auf dem Trockenen, auf meinem Lieblingsplatz sitzend, sehe ich, wie weit der Wasserspiegel abgesunken ist.

Blick vom Boot vor zwei Wochen …
… und aufs Boot vorgestern

Ein bisschen erinnert mich der Anblick an die Serengeti in Afrika, wo Flüsse und Seen in der Trockenzeit verschwinden, Millionen Tiere dem Wasser nachwandern und sich um die verbleibenden Schlammlöcher scharen.

Schlammloch oder See?

Das ist hier anders. Gänse und Reiher habe ich bei meinen letzten Besuchen am See nicht mehr gesehen – sie fliegen zumindest tagsüber zu Plätzen, wo es mehr Wasser und mehr Nahrung für sie gibt. Die Torffresser bleiben dagegen in ihrem Reservat: Sie lassen sich den Appetit nicht verderben und grasen seelenruhig zwischen den austrocknenden Torfhaufen. Die Letzten ihrer Art haben vielleicht deshalb überlebt, weil sie so genügsam und anpassungsfähig sind. Und zur Not können sie ja auch mit ihren Schaufeln nach Wasser graben

Und auch die fünf von der Bank – Eisvogel, Kröte, Reiher, Fuchs und Hase – harren noch aus. Aber ich frage mich, wie lange noch. Sie blicken, so scheint es mir, sorgenvoll auf den kleiner werdenden See. Das, was sie wirklich zum leben brauchen, nämlich Wasser, wird allmählich knapp. Und vielleicht werden auch sie demnächst auswandern wie die Tiere aus dem Talerwald, an die sie mich bei jedem Besuch wieder erinnern.

Was brauchst du wirklich zum Leben: Wasser. Das wird auch hierzulande langsam knapp

Ein schöner Sonntag

Nein, dieser Tag macht seinem Namen keine Ehre, denn sonnig ist es heute nicht. Und sommerlich auch nicht, obwohl es Juli ist. Aber das ist hierzulande eben keine Garantie für sonniges Wetter, obwohl wir – oder zumindest Sonnenanbieter wie ich – das nach zwei außergewöhnlich heißen Sommern erhoffen oder erwarten.

Meine Stimmung ist irgendwie trüb wie das Wetter, ich weiß nicht so recht, was ich mit mir und dem Tag anfangen soll. Doch dann kommt mir ein Buch von Jorge Semprún in den Sinn. „Was für ein schöner Sonntag!“ Semprún beschreibt einen Sonntag des Häftlings No. 44904 (S) alias Gérald im Konzentrationslager Buchenwald – und blickt von diesem Tag auf sein Leben.

Ins KZ Buchenwald wurde Jorge Semprún, in Madrid geboren und nach der Flucht aus Spanien seit 1941 als Gerard in der französischen Resistance aktiv, 1943 deportiert. Er hat den Sonntag und das KZ überlebt – keine Selbstverständlichkeit. Schätzungsweise 56.000 der rund 266.000 Gefangenen starben. Jorge Semprún kehrte nach der Befreiung 1945 nach Paris zurück, arbeite zunächst dort, später im Untergrund in Spanien gegen das Franco-Regime. Von 1988 bis 1991 war er spanischer Kulturminister, später lebte er wieder in Paris.  

Ich habe „Was für ein schöner Sonntag“ gelesen, finde das Buch aber nicht, obwohl ich in allen Regalen, die infrage kommen, suche – bei den (Auto)Biographien, bei den Romanen, bei den Schreib- und bei den Lieblingsbüchern. Hatte ich es mit an die Mosel genommen und versehentlich entsorgt, als ich vor zwei Jahren meine Bücherregale in meinem Elternhaus aufgelöst habe? Oder habe ich es gar nicht gekauft, sondern nur ausgeliehen? Ich weiß es nicht mehr.

Jorge Semprun im Bücherregal. Der schöne Sonntag fehlt – noch.

Ich erinnere mich nicht mehr genau an den Inhalt, aber das Gefühl, dass ich das Buch wieder lesen muss, bleibt. Also bestelle ich es im modernen Antiquariat, wie ich es oft tue, erstens, weil gebrauchte Bücher weniger kosten, und zweitens, weil ich finde, dass Bücher ein zweites Leben verdient haben – vor allem so gute.

Und ich nehme mir wieder einmal vor, meine Bücherregale neu zu ordnen, um mir künftig langes Suchen zu ersparen. Ein trüber Sonntag wie dieser ist da gerade recht. Oder ich könnte endlich mit der Buch-Challenge beginnen, bei der ich schon lange mitmachen will: 30 Bücher soll ich vorstellen, die mir zu bestimmten Vorgaben einfallen: Mit einer Zahl im Titel beispielsweise oder mit einem Tier oder eine Autobiographie. Eine spannende Aufgabe.

Doch während ich diese Zeilen schreibe und darüber nachdenke, was für ein Luxus es doch ist, nur mit dem Wetter zu hadern, überlegt es sich die Sonne anders: Sie kommt hervor und vielleicht macht der Tag seinem Namen doch noch alle Ehre.