Ich bin ein Kunstbanause. Was Malerei (und leider auch Musik) angeht, bin ich völlig talentfrei, ambitions- und ahnungslos. Wenn ich ein Bild sehe, kann ich sagen: gefällt mir oder gefällt mir nicht. Wenn es hoch kommt, weiß ich auch noch, warum (wegen der Farben, wegen des Motivs (Noldes Mohnblumen zum Beispiel) oder einfach nur so. Die Qualität eines Bildes oder einer Skulptur kann ich indes nicht beurteilen. Ist es Kunst, Kunsthandwerk oder nur Kitsch? Ich weiß es nicht – und es ist mir irgendwie auch egal.
Ich habe zwar keine Ahnung von Kunst, aber ich interessiere mich sehr dafür, wie Künstler leben und arbeiten. Vielleicht hoffe ich insgeheim, dass es mich inspiriert (wenn schon nicht zum Malen, dann doch zum schreiben); ein Schuss Voyeurismus ist zugegebenerweise auch dabei. Aus diesem Grund ist Kunst in Bewegung für mich ein Pflichttermin. Seit 2006 öffnen Künstler – Profis und Amateure – einmal im Jahr ihre Ateliers und ihre Gärten oder präsentieren in öffentlichen Gebäuden, zum Beispiel im Rathaus, in der Seniorenbegegnungsstätte oder im Amtsgericht, ihre Werke.
In den ersten Jahren sind die Burgwedeler in Scharen von einem Ausstellungsort zum anderen gezogen; die meisten mit dem Fahrrad oder zu Fuß, weil Burgwedel zwar offiziell Stadt, aber eigentlich ein überschaubares Dorf ist. Ich erinnere mich genau, dass sich im Atelier eines der Initiatoren zehn oder mehr Leute drängten. Kunst in Bewegung hat viele bewegt. An diesem Wochenende war, so scheint es mir, das Interesse geringer. Irgendwie hat die Veranstaltung ein wenig von ihrem Charme eingebüßt. Der lag für mich (nicht nur, aber) auch in der privaten Atmosphäre, die in den letzten Jahren verlorengegangen ist. Ich mochte den Blick hinter die Kulissen und finde es schade, wenn auch verständlich, dass nicht mehr so viele Künstlerinnen und Künstler ihre Ateliers öffnen wie in dern ersten Jahren. Außerdem machen einige meiner Lieblingskünstlerinnen wie Christina Jehne nicht mehr mit. Andere sind nach Wettmar „abgewandert“.
Deshalb habe ich mich diesmal auf ein Kurzprogramm, d. h. auf die privaten Ausstellungsorte beschränkt, auf den verwunschenen Garten von Elke Seitz beispielsweise mit den zahllosen Spiegeln. Ich war bei Lieselotte Schuster und natürlich im Atelier von Inka Dybus. Ihre Glaskunstwerke faszinieren mich immer wieder – besonders toll wirken sie in ihrem Garten: ein Gesamtkunstwerk.
Im Spiegel – im Garten von Elke Seitz
Inka Dybus – Glaskunst im Garten
Atelier von Inka Dybus
Nächste Woche geht’s weiter – bei Sommerspaziergang in Wettmar.
Manchmal liegt das Gute ganz nah, beispielsweise im Süden von Hannover, wo Leine, alte Leine und zahlreiche Teiche und Tümpel eine Wasserlandschaft ganz nach meinem Geschmack bilden.
Schon die Fahrt mit dem Rad von Limmer nach Süden führt immer am Wasser, an Ihme und Leine, lang. Mal auf der rechten, mal auf der linken Flussseite. Der Uferwechsel ist dank zahlreicher Brücken jederzeit möglich. Am Stadion, in dem ab der nächsten Saison nur noch Zweitliga-Fußball zu sehen sein wird, lassen wir Maschsee und Leine links liegen und fahren durch die Leineaue. Hier merkt man nicht, dass man eigentlich noch in der Großstadt ist. Ein naturbelassener (für uns namenloser) Bach schlängelt sich durch Wiesen und durchs Unterholz.
Natur – mitten in der Stadt. Foto: Nele Schmidtko
An den Ricklinger Teichen, der Costa Kiesa Hannovers, herrscht schon Hochbetrieb. Drei Seen, der Dreiecksteich, der Sieben-Meter-Teich und der Große Teich, werden als Badeseen genutzt. Ein paar ganz Mutige wagen sich sogar schon ins Wasser, die meisten beschränken sich aufs Sonnenbaden.
Nicht nur Menschen ziehen die Teiche im Süden von Hannover magisch an. Die meist durch Kiesabbau entstandenen Seen sind inzwischen ein wichtiger Lebensraum für Wasservögel. Im Naturschutzgebiet Leineaue wurden mehr als 240 als Gast- bzw. Brutvögel nachgewiesen, darunter allein etwa 60 Wasser- und Watvogelarten, außerdem viele Fledermäuse, Schmetterlinge und Insekten- sowie seltene Pflanzen wie Schwanenblume, Wiesen-Alant, Breitblättriger Stendelwurz oder Flatter-Ulme, die ich leider nicht (er)kenne, wenn ich sie sehe.
Mit Vögeln kennt sich zumindest Nele dagegen sehr gut aus. Nachtigall, Eisvogel, Rotmilan und Fischadler soll es hier geben. Wir sehen neben diversen Enten, Gänsen, Schwänen und Blesshühnern einen Reiher, mehrere Greifvögel und bei Grasdorf dann ein Storchennest. Die Jungen müssen schon geschlüpft sein, weil der Storch nicht mehr brütet, sondern im Nest steht.
Storch im Anflug. Foto: Nele Schmidtko
Während Nele beobachtet und fotografiert, kommt der zweite Storch zurück. Er wird mit Geschnäbel begrüßt und löst seinen Partner oder Partnerin ab, der/die bis dahin geduldig auf dem Nest ausgeharrt hat. Zwei oder sogar drei Junge glauben wir zu sehen. Vielleicht gelingt es den Storcheneltern ja in diesem Jahr wieder, ihren Nachwuchs aufzuziehen. In den vergangenen beiden Jahren hat es nicht geklappt, wie eine Informationstafel in der Nähe des Horsts verrät. Dabei finden sie auf den feuchten Wiesen entlang der alten Leine und an den Seen um Koldingen sicher reichlich Nahrung.
Ein Wiesel nähert sich uns bis auf wenige Meter, ehe es im Gebüsch verschwindet. Jetzt fehlen von den Tieren aus dem Thalerwald, die meine Tochter als Kind geliebt hat, nur noch Fuchs, Dachs und Kröte. Zumindest die Kröten verstecken sich aus gutem Grund, solange die Störche und ihr stets hungriger Nachwuchs so nah sind.
Koldinger Teiche. Foto: Nele Schmidtko
Obwohl ich schon so lange in Hannover lebe, kenne ich die Koldinger Seen bislang nur vom Vorbeifahren mit dem Zug. Schade. Ich habe definitiv etwas verpasst. Und natürlich packt mich der Neid: Wie gerne hätte ich diese Seenlandschaft vor der eigenen Haustür. Aber ich komme gewiss wieder, spätestens im Herbst, wenn Tausende Zugvögel hier einen Zwischenstopp auf ihrer Reise in den Süden einlegen.
Ich bin in den vergangenen zwölf Monaten zum Couchpotatoe mutiert. Zu meiner Ehrenrettung muss ich sagen: Wider Willen, denn eigentlich bewege ich mich sehr gerne. Bis zu meiner Knieverletzung war ich eine ganz passable und begeisterte Läuferin. Ich bin schon gejoggt, als joggen noch langstreckenlaufen hieß.
Doch seit einem Jahr läuft’s leider nicht mehr. Auch eine Meniskus-OP im vergangenen Dezember hat daran bislang nichts geändert, im Gegenteil. Das Training auf dem Crossstepper ist für mich nur eine Notlösung und auch gehen ist nicht wirklich mein Ding. Es geht mir nicht schnell genug. Dabei täte es mir wahrscheinlich gut, es einmal ruhiger angehen zu lassen –nicht nur sportlich. „Wandern ist die vollkommenste Art der Fortbewegung, wenn man das wahre Leben entdecken will. Es ist der Weg in die Freiheit“, behauptet Elizabeth von Arnim. Grund genug, es auch einmal gehend zu versuchen.
Als ich letztens eine Woche an der Mosel war, habe ich es immerhin geschafft, fast jeden Tag spazieren zu gehen oder zu wandern. Mal mit Freunden, mal allein, meist mit Blick auf den Fluss. Denn das Wasser vermisse ich im Norden immer mehr, je älter ich werde. Einer meiner Lieblingswege in der alten heimat: der erste Teil des Römersteigs von Trittenheim bis zur Konstantinhöhe hoch auf dem Berg. Auf der steilen Treppe am Anfang des Wegs merke ich, dass mein Knie noch lange nicht in Ordnung ist – und dass meine Kondition nach einem Jahr fast ohne Sport sehr zu wünschen übrig lässt. Nach der Treppenetappe geht’s auf einem Weinbergsweg nach oben: durch die noch kahlen Weinberge, die an der Mosel Wingerte heißen, auf einem Pfad ganz nach meinem Geschmack: schmal, naturbelassen, mit schönem Blick auf die Mosel.
Auf dem Weg zum Fährfelsplateau.
Kurze Pause auf dem kleinen Fährfelsplateau – in der Sonne sitzen, lesen und schreiben mitten in den Weinbergen. Wer allerdings auf der Bank sitzend den Tisch erreichen will, braucht längere Arme als meine.
Leider endet der schmale Pfad schon bald, weiter geht‘ s auf einem breiten Wirtschaftsweg – allerdings entschädigt der Ausblick auf die Mosel für die „Wanderautobahn“. Bei der Abzweigung Schieferhöhlen/Konstantinhöhe wird’s wieder besser. Den anspruchsvolleren Klettersteig, der auf der linken Seite auf die Höhe führt, schafft mein lädiertes rechtes Knie noch nicht, also nehme ich den schmalen Waldweg zur Linken, der etwas weniger steil zur Konstantinhöhe führt. Die verdankt ihren Namen dem römischen Kaiser Konstantin. Ihm soll hier – oder vielleicht auch an einer anderen Stelle auf dem Neumagener Berg – im Traum ein leuchtendes Kreuz Himmel erschienen sein und Christus soll ihm geraten haben, es gegen seine Feinde einzusetzen: in hoc signo vinces – in diesem Zeichen wirst du siegen. Konstantin befahl daraufhin das Kreuz als Feldzeichen zu verwenden, berichtet Eusebius von Caesarea in seiner Biographie Kaiser Konstantins – und besiegte seinen Gegner Maxentiuns 312 an der Milvischen Brücke. Der Schriftsteller Laktanz schreibt, Konstantin habe den Traum in der Nacht vor der Schlacht gehabt. Wie er es dann rechtzeitig vom Neumagener Berg bis nach Italien geschafft hat, wissen die Götter. Ich habe jedenfalls keine Vision, dafür genieße ich den Ausblick, auch wenn sich die Sonne ein bisschen verzogen hat. Dann geht’s zurück, statt über den Berg nach Neumagen wieder nach Trittenheim.
Konstantinhöhe über Trittenheim
Zwei Tage später wandere ich einen weiterer Teil des Römersteigs: Von Piesport gehe ich an der Mosel entlang zurück Richtung Neumagen. Kurz hinter Ferres, einem Mini-Dorf mit gut einem Dutzend Häusern, geht’s wieder über eine steile Wingertstreppe den Berg hoch. Wieder macht sich das fehlende Training bemerkbar und ich bewundere die Männer, die im Herbst den ganzen Tag über diese Treppe die Trauben mit in einer zentnerschweren Hotte hoch- oder runtertragen. Auch das Traubenlesen hat im Steilhang seine Tücken, das weiß ich aus Erfahrung: Wenn der Eimer mal losrollt, gibt es kein Halten mehr.
Den DIN-Normen entspricht diese Treppe gewiss nicht: keine der steinernen Stufen gleicht der anderen. Mir ist’s recht, mir gefällt sie wesentlich besser als die 0815-Betonversion in Trittenheim.
Nix mit DIN – Moselsteig Teil 2
Doch leider ist der zweite Teil der Treppe gesperrt, die zum verbotenen Heck führt. Der „Wanderpfad mit alpinem Charakter“ soll an der Schutzhütte Weislei enden. Weil ich den Weg nicht kenne, nur wenig Zeit habe und sich dunkle Wolken am Himmel zusammenballen, folge ich den Römersteig-Schildern. Die Umleitung entpuppt sich bis auf eine kurze Zwischenetappe wieder als breiter Wirtschaftsweg; auch hier entschädigt wieder der Blick auf die Mosel. Doch ein richtiger Wanderweg ist der Römersteig leider nicht. Zu viel gut ausgebaute Rad und Wirtschaftswege, zu wenig schmale, naturbelassene Wanderwege. Schade.
Doch ich gebe dem Wandern eine Chance: Beim nächsten Moselbesuch werde ich auf der verbotenen Treppe zum verbotenen Heck wandern. Und demnächst geht’s im Harz auf dem Hexenstieg – 97 Kilometer von Osterode nach Thale. Schluss mit Couchpotatoe.
Wir haben die Wohnung unserer Untermieter geräumt. Sie sind schon vor einigen Monaten ausgezogen, ohne sich zu verabschieden und ohne ihre Einrichtung mitzunehmen. Wirklich traurig waren wir über den Auszug nicht. Wir hatten heimlich darauf gehofft, dass sie uns nach einigen Monaten wieder verlassen würden. Denn gut war unser Verhältnis nie, genau gesagt: Ich habe sie nie besonders gemocht. Obwohl es – ich muss es zugeben – eigentlich keine Konflikte gab. Sie waren ruhig, meist haben wir ihre Anwesenheit gar nicht bemerkt. Nur wenn sie sich gestört fühlten, reagierten sie ungehalten. Doch Störungen ließen sich leider nicht immer vermeiden. Die Kommunikation zwischen uns funktionierte einfach nicht. Wir fanden nie die gleiche Wellenlänge. Sie suchten keinen Kontakt – und wir auch nicht. Jeder ging seiner Wege. Unsere Lebensgewohnheiten waren einfach zu unterschiedlich – und manche Missstimmung zwischen uns beruhte wahrscheinlich auf Missverständnissen.
Als ich beispielsweise einmal bei starkem Regen die Rollläden in meinem Zimmer herunterlassen musste, waren sie sehr aufgebracht. Wütend versuchten sie, in mein Zimmer einzudringen und es ist mir gerade noch gelungen, das Fenster rechtzeitig zu schließen. Ich hatte bis dahin gar nicht bemerkt, dass sie eingezogen waren und fühlte mich ehrlich gesagt sogar ein bisschen bedroht.
Seither traute ich ihnen nicht mehr wirklich– auch wenn ich nicht alle Horrorgeschichten glaubte, die über sie erzählt werden. Dass sie zu siebt ein Pferd getötet haben beispielsweise und dass sie das immer wieder tun würden. Und dass auch Menschen nicht vor ihnen sicher sind, wenn man sie reizt. Trotzdem bin ich ihnen nach unserem ersten Zusammentreffen aus dem Weg gegangen und habe den Raum neben ihrem einfach möglichst wenig benutzt. Das war zwar nicht schlimm, weil ich im Sommer ohnehin lieber im Wintergarten arbeite – dennoch fühlte ich mich ein wenig eingeschränkt. Schließlich ist es unser Haus, nicht ihrs.
Vielleicht haben sie gespürt, dass sie nicht wirklich willkommen waren. Sie haben zwar nie etwas gesagt, aber im Herbst waren sie dann so plötzlich verschwunden, wie sie gekommen waren. Dass sie ihre Einrichtung und ihre Abfälle nicht mitgenommen haben, hat vor allem meinen Mann geärgert, weil er ihre Wohnung ausräumen musste. Ich fand es interessant zu sehen, wie sie sich eingerichtet hatten: Sie hatten den ohnehin kleinen Raum in mehrere Bereiche unterteilt. Besonders stabil war die Einrichtung nicht und wir konnten sie ohne große Kosten entsorgen. Jetzt landet alles auf dem Müll – wir wollen keine Nachmieter mehr. Unsere alten Mieter hatten ohnehin nie Miete bezahlt.
Warum wir sie überhaupt so lange geduldet haben, wollt ihr wissen. Nun ja: Wir haben ein Herz für Tiere, sind gesetzestreue Bürger – und Hornissen stehen bekanntlich unter Artenschutz.
Vor der Räumung: Verlassenenes Hornissennest. Foto: Utz Schmidtko
Das Tagebuch der Anne Frank. Großes Kino, wenig Publikum. Wieder ein typischer Frauenfilm: 16 Frauen, die meisten fast oder über 60 und ein Mann. Für mich ein Muss. Anne Frank führte das Tagebuch von seit ihrem 13. Geburtstag – von Juni 1942 bis zum 1. August 1944, drei Tage bevor sie verhaftet und deportiert wurde – zunächst ins niederländische Lager Westerbork, dann nach Auschwitz und schließlich nach Bergen-Belsen. Dort starben sie und ihre Schwester Margot Frühjahr 1945, kurz vor dem Kriegsende in Bergen-Belsen. Ihre Eltern hatten sich für das falsche Land entschieden, als sie 1934 mit den Kindern vor den Nazis aus Deutschland flüchteten. Als die Deutschen das Nachbarland besetzten, waren die Niederlande kein sicherer Ort mehr.
Von den acht Menschen, die im Hinterhaus untergetaucht waren, überlebte nur Annes Vater Otto Frank. Er veröffentlichte 1947 die Tagebücher seiner Tochter. Die erste Auflage, vom Juni 1947 mit 3.000 Exemplaren war schnell vergriffen, schon im Dezember erschien die zweite, im Februar 1948 dann die dritte Auflage – inzwischen mit 10.000 Exemplaren. In Deutschland erschien Anne Franks Tagebuch erstmals 1950. Inzwischen wurde das Buch in fast alle Sprachen übersetzt – es wurde mehrmals verfilmt und 2009 von der UNESCO in das Weltdokumentenerbe aufgenommen. Der Erfolg ihrer Tagebücher hätte Anne selbst sicher sehr überrascht.
„Ich nehme an, dass später weder ich noch jemand anders Interesse haben wird an den Herzensergüssen eines dreizehnjährigen Schulmädels“, schrieb sie am 20. Juni 1942, kurz nach ihrem Geburtstag. Wie sehr hat sie sich sehr geirrt.
Ich habe das Tagebuch 1973 gekauft und gelesen – damals war ich fast 17, und schon älter, als Anne geworden ist. Inzwischen habe ich drei verschiedene Ausgaben, aber die älteste, aus dem Jahr 1972, ist mir die liebste, obwohl es inzwischen sicher bessere, textkritischere Ausgaben gibt.
Die Blätter sind vergilbt, einige schon brüchig und einige Seiten lösen sich. Ich habe es mehrmals gelesene – und immer wieder wundere ich mich, wie erwachsen Anne war, mit gerade einmal 13, 14 oder 15. Aber wahrscheinlich musste sie sehr schnell erwachsen werden. Ständig in Lebensgefahr, eingesperrt mit Erwachsenen, die versuchten, sie zu erziehen, wie sie beklagte.
Schon bevor sie im Hinterhaus untertauchen musste, hatte Anne kein normales Leben. Vieles war verboten, weil sie Jüdin war – Schwimmen, Rad fahren, ins Kino gehen, leben. Sie hatte große Pläne für die Zeit danach:
Reisen wollte sie und studieren, Kunstgeschichte in Paris und London. Sie träumte davon, Journalistin und später eine berühmte Schriftstellerin zu werden. „Nach dem Krieg will ich auf jeden Fall ein Buch mit dem Titel ‚Das Hinterhaus‘ veröffentlichen, ob das gelingt, bleibt noch die Frage, aber mein Tagebuch wird dafür dienen können“, schrieb sie am 11. Mai 1944 in ihr Tagebuch. Sie überarbeite im Hinterhaus ihr Tagebuch, schrieb kurze Geschichten, die jetzt in von Reclam veröffentlicht wurden (Anne Frank: Denn schreiben will ich. Aus den Tagebüchern und anderen Werken. Reclam 2016)
Eins wollte Anne nicht: Sie wollte nicht leben wie ihre Mutter und viele andere Frauen, die „ihre Arbeit machen und später vergessen sind“. Anne Frank durfte gar nicht leben. Zumindest ein Wunsch hat sich erfüllt. „O ja, ich will nicht umsonst gelebt haben wie die meisten Menschen.“
Vorgestern, Ostersamstag, der erste richtige Frühlingstag. Wir eröffnen die Gartensaison. Wo geht das besser als in den Herrenhäuser Gärten, die angeblich zu den schönsten Parkanlagen Deutschlands gehören. Das kann ich nicht beurteilen, weil ich zu wenige Parkanlagen kenne. Aber die Herrenhäuser Gärten sind wirklich toll. Ich mag vor allem den Berggarten, mit dem Großen Garten kann ich wenig anfangen, zu akkurat, wie mit dem Lineal gezogen, die Pflanzen, von den Menschen zurechtgestutzt und zurechtgebogen. Einmal saßen etwa zehn Gärtner nebeneinander in einem Bett, schnitten winzige Pflanzen – wenn ich mich recht erinnere, war es Buchs – in Form. Dass ich keine Kamera dabei hatte, bedaure ich noch heute.
Im Berggarten dürfen die Pflanzen zwar nicht wachsen, wie sie wollen, aber man hat das Gefühl, dass sie es dürfen. Und der Garten sieht jedes Mal, wenn ich dort bin, anders aus.
Das Tropenhaus ist zurzeit gesperrt, schade, kein Besuch bei den Wasserschildkröten. Wenn ich Zeit habe, sitze ich gerne unter riesigen Pflanzen an den beiden Becken und bilde mir ein, irgendwo in den Tropen zu sein. Warm genug ist es selbst im Winter, und hier, in Hannover, muss ich keine Angst vor Schlangen, Spinnen und anderen Tieren haben. Kurzbesuch im Orchideenhaus: Ich mag Orchideen nicht besonders und würde mir keine auf die Fensterbank stellen. Aber hier, wo sie üppig wuchern, faszinieren sie mich doch. Vor allem gefällt mir der Duft – jedes Mal anders, jedes Mal aufs Neue schön. oder vielleicht besser – betörend?
Wie ein Star-Trek-Symbol, behauptet meine Tochter: Orchidee in den Herrenhäuser Gärten.
Draußen blüht noch nicht wirklich viel, es war bis jetzt vor allem nachts einfach zu kalt. Tulpen, Osterglocken, Narzissen, Schneeglöcken und natürlich Scilia, vor allem auf der Wiese am Mausoleum. Der Moorweiher ist noch ziemlich karg und ruhig, in ein paar Wochen sitzen hier hunderte Frösche dicht an dicht und quaken um die Wette.
Wieso hier und nicht bei mir: Tulpen im Berggarten
Im Staudengrund, einem meiner Lieblingsplätze, fließt zwar schon Wasser, aber auch hier trauen sich noch keine Pflanzen heraus. In ein paar Wochen wird der künstliche Bach fast unter dem Grün verschwunden sein. Und ich werde wieder Fotos machen, um sie zu Hause, in unserem Garten, diversen Pflanzen zu zeigen, die ihr Eigenleben führen und nicht wollen, wie ich will: Seht ihr, so solltet ihr eigentlich aussehen. Genutzt hat es bislang noch nicht, aber man soll die Hoffnung ja nicht aufgeben.
Zum Schluss zur Grotte im Großen Garten: Die wurde zwar schon 1676 erbaut, doch nachdem die Muscheln, Kristalle. Glas und Mineralien, die sie ursprünglich schmückten, entfernt worden waren, diente die Grotte nur noch als Lagerraum. Erst zur Expo 2000 wurde sie restauriert – und dann nach den Plänen von Niki Saint Phalle neu gestaltet.
Die Nanas am Leineufer mag ich nicht besonders, aber die Grotte – vor allem die blaue – zählt zu meinen Lieblingsplätzen in Hannover. Immer wieder ist das Licht anders, immer wieder schimmert das Blau anders, und immer wieder entdecke ich etwas Neues.
Blaue Grotte – immer in anderem Licht
Danach keine Lust mehr auf Kino, Colonia Dignidad muss auf einen weniger schönen Tag warten. Im eigenen Garten wird der Unterschied zwischen wild wachsen (bei uns) und aussehen, als ob es wild wächst, deutlich. In meinen Beeten wächst vor allem Gras (nein, nicht nur aber auch), entlang des Zauns vermehrt sich der Giersch unter dem kleingehäckselten Baumschnitt ganz vorzüglich: Die grünen Blättchen zeigen sich tückischerweise erst, wenn sie schon recht kräftig sind und sich vernetzt haben. Bliebe er am Rand des Gartens unter den Büschen, ließe ich ihn gewähren: Aber der Giersch ist ein Eroberer und macht sich wieder im ganzen Garten breit. Ihm macht der Winter offenbar nichts aus, anders als Minze, Salbei, Lavendel, Zitronenmelisse, Rosmarin und alle meine Kräuter, die nach dem Winter nicht mehr sehr ansehnlich. Und auch das Blaukissen tut sich in diesem Jahr schwer – mein Zwerg sitzt, unbeeindruckt lesend, in einer noch recht kahlen Umgebung.
Lesezwerg, noch ohne blaues Kissen
Ich habe zum Lesen keine Zeit. Just do it: Ich fange an, fühle mich ein bisschen wie Sysiphos, nur dass ich keinen Stein rolle, sondern gefühlte Stunden Gras und (Un)kraut rupfe und zupfe. Manches erkenne ich inzwischen (vor allem Giersch), aber oft frage ich mich auch, ob ich nicht das, was ich gerade herausreiße, im letzten Jahr gepflanzt habe. Beim Sauerampfer weiß ich es genau. Den habe ich letztes Jahr gesetzt – jetzt wuchert er im ganzen Beet, sodass für die anderen Kräuter zu wenig Platz bleibt. Ich grabe ihn aus, strafversetze ihn unter die Sträucher am Zaun. Dort kann er Giersch und Efeu Konkurrenz machen und mit ihnen um die Wette wuchern. Es wird, hoffe ich, ein spannendes Rennen und vielleicht landen sie demnächst gemeinsam bei uns auf dem Tisch.
Im letzten Sommer hat mich eine Freundin zum Wildkräutermenü mit sechs oder sieben Gängen eingeladen: Vieles, was dort serviert und von ihr teuer bezahlt wurde, gedeiht in unserem Garten vorzüglich: neben Giersch und Sauerampfer auch Gänseblümchen, Löwenzahn, Brennnesseln und Waldmeister. Vielleicht sollte ich künftig statt zu bloggen oder Korrektur zu lesen Kräuter-Spezialitäten auf dem Wochenmarkt verkaufen. Oder versuchen, die Gourmet-Restaurants in Niedersachsen zu beliefern. Möglicherweise ergeben sich hier ganz neue Perspektiven.
Wünschen hilft, behaupten manche Coachs und Mental-Trainer. Wenn wir uns etwas nur genug wünschen, geht es in Erfüllung. Wir müssen nur fest daran glauben, behaupten sie. Ich bin da zugegebenerweise eher skeptisch, aber es schadet ja nicht, es gelegentlich mal auszuprobieren.
Als ich irgendwann im Februar eine Fahrkarte buchen wollte, hatten mein Computer und/oder die Website der Bahn offenbar keinen guten Tag: Sie behaupteten, dass es am frühen Sonntagmorgen – anders als an Werktagen – keine direkte Verbindung zwischen Hannover und Leipzig gibt. Stattdessen schlugen sie mir vor, zunächst nach Berlin zu fahren und dort in einen Zug nach Leipzig umzusteigen. Um rechtzeitig zu meinem Termin um 11 Uhr in Leipzig zu sein, willigte ich ein – allerdings mit einem mulmigen Gefühl, denn knapp zehn Minuten Zeit zum Umsteigen sind nicht gerade großzügig bemessen.
Drei Tage vor der Fahrt entdeckte ich dann beim Warten auf einen anderen Zug – ganz klassisch auf dem gelben Aushangfahrplan auf dem Bahnhof – eine weitaus bessere Alternative: zwar mit einem langsameren IC, dafür aber ohne Umsteigen, ohne Umweg und deshalb sogar ein paar Minuten schneller.
Doch leider war es zu spät: Der Umtausch hätte mich nicht nur die übliche Gebühr von 15 Euro gekostet, sondern wäre wesentlich teurer geworden: Weil ich Hin- und Rückfahrt gleichzeitig gebucht hatte, hätte ich auch die Rückfahrkarte zurückgeben und neu kaufen müssen. Also beschloss ich, den Umweg in Kauf zu nehmen. Aber ich hoffte natürlich, dass der Zug nach Berlin sich schon in Hannover verspäten würde – und ich einen Anlass hätte, einen anderen Zug zu nehmen.
Ganz funktionierte es nicht: Der Zug stand pünktlich abfahrbereit auf dem Gleis, als ich ankam. Allerdings war der Halt im Hauptbahnhof in Berlin gestrichen – und damit auch die Möglichkeit, dort den Anschlusszug nach Leipzig zu erreichen. An der Auskunft – pardon, am Service Point – erfreulicherweise diesmal keine Schlange, die Mitarbeiterin war nicht nur ausnahmsweise freundlich, sondern hatte auch ein Einsehen: Warum der Halt in Berlin gestrichen worden war, wusste sie auch nicht, aber sie hob ohne Zögern die Zugbindung auf – ich konnte wie gewünscht in den IC nach Leipzig steigen. Der stand schon mit vielen leeren Plätzen am Bahnsteig gegenüber und brachte mich pünktlich zu meinem Termin. Manchmal hilft wünschen offenbar doch, und vielleicht versuche ich es gelegentlich auch mit größeren Zielen.
Vorgestern im Kino: „Suffragette – Taten statt Worte“. Erzählt wird die Geschichte der Wäscherin Maud Watts – und der Sufragetten, der Frauenrechtlerinnen, die Anfang des 20. Jahrhunderts vor allem in England und den USA ums Wahlrecht für Frauen, gegen Gesetze, die Frauen benachteiligen, und für Gleichberechtigung kämpften.(Für alle, die es wie ich nicht wussten: Suffragette kommt von souffrage – Wahlrecht.)
Weil ihre friedlichen Versuche erfolglos sind und von den Zeitungen (das Radio wurde damals gerade erst erfunden, andere Medien gab’s noch nicht) totgeschwiegen werden, werden die Aktionen der Frauen radikaler: Sie werfen z. B. Schaufenster und Straßenlampen ein oder sprengen Briefkästen in die Luft. Maude gerät im Jahr 1913 eher zufällig durch eine Kollegin in die Aktionen hinein und wird dann selbst aktiv. Wie viele Frauenrechtlerinnen wird sie dabei geschlagen, verhaftet, eingesperrt und zwangsernährt. Bisher brave Ehefrau und Mutter, zahlt sie für ihr Engagement einen hohen Preis: Sie verliert ihren Job – und damit ihre Existenzgrundlage -, ihren Mann und ihren Sohn, der von ihrem Mann zur Adoption freigegeben wird.
Darf er das denn, fragt frau sich – ja, er durfte. Denn bis weit ins 20. Jahrhundert bestimmten die Männer nicht nur allein in Politik und Wirtschaft, sondern auch in der Familie und über die Kinder – auch wenn die Frauen die Erziehungsarbeit leisteten.
Zur Erinnerung für alle aus meiner Generation, die es schon vergessen haben – manche Jüngere lesen es vielleicht zum ersten Mal:
Die Vorrechte des Vaters bei der Kindererziehung wurden in der Bundesrepublik erst am 1. Juli 1958 mit dem Gesetz über die Gleichberechtigung von Mann und Frau eingeschränkt; vollständig beseitigt wurden sie erst 1979. Erst durch das Gleichberechtigungsgesetz Ende der 1950er Jahre wurde das Recht des Ehemanns, in allen Eheangelegenheiten die endgültige Entscheidung zu treffen, ersatzlos gestrichen; Frauen dürfen erst seit 1958 über das Vermögen verfügen, das sie selbst in die Ehe eingebracht haben – vorher bestimmten die Männer, was mit dem Geld ihrer Frauen geschah. Bis 1958 durfte der Mann auch das Arbeitsverhältnis seiner Frau ohne ihre Zustimmung fristlos kündigen; ohne Einverständnis ihrer Männer erwerbstätig sein dürfen Frauen erst seit 1977. Bis dahin durften sie nach § 1356 des Bürgerlichen Gesetzbuchs nur arbeiten, „soweit dies mit ihren Pflichten in Ehe und Familie“ vereinbar war. Es ist heute also vieles besser – sicher auch, weil Elisabeth Selbert darum gekämpft hat, dass der heute so selbstverständliche Satz „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ ins Grundgesetz aufgenommen wurde und weil sich nach ihr viele Frauen dafür engagiert haben, dass der Satz auch umgesetzt wird.
Manches, was in dem Film angesprochen wurde, ist noch heute aktuell: So dürfen Frauen in Deutschland zwar seit 1919 wählen – aber nur gut ein Drittel (rund 36 Prozent) der Abgeordneten im Deutschen Bundestag sind derzeit Frauen. In den Landes- und Kommunalparlamenten ist der Frauenanteil – und damit der Einfluss der Frauen – teilweise noch geringer.
Und was die Lohnunterschiede angeht: Im Film erhalten die Frauen pro Woche 17 Schilling Lohn, die Männer 19 Schilling. Das sind 10,5 Prozent weniger (allerdings glaube ich im Film gehört zu haben, dass die Frauen auch länger arbeiten). In Deutschland verdienten Frauen im vergangenen Jahr im Durchschnitt 22 Prozent weniger als Männer. Um ebenso viel zu verdienen wie die Männer in einem Jahr, müssen Frauen 79 Tage länger arbeiten – in diesem Jahr bis zum 19. März, dem Equal pay day. Selbst schuld, heißt es, denn Frauen wählen eben oft die falschen Berufe. Warum es wertvoller oder zumindest besser bezahlt wird, Autos und technische Geräte zu pflegen als Kinder, kranke oder alte Menschen, verstehe ich bis heute nicht. An der (finanziellen) Geringschätzung „weiblicher“ Berufe (und Arbeit) hat sich offenbar noch nichts geändert.
Ich gebe zu: Ich bin kaffeesüchtig. Aufs Frühstück kann ich gerne verzichten, auf die Tasse Kaffee nach dem Aufwachen nicht. Ohne Kaffee bin ich unleidlich. Zu Hause brühe ich mir morgens auf, sobald ich wach bin die erste Tasse – von Hand. Bei meiner Freundin, die ich besuche, erledigt das eine Kaffeemaschine. Keine von klassischen mit Filter und Kanne und auch kein Billigmodell, das selbst ein Technik-Analphabet wie ich bedienen kann: Pad rein, Tasse unterstellen Kaffe raus. Nein, Sabine besitzt eine Hightechmaschine, die die Bohnen selbst mahlt und je nach gewählter Stärke, Art des Kaffees und Größe der Tasse zuteilt. Das Wunder der Technik steht in ihrem Arbeitszimmer, also direkt neben dem Gästezimmer, in dem ich schlafe. Eigentlich optimal: So bekomme ich frühmorgens meinen Kaffee, ohne alle anderen Hausbewohner zu wecken. Doch mir schwant Böses, denn mit unbekannten Geräten tue ich mich zugegebenerweise schwer.
„Keine Angst, es ist ganz einfach, sie spricht mit dir“, sagt Sabine, als sie meine schreckgeweiteten Augen sieht. Genauer gesagt, sie schreibt mir kurze Botschaften, sobald ich den An-/Aus-Knopf gedrückt habe – und solange meine Freundin neben mit steht, sind die Botschaften eindeutig. Start, Kaffeespezialität auswählen, die Maschine reinigt sich kurz selbst, Tasse unterstellen, alles prima und der Kaffee ist nach kurzem Geknatter fertig. So stark, dass ich sicher bin, dass man meinen Herzschlag noch im Nachbarhaus hört. Kein doubleshot beim nächsten Mal, mir reicht die einfache Bohnen-Dosis.
Als ich am nächsten Morgen mit der Kaffeemaschine alleine bin, wird sie anspruchsvoller. „Wasser auffüllen“, verlangt sie, als ich sie anschalte. Kein Problem, der Wassertank lässt sich mit einem Griff lösen und genauso einfach wieder befestigen. Da ich diese Aufgabe gelöst habe, traut sie mir mehr zu und wünscht eine Rundum-Wartung: „Auffangschale leeren“, schreibt sie. Verständlicherweise, denn die Schale ist wirklich randvoll. Leider habe ich nur im Büro Licht gemacht. Und so balanciere ich mit der offenen Schale vorsichtig durch den dunklen Flur ins ebenso dunkle Badezimmer. Weil auch der Behälter in dem der Kaffeesatz gesammelt ist ziemlich voll ist, leere ich ihn gleich mit. Vorausschauendes Handeln nennt man das oder – weniger freundlich – vorauseilender Gehorsam.
Erwartungsfroh schiebe ich die saubere Auffangschale wieder an ihren Platz, stelle meine Kaffeetasse hin und freue mich auf meinen inzwischen wohlverdienten Kaffee. „Milchschäumer ziehen“, fordert mich die Maschine auf. Ein Blick auf den Kaffeespezialitätenschalter verrät, dass zuletzt jemand einen Café Creme getrunken hat. Zum umwählen ist es offenbar zu spät – sie reagiert nicht, weigert sich, weiterzumachen. Und ich habe keine Milch, die aufgeschäumt werden kann. Wir stehen uns ein paar Sekunden wortlos gegenüber. „Milchschäumer ziehen“, blinkt mir weiter entgegen. Schließlich vertraue ich darauf, dass die Maschine weiß, was sie will.
Ich habe mich getäuscht. Weil ich ihren unausgesprochenen Hunger nach Milch nicht erfüllt habe, faucht sie verärgert und sprüht mir Wasserdampf entgegen wie ein kleiner Drache. Schnell hänge ich die Düse wieder an ihren Platz und drücke auf Start. „Milchsystem reinigen“, schreibt sie. „Nur wenn du bitte sagst“, denke ich laut.
Doch weil ich vergeblich auf das Zauberwort warte, beschließe ich, die Anordnung zu ignorieren. Ich drücke noch einmal auf Start. Sie zögert wieder und fast erwarte ich, dass auf ihrem Display ein energisches „Nein“ oder ein wenig freundliches „Du kannst mal erscheint“ aufleuchtet.
Wieder stehen wir uns stumm gegenüber. „Die Klügere gibt nach“, denke ich. Ich bin inzwischen bereit, heroisch auf den morgendlichen Kaffee verzichten und statt dessen Mineralwasser zu trinken. Ist ohnehin gesünder. Ich will die Maschine gerade ausschalten, als sie losknattert und den Kaffee in die Tasse gießt – mit einem leichten Schaum, schwarz und so stark, dass man meinen Herzschlag noch im Nachbarhaus hört.
Mein Handy hat im November seinen Geist aufgegeben. Das hat mich nicht überrascht, obwohl es damals gerade mal ein halbes Jahr alt war. Das ist selbst für ein Smartphone kein besonders hohes Alter. Aber es hat geschwächelt, seit ich es bekommen habe. Der Akku, der angeblich 300 Stunden Stand-by durchhalten sollte, war spätestens nach 48 Stunden leer. Wenn jemand mich anrief oder eine SMS schickte, oder wenn ich gar wagte, meine Mails abzurufen, machte er meist schon nach einem Tag schlapp.
Das sei normal, behauptete der junge Mann, der es mir verkauft hatte: Dass die Angaben zu den Akkulaufzeiten und damit zum Stromverbrauch nicht stimmen, wisse doch jede/r. Ich wusste es nicht und hatte auf die Angaben des Herstellers vertraut. Aber damals wusste ich auch noch nicht, dass VW die Abgaswerte der Autos nach unten korrigiert hat. Papier und die moderne IT-Variante Websites sind halt geduldig.
Auch ich brauchte viel Geduld, nicht nur, weil mein Smartphone ständig aufgeladen werden musste. Irgendwann Ende November blieb es dann auch mit aufgeladenem Akku stumm. Es sagte keinen Ton mehr, ließ sich weder ein- noch ausschalten. Drei Wochen würde die Reparatur dauern, sagte der junge Mann im Handy-Laden. Meinen Hinweis, dass das sehr lange sei für ein Gerät, das man ständig braucht, beantwortete er mit einem Schulterzucken. Immerhin besorgte er mir ein Ersatzhandy: Mein Argument, dass ich auch keine Gebühren zahlen muss, wenn ich mangels internetfähigem Handy weder mobil surfen noch telefonieren kann, überzeugte ihn letztlich doch.
Mit dem Ersatzsmartphone ist es wie mit Ersatzspielern. Sie haben manchmal zwar spielerische und technische Mängel, aber wenn sie mal zum Einsatz kommen, weil die Stammspieler verletzt oder außer Form sind, hängen sich so ins Zeug, dass man die Stammspieler nicht wirklich vermisst. Mich haben vor allem die Kondition und die Einsatzbereitschaft meines Ersatzsmartphones überzeugt: Statt schlappe 36 bis 48 Stunden hielt es mehr als acht Tage, ohne dass der Akku aufgeladen werden musste.
Darüber, dass bei meinem Smartphone aus drei Wochen Verletzungspause sprich Reparaturzeit mehr als sechs wurden, war ich deshalb nicht wirklich traurig. Die „Verletzung“ war schwerer als erwartet. „Die Platine musste ausgetauscht werden“, sagte der junge Mann mit ernster Miene, als ich mein Smartphone Mitte Januar bei ihm abholte. Die Platine ist das „Herz“ des Handys, mein Handy musste also quasi eine Herztransplantation über sich ergehen lassen. Darunter hat auch sein Gehirn gelitten, denn an die gespeicherten Nummern und Daten konnte es sich nicht mehr erinnern. Doch das war nicht zu ändern. Der Akku wurde auch noch mal überprüft“, sagt der junge Mann. „Er ist in Ordnung.“
Vielleicht, dachte ich optimistisch, war der Platinenfehler angeboren und ein Grund für die schwachen Leistungen meines Handys. Vielleicht wird jetzt nach der langen Erholungspause alles besser. Doch meine Hoffnungen haben sich nicht erfüllt. Im Gegenteil: Mein Smartphone ist nach wie vor außer Form. Der Akku hält gerade mal 24 Stunden – und ich denke ernsthaft über eine dauerhafte Auswechslung nach.